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Full text of "Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen"

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Das 





bürgerliche 
Recht und die 
besitzlosen 
Volksklassen 




t 



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Das bürgerliche Recht 
und die besitzlosen Volksklassen 



Das 



Bürgerliche Recht 

» ♦ 

. ' , • 

und die 

* 

besitzlosen Volksklassen. 

Vmi 

Anton Menger^ u 4 i ^ 

Vierte Auflage, 

mit der dritteni Terbefserten und ▼ennelirten Anfluge gleichlevteiid. 

(Fünftes Tausend.) 



Tübingen 

Verlag der H. Laupp'schen Buchhandlung 

X908. 



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■I 



Anton Menger starb am 6. Februar 1906. 



Alle Rechte vorbehalten. 



Druck von H. Laupp jr in Tübingen. 



• 




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V 



VORREDE ZUR ERSTEN AUFLAGE. 

Die Wissenschaft des bürgerlichen Rechts hat wäh- 
rend des 19. Jahrhunderts im Rahmen der überlieferten 
Methoden grosse Fortschritte gemacht. Unsere Juristen 
haben nicht nur das i'rivatrechtssystem bis in seine 
geringfügigsten Einzelheiten ausgebildet, sondern sie 
haben auch seine geschichtlichen Grundlagen in un- 
übersehbarer Fülle gesammelt und ' bearbeitet Aber 
wie befinden sich die Völker bei diesem so hoch ent- 
wickelten Privatrecht? Wie befinden sich namentlich 
die besitzlosen. Volksklassen, welche überall die unge- 
heure Mehrheit bilden? Diese entscheidende Frage ist 
bisher noch von keinem Juristen gestellt worden. Die 
vorliegende Schrift hat die Aufgabe, jene Frage zwar 
nicht zu beantworten, wohl aber ihre Beantwortung 
anzuregen und vorzubereiten. 

Mein Buch erscheint in der Form einer Streit- 
schrift gegen den Entwurf eines bürgerlichen Gesetz- 
buchs für das Deutsche Reich. Schwerlich hätte ich 
in alter und neuer Zeit ein Gesetzeswerk finden können, 
welches die besitzenden Klassen so einseitig begünstigt 
und diese Begünstigung so unumwunden zu erkennen 
gibt, wie der deutsche Entwurf. Aber ich hoffe, dass 
die hier ausgesprochenen Gedanken sich auch über 



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VI 



diese unmittelbare Veranlassung hinaus als fruchtbar 
erweisen werden. 

Die vorliegende Schrift ist zuerst in dem von Dr. 
Heinrich Braun heraus[(ec^ebencn * Archiv für so- 
ziale Gesetzgebung und Statistik« erschienen. Die erste 
bis vierte Abteilung (Nr. I — LIII) wurde im i. und 3. 
Heft des Jahrgangs 1889, der Kest (Nr. UV— UX) in 
dem I. Heft des Jahrgangs 1890 veröffentlicht 

Wien, am 12. Januar 1890. 

Anton Menger. 



VORREDE ZUR DRITTEN AUFLAGE. 

Seit der Veröffentlichung der zweiten Auflage die- 
ser Schrift (1890) sind drei grosse Gesetzeswerke er- 
schienen, die mit ihr in engem Zusanmienhang stehen. 
Vor allem wurde im Jahre 1896 das deutsche büi^er- 
Hche Gesetzbuch kundgemacht, gec^en dessen ersten 
Entwurf die vorliegende Kritik gerichtet war. Als die 
Schöpfung eines aristokratischen Milittärstaates, dessen 
Heere in dem letzten Menschenalter überall siegreich 
geblieben sind, trägt es einen ausgesprochen konserva- 
tiven Charakter ; kaum in irgend einem anderen Gesetz- 
buch der neuesten Zeit haben die herrschenden und be- 
sitzenden Klassen ihre privatrechtliche Machtstellung so 
vollständig wie in diesem behauptet. Den gerade ent- 
gegengesetzten Standpunkt uiiunit der für eine rein de- 
mokratische Repubhk bestimmte Vorentwurf eines 
schweizerischen Zivilgesetzbuchs (1900— 1901) ein; wäh- 
rend noch das Schweizer Obligationenrecht vom Jahre 



vn 



1881 überwiegend an den römisch - germanischen 
Ueberlieferungen festhält, hat der Vorentwurf die in 
diesem Buch vertretenen Ideen eines demokratischen 
Privatrechts schon zam grossen Teile durchgeführt. End- 
lich sind auch noch die österreichischen Prozessgesetze 
von 1895 ^^9^ 2" erwähnen, welche die in diesen 
Blättern aufgestellten Grundsätze einer volkstümlichen 
Zivilrcchtspflcgc in vielen Punkten verwirklicht haben, 
während die im Jahre 1898 durchgreifend umgearbeitete 
deutsche Zivilprozessordnung auch auf dem Gebiete 
des Verfahrens die alten, den höheren Volksklassen so 
günstigen Vorurteile festgehalten hat. Die Verweisui^en 
auf diese Gesetzeswerke sind dort, wo es nötig erschien, 
in der Form eines Anhanges zu den einzelnen Kapi- 
teln beigefügt worden. 

Die vorliegende Schrift hat auch in den romanischen 
Ländern, namentlich in Italien, erhebliche Wirkungen 
ausgeübt. Sobald diese Bestrebungen wenigstens zu 
einem vorläufigen Abschluss gelangen werden, soll dar- 
über in diesem Buche oder anderwärts berichtet werden. 

Die beiden ersten Auflagen dieses Buchs mussten 
sich nach der Zeit ihres Erscheinens auf den Entwurf 
eines bürgerlichen Gesetzbuchs in erster Lesung vom Jahre 
1888, auf eUc Zivilprozessordnun^^ von 18// und auf die 
Gewcrbeordnuni,^ von 1883 beziehen. Zur Erleichterung 
der BenützunL,»- wurden in der neuen Autlage die ent- 
sprechenden Paragraphen des geltenden bürgerlichen 
Gesetzbuchs, der Zivilprozessordnung von 1898 und der 
Gewerbeordnung von 1900 in der Form von Fussnoten 
beigefügt. Dort, wo die Bestimmungen der älteren Ge- 
setzeswerke durch die neueren Gesetzbücher wesentlich 
abgeändert oder gar vollständig beseitigt worden sind, 



vm 



wurde dies in den Fussnoten durch besondere Bezeich- 
nungen (Vergl., Gestrichen) angedeutet 

Die vorliegende Schrift wurde nach der zweiten 
Auflage von Oberosler in die italienische Sprache (1894), 
von Tosada in die spanische (1897) übersetzt. 

Wien, im Oktober 1903. 

Anton Menger. 



IX 



INHALT. 

Seite 



Vorrede zur ersten Auflage V 

Vorrede zvir dritten Auflage VI 

Erste Abteilang: 

Der allgemeine Teil. 

I. Standpunkt der in dieser Schrift gegebenen Kritik des deut- 
schen Entwurfs. Ablehnung des sozialistischen Standpunkts i 

n. Privatrechüiche Grundlagen (Eigentum» Vertragsfreiheit, Erb* 

recht) 3 

III — rV. Entstehung des R -chts, Ahlclmung der Theorien der 

historischen und ui iui i echtlichen Schule 5 

V. Unfähigkeit der historischen Schule zur Geseiügebuag . . 10 

VI. Allgemeiner Charakter des deutschen Entwurfs .... 14 

VII. Zurücksetzung der besitzlosen VolksJdassen in der Rechts- 
Verfolgung 17 

VIII. Die Nachteile der Rechtsonkenntnis 20 

IX. Die Gesetzes- und die Rechtsanalogie 22 

X. Bearteitang der inneren Znstinde im Zivil- und Strafprozess 26 

XI. Passivität des Richters im Zivilprozess 99 

XII. Vorschläge zur Umbildung der Zivilrechtspflege ... 33 

XIII. System des Privatrechts 37 

Zweite Abteilung: 

Das Familienrecht. 

XIV. Einseitiger Charakter des geltenden Famillenrechts im all- 
gemeinen 40 



X 



Seite 



XV. Die Bhe. Die Scbeidungsgrände 4^ 

XVI. Einseitigkeit des Ehegttteneclits 46 

XVII— XVni. Unterhaltspflicht der Eltern. AufrechterhaltoDg 

des Ammenwesens 5** 

XIX— XX. Soziale Wichtigkeit des Rechtsverhältnisses der un- 
ehelichen Kinder. Dürftige Normiening desselben 
in dem deutschen Entwurf 5^ 

XXI. Dcnorationsklage 65 

XXII. Behandlung der unehelichen Kinder im französischen 
Recht, im deutschen Gerichtsgebrauch und im preussischen 
Landrecht 71 

XXm. Das prenssische Gesets vom 24. April 1854. Die Ein- 
rede der Bescholtenheit 77 

XXIV. Die Einrede der Untreue (Exceptio plurinm concumbentium) 8 1 

XXV. Mass der Ansprüche ans dem unehelichen Beischlaf 90 

XXVI. Prozessnale Geltendmachung dieser Ansprüche ... 95 

XXVII. Zusammenfassung der legislativen Vorschllge über das 
Rechtsverhältnis der unehelichen Kinder lOI 

XXVIII. Zurücksetsung der Annen auf dem Gebiet des Vor- 
mundschaftswesens . 107 



Dritte Abteilung: 
Das Sachenrecht. 



XXIX. Allgemeiner Charakicr den Sachenrechts II4 

XXX. Losrc issung »1er Eigcntumsordnung von dem wirtschaft- 
lichen Leben 117 

XXXI. Beeintrftchügung der UnTerletzlichkeit des Eigentums 124 

XXXII. Innere Abschwttchnng des Eigentums durch die Ver- 
waltung und durch die Besteuerung isS 

XXXm. Schutz der blossen Inhabung 133 

XXXIV. IMe herrenlosen Sachen 137 

XXXV. Zusammenstoss der bttttsenden und besitslosen Volks- 
klassen auf dem Gebiet des Obligationenrechts .... 141 



XI 



Vierte Abteilung: 

Das Obligationenrecht. 

S«ue 

XXXVI. AUgemeiuer Charakter des Obligationenrechis. Aus- 
scheidung der Obligationen aus unerlaubten Handlungen 145 

XXXVII. EinschiSiikung der Vertragsfreiheit 150 

XXXVIII. Ansdehniuig der Wuchergesetze 154 

XXXIX. Der Dienst- oder Lohn vertrag. DOrftigkett 

der Bestimmungen des deutschen Entwurfs 160 

XL. Stellong des Staats zu dem Lohnvertrag« Die Dienst- 
botenbücher 163 

XLI. Verpflichtnng des ^ens^ebera, für die persdnUchen Gfiter 

des IHenstnehmers zu soi^en 168 

XLII. Detailbestimmungen in Betreff dieser Verpflichtung . . 171 
XLIIL Entschädigungspflicht des Dienstgebers bei Verletzung 

dieser Verpflichtung 174 

XLIV. Regelung dieser Verpflichtung durch die Verwaltungsbe- 
hörden 178 

XLV. EinsclirSnkung der Dienstverpflichtung der Dienstboten 182 

XLVI. Diensiverträge der vcrlieiralcttu Frauen 184 

XL VII. Die Disziplinargewalt des Dienstgebers 188 

XLVIII. Zusammenfassung der legislativen Vorschläge über den 

Dienstvertrag 191 

XLIX. Der Mielvertrag 193 

L. Die unerlaubten Handlungen. Schulz der Vermü- 

gensinteressen und der persünlichen Güter im geltenden Recht 197 

LI. Der ordentliche Hausvater 202 

LH. Der wackere Mensch 205 

Lm. Einwilligung des Verletzten zu imerlaubten Handlungen 309 

Fünfte Abteilung: 

Das Erbrecht« 

LIV. Die drei Grundformen der Erbfolge (die zwangsweise 
Erbvtreinigung, die zwangswei:>e Krbteilung und die Testa- 
mentsfreiheit) 214 



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Seite 

LV. Stellting des dentsdien Entwurfs su diesen Gitmdformen 218 

LVI. Kritik der aristokratischen Sosialpolitik ...... 233 

LVU. EinschritnkiiDg der gesetzlichen Erbfolge. Die erblosen 

Verlassensdiaften 229 

LVIU. Dm Testamentsfonnen. Die Nachlassreguliemng . . 333 
LDC. Schlussbemerknngen. Notwendigkeit der UmUldting des 

Piivatrechts 238 





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I 



Das bürgerliche Recht und die besitzlosen 

Volksklassen. 

Erste Abteilung. 

Der allgemeine Teil des Entwurfs eines bürgerlichen 
Gesetzbuches für das deutsche Reich« 

I. 

Durch die vor kurzem (i888) erfolgte Veröflfent- 

lichung des Entwurfes eines deutschen bürgerlichen 
Gesetzbuches ist der Ausgangspunkt für eine mächtige 
geistige Bewegung innerhalb der deutschen Nation ge- 
geben worden. Alle Lebenskreise, welche in der heu- 
tigen Gesellschaft Geltung besitzen, werden ohne Zweifel 
nicht säumen, ihren Standpunkt gegenüber dem neuen 
Gesetzeswerk festzustellen und zu vertreten. Vor allem 
werden, wie biUig, die Juristen an dem Entwurf Kritik 
üben, wobei der überlieferte Gegensatz zwischen Ro- 
manisten und Germanisten die Hauptrolle spielen wird. 
Dann werden auch alle Stände und Berufe: der höhere 
und dcv ni<^derc Adel, die Landwirtschaft, das Ge\ver])c 
und der Handel ihre Interessen durch Kundgebungen 
ihrer Organe und durch wissenschaftliche Arbeiten 
geltend machen. Endlich kommen auch noch die In- 

Menger, Dos bOrgerl. Recht 4. Aufl. I 



2 



teressen der Religionsgenossenschaften in Betracht, die 
durch einzelne Teile des Entwurfs in erheblichem Masse 
berührt werden. 

Nur ein Standpunkt wird in der «grossen Diskussion 

wahrschcinlicli unvertretcn bleiben, obgleich die be- 
trcftVnde V'olksgiup])e mindestens vier Fünfteile der 
gesamten Nation umfasst, und dieser Standpunkt ist 
jener der besitzlosen Volksklassen. Zwar verfügt der 
Sozialismus in Deutschland über zahlreiche ausgezeich- 
nete Schriftsteller; aber diesen mangelt das juristische 
Fachwissen, das zur erfolgreichen Kritik eines so um- 
fassenden Gesetzeswerks unentbehrlich ist. Auch ist 
die Kritik des deutschen Sozialismus infolge des Ein- 
flu.sses von Lassalle, Marx und Engeis fast ausschliess- 
lich auf die wirtschaftliche Seite unserer Zustände ge- 
richtet« obgleich die soziale Frage in Wirklichkeit vor- 
herrschend ein Problem der Staatslehre und der Rechts- 
wissenschaft ist. Da ich nun zu den wenic^en deutschen 
Juristen ^^ehche, welche auf dem (jci)iete des Rechts 
das Interesse der besitzlosen Volksklassen vertreten, 
so habe ich es für meine Pflicht gehalten, in dieser 
wichtigen Nationalangelegenheit die Stimme der Ent- 
erbten zu führen. 

Freilich wird sich eine solche Kritik des Entwurfs, 
wenn sie anders nicht jeder Aussicht auf praktischen 
Kriolg zum voraus entbehren soll, gewi.sse Sclbstbe- 
schränkungen auferlegen müssen. Ich habe in meiner 
Schrift »Das Recht auf den vollen Arbeits- 
ertrag« das sozialistische Rechtssystem in seinen 
Grundzügen dargestellt^, und es wäre nicht schwer, 

^ Vgl. jetzt meiite Neue Staatslehre, 1903. 



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3 



den Entwurf vom Standpunkt der sozialistischen Rechts- 
ideen einer Beurteilung zu unterziehen. Dennoch würde 
ich aber ein solches Vorgehen als verfehlt und als un- 
zweckmässig erachten. Die Verfasser des Entwurtes 
hatten die Absicht und die Aufgrabe , ein Gesetzbuch 
auf rein privatreclitlichen Grundlagen zu liefern, und 
jede fruchtbare Kritik ihrer Arbeit wird deshalb auch 
diese Grundlagen als gegebene Tatsachen auffassen 
müssen. Meine Aufgabe kann also nur dahin gehen, 
zu zeigen, wiefern die Interessen der besitzlosen Volks- 
klassen, auch wenn man die grundlegenden Prinzipien 
unseres heutigen Privatrechts als Ausgangspunkt aner- 
kennt, durch den neuen Entwurf verletzt oder nicht 
genügend gefördert werden. 

II. 

Die wichtigsten Grundsätze, durch welche sich 
unser heutiges Vermögensrecht von dem sozialistischen 

Rechtssystem unterscheidet und die deshalb aucli in 
dem Entwurf eines deutschen bürc;erlichen (jesetzbuchs 
Anerkennung gefunden haben, sind die nachfolgenden: 

1. Alle Sachen können sich, sofern nicht eine ge- 
setzliche Ausnahme gegeben ist, im Eigentum einzelner 
Personen befinden (Prinzip des Privateigentums); 

2. Jedem Staatsbürger steht regelmässit^ frei, sich 
einem anderen zur Leistung von Sachen und Hand- 
lungen mit der Wirkung zu verpflichten, dass er zur 
Erfüllung seines V ersprechens gezwungen werden kann 
(Prinzip der Vertragsfreiheit); 

3. Die Vermögensrechte des Einzelnen gehen, 
wenn das Gesetz keine Ausnahme vorschreibt, nach 
seinem Tode auf diejenigen Personen über, welche er 

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4 



selbst oder das Gesetz als Erben bezeichnet (Phnzip 
des Erbrechts). 

Das Vermögensrecht, wie es der deutsche Ent- 
wurf gleich den übrigen Zivilgesetzbüchern auf Grund 

dieser Prinzipien ausgebildet hat, ist jedoch nur als 
eine der denkbaren Lösun-« n /u betrachten. In dem 
sozialistischen Rechtssystem <^ilt von jenen drei Grund- 
sätzen das gerade Gegenteil. Die Sachen befinden 
sich mit gewissen Ausnahmen im Eigentum des Staates 
oder der staatlichen Verbände, der einzelne ist regel- 
mässig nur dem Staat zu Leistungen verpflichtet, und 
ein Uebergang der Vermögensrechte, soweit diese im 
sozial istisch(Mi Staate überhaupt anerkannt sind, kann 
bei dem Tode des Berechtigten nur in beschränktem 
Mässe stattfinden K 

Von den beiden Triebfedern, welche das mensch- 
liche Handeln beherrschen, nämlich der Selbstsucht 
und dem Gemeinsinn, Hegt also die erstere fast aus- 
schliesslich dem privatrechtlichen, die letztere dem 
sozialistischen Rechtssystem zu (irund. Dies Verhält- 
nis ist in Ansehung des Privatrechts auch seit langer 
Zeit erkannt worden, indem schon die römischen Ju- 
risten dieses als jenen Teil des Rechtes betrachten, 
welcher zur Förderung der individuellen Lebenszwecke 
des Einzelnen bestimmt ist. Auch kann es niemand 
befremden, dass unser bürgerliches Recht bei allen 
Grundfragen jene Lösung gewählt hat, welche von dem 
individuellen Egoismus verlangt wird, wenn man in 
Erwägung zieht, wie unser Privatrechtssystem ent- 
standen ist. 



' Vgl. Menger, Neue Staatslehre (1903), II, 3. 9. 11. 



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5 



III. 

Die Grundzüge unseres Rechtssystems, namentlich 
auch des Privatrechts, sind lange Zeit vor dem Beginne 
unserer historischen Kenntnis durch Gewohnheit 
festgestellt worden. Als dann im Laufe der Entwick> 
lung der Staat und die Gesetzgebung auf die Bühne 
der Geschichte trat, hatten beide nur die Aufgabe, die 
im wesentlichen bereits feststehenden Umrisse des 
Rechtssystems auszufüllen und näher zu bestimmen. 
Die Entstehung der Grundlagen unserer heutigen Rechts- 
ordnung aus der Gewohnheit musstc aber notwendig 
bewirken, dass die Ausbildung des Rechtssystems überall 
nicht im Interesse der grossen Massen, sondern zum 
Vorteile einzelner bevorzugter Volkskreise erfolgte. 

In den ursprünglichen Zuständen des Menschen- 
geschlechts waren, wie man noch jetzt bei jeder un- 
geregelten Vereinigung mehrerer Personen wahrnehmen 
kann, weder eine Kechtsordnuni.^, noch auch rechtliche 
Befugnisse des Einzelnen anerkannt, sondern es standen 
sich überall bloss Interessen gegenüber, welche mit 
grösserem oder geringerem Erfolge geltend gemacht 
und behauptet wurden. In diesem Kampf der Interes- 
sen mussten nun die Starken und Mächtigen notwendig 
über die grosse Masse der Schwachen und Machtlosen 
den Sieg davontragen, Anfänglicli war jene Macht 
lediglich durch hcrvorrai^ende persönliche lügenschaften, 
durch Mut und körperliche oder geistige Tüchtigkeit 
bedingt; später nach Ausbildung der Rechtsordnung 
wurden jene persönlichen Eigenschaften durch die be- 
reits erworbenen Rechte gestützt und wohl auch völlig 
ersetzt. Je öfter nun die Starken bei den einzelnen 
Interessenkonflikten ihren Vorteil auf Kosten derSchwa- 



6 



chen durchzusetzen wussten, desto mehr musste sich 
bei den Mächtigen die Ueberzeugung bestärken, dass 
sie auch in Zukunft ihr Interesse behaupten werden, 
während die Machtlosen in dem gleichen Masse die 
Hoffnung verloren, dieselben später aus der von ihnen 
errungenen Stellung zu verdrän<^en, l>i.^ zuletzt sowohl 
bei den ßegunstigten als auch bei den AusL^eschlos- 
senen das Bewusstsein von der Notwendigkeit dieses 
Zustandes und damit auch von dem Dasein eines 
Rechtes entstand. Noch heute kann man in allen 
Staaten die Erfahrung machen, dass die Interessen der 
Mächtigen bei Konflikten — gegenwärtig allerdings 
meistens auf dem \\ ege der (jesetzgebung — sich in 
Rechte verwandeln. 

Da die Grundlagen unseres Kechtssystems auf Ge- 
wohnheitsrecht beruhen und dieses sich im wesentlichen 
als das Resultat eines erfolgreichen Interessenkampfes 
der Mächtigen gegen die Schwachen darstellt, so ist 
von vornherein nicht anders zu erwarten, als dass die 
so entstandene Rechtsordnung; den unteren Volksklas- 
sen sehr nachteilig sein musste. Als dann die staat- 
liche Gesetzgebung ihre Tätigkeit in immer steigendem 
Umfang zu entwickeln begann, begnügte sie sich damit, 
den überlieferten Rechtszustand mit vergleichsweise 
geringen Abweichungen zu sanktionieren. Und so kann 
man denn mit gutem Grunde behaupten, dass unser 
heutiges Rechtssystem ein erster Versuch zur Ordnung 
der menschlichen Lebensverhältnisse ist, ein Versuch, 
dessen leitende Gedanken ihr Dasein einem gewaltigen 
Intercssenkampfe verdanken, und der deshalb von einer 
gerechten Ausgleichung aller Bedürfnisse und Ansprüche 
in der bürgerlichen Gesellschaft sehr weit entfernt ist. 



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Dieses Rechtssystem wird nun seit der Mitte des 
l8. Jahrhunderts von einer welt<^eschichtlichen Be- 
wegung bekämpft. UrsprüngUch war diese Bewegung 
gegen die bestehenden poHtischen Zustände, \for allem 
gegen die absolute Macht der Fürsten gerichtet, weil 
hier die Ausnützung der Regierungsgewalt zu Gunsten 
enger Kreise besonders in die Augen fiel, vor allem 
aber auch deshalb, weil die besitzenden Klassen nach 
einem Anteil an der Gesetzgebung^ und Verwahun^r des 
Staates strebten. In der Tat haben diese Ik^strebungen 
auch <lcn Erfolg gehabt, dass fast überall die wei- 
testen Volkskreise einen Anteil an der Leitung des 
Staates in immer steigendem Masse erhielten. Von 
dieser volkstümlichen Umgestaltung der öffentlichen 
Zustände blieb dagegen das Privatrecht last vollständig 
unberührt, wie denn überhaupt die Gesetzgebung und 
die Wissenschaft des bürgerlichen Rechts zu den am 
meisten zurückgebliebenen Gebieten unseres geistigen 
Lebens gehört. Zwar drang die sozialistische Bewe- 
gung, die ja im wesentlichen auf eine Abänderung un- 
serer privatrechtlichen Zustände gerichtet ist, seit der 
Julirevolution (1830) in die Volksmassen ein und hat 
bei diesen allmählich die früheren radikal-jx^litischen 
Bestrebungen fast vollständig verdrängt; aber die Schaf- 
fung eines Privatrechts, welches die Genüsse unter den 
Mi^iiedem der bürgerlichen Gesellschaft gerechter ver- 
teilt oder das auch nur so viel volkstümliche Elemente 
in sich schliesst, wie unser heutiges Staatsrecht, ist 
eine Aufgabe, deren Lösung der Zukunft gehört ^ 



> Menger, Neue Staatslehre (1903J 1, 3. 7. 



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8 



IV. 

Die Theorien über die Entstehung von Kecht und 
Staat sind bisher vorherrschend zur Rechtfertigung be- 
stimmtd- Staatsformen, vor allem der erblichen Mon- 
archie , aufp^cstcllt worden , während das Privatrecht, 
welches selbst noch in der grossen französischen Re- 
volution nur wenig angefochten wurde, einer solchen 
Unterstützung weniger bedürftig erschien. Die Staats- 
gewalt kann aber in jedem Zustand der büi^erlichen 
Gesellschaft nur von einem verhältnismässig engen Kreise 
von Personen ausgeübt werden, und deren Einrichtung 
ist, sofern nur den Volksinteressen gemäss regiert wird, 
für die grossen Volksmassen von '^crinqerer Bedeutimcj. 
Deshalb konnten über die letzten Gründe von Ötaat 
und Recht Ansichten ausgesprochen werden, die auf 
das Privatrecht, durch welches die wichtigsten Lebens- 
interessen selbst der untersten Volksklassen geordnet 
werden, schlechterdings keine Anwendung gestatten, 
obgleich eine solche Uebertragung häufig genug ver- 
sucht worden ist. 

So behauptet die historische Schule, dass Staat 
und Recht gleich andern Naturorganismen entstehen, 
wachsen und untergehen und dass sie deshalb kein 
Produkt menschlicher Willkür sind, sondern Dasein und 
Beschaffenheit dem Wirken des unsichtbaren Volks- 
geistes verdanken. Dagegen erblickt die naturrecht- 
liche Schule in Staat und Recht das Krt^ebnis mensch- 
licher Reflexion, indem beide chirch ausdrücklichen 
oder stillschweigenden Vertrag der Staatsgenossen be- 
gründet werden. Da die Staatsformen für die Interes^ 
sen der grossen Massen ohne unmittelbare Bedeutung 
sind, konnte man immerhin annehmen, dass der Staat 



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9 



oder eine bestimmte Staatsform sich aus dem Geiste 
des gesamten Volkes organisch entwickelt hat, ja man 
konnte sogar ohne übermässige Absurdität die Be- 
hauptung wagen , dass das gesamte Volk sich durch 
den Staatsvertrag der unumschränkten Gewalt eines 
absoluten Herrschers für alle Zeit unterworfen hat. 

Der Irrtum, welcher diesen Theorien zu Grunde 
liegt, wird aber sofort offenbar und unerträglich, wenn 
man dieselben auf das Privatrecht anwenden will. Denn 
wer wird mit einigem Scheine beliaupteii können, dass 
eine bestimmte Privatrcchtsordnuni^^ aus dem Geiste 
der gesamten Nation entsprungen ist, wenn durcli die- 
selbe vier Fünfteile oder neun Zehnteile aller Staats- 
genossen von den meisten Genössen und Vorteilen für 
ihr ganzes Leben ausgeschlossen werden ^ Und ebenso 
widersinnig ist die Annahme, dass die ungeheure Mehr- 
heit eines Volkes zu jener Zurücksetzung durch aus- 
drücklichen oder stillschweigenden Vertrag ihre Zu- 
stimmung gegeben hat. 

Was ich also hier im Gegensätze zu den bisheri- 
gen Anschauungen vertrete, ist im wesentlichen dieses : 
dass die modernen Privatrechtssysteme sich überall nicht 
als geistiges Produkt des ganzen Volkes, sondern nur der 
begünstigten Volkskreise darstellen und von diesen den 
besitzlosen Volksklassen durch einen Jahrtausende alten 
Kampf auferlegt worden sind. Dieser Kampf hat des- 
halb nicht \veniL,^er Dasein und Bedeutung, weil er sich 
zum Teil in unzählige Einzelkämpfc auflöst, die sich 
der Beobachtung- des Forschers entziehen. 

Indem ich auf diese Weise die Anwendung jener 
Theorien über den letzten Gnmd von Recht und Staat 
auf das Privatrecht ablehne, soll die Bedeutung dieser 



lO 



Versuche nicht vülhg t^clcuLnict werden. Vielmehr hat 
die historische und naturrechtliche Schule nur darin 
gefehlt, dass sie das, was ein fernes Ideal ist und ein 
beständiges Ziel unseres Strebens bleiben muss, schon 
als lebende Wirklichkeit aufgefasst hat. Denn wenn 
auch heute noch die Annahme unmöglich ist, dass un- 
sere Privatrechtssysteme sich organisch aus dem Geiste 
der ,^^esamtcn Nation entwickelt, uder dass diese zu 
dem bestehenden Rechtszustand ausdrücklich oder still- 
schweigend ihre Zustimmung gegeben hat» so müssen 
wir doch allerdings nach einer Rechtsordnui^ streben, 
die alle Volkskiassen als ihr geistiges Produkt aner- 
kennen und der sie bei vernünftiger Ueberlegung ihre 
freudige Zustimmung erteilen würden*. 

V. 

Als Thibaut nach der Besiegung Napoleons I. die 
Abfassung eines bürgerlichen Gesetzbuches für ganz 
Deutschland verlangte, vertrat Savigny in seiner be- 
kannten Schrift die Ansicht, dass unsere Zeit zur Her- 
vorbringung umfassender Zivilgesetzbücher völlig un- 
geeignet sei. Später, mit der Entwickelung der histo- 
rischen Rechtsschule, änderte sich diese Auffassung, 
und heute ist die Meinung weit verbreitet, dass die 
Gegenwart eben infolge des Wirkens jener Schule zur 
Gesetzgebungsarbeit im grossen Stile besonders be- 
fähigt sei. Ich habe diese Ansicht immer für einen 
Irrtum gehalten. Gerade deshalb, weil die historische 
Rechtsschule in Deutschland so lange Zeit geherrscht 
hat und fast alle deutschen Juristen unter ihrem Ein- 



' M enger, Neae Staatslehre (1903), I, 5. 



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11 



fliiss ausgebildet worden sind, ist wohl keine Epoche 
zur Verfassung eines bürgerlichen Gesetzbuchs weniger 
berufen gewesen als unsere Zeit. 

Die drei grossen Gesetzeswerke der Neuzeit: das 
preussische Landrecht, das französische und österreichi- 
sche Gesetzbuch erschienen am Ende einer Epoche, 
welche man mit Recht als die Aufklärungszeit be- 
zeichnet. Denn niemals fühlte sich die Menschheit 
durch den Schutt der Ueberlieierung so wenig gehemmt, 
niemals auch waren die höheren Stände und ihre i^ei- 
stigen Führer den unteren Volksklassen so günstig ge- 
stimmt, als in dem Jahrhundert der Aufklänmj^. Von 
diesem Geist einer hochherzigen, den Wahn des Au- 
genblicks verachtenden Humanität liessen sich nun die 
Verfasser jener Gesetzbücher durchdringen und brachten 
auf diese Weise Gesetzeswerke zustande, welche (was 
namentlich von dem preussischen und dem österreichi- 
sclien Gesetzbuch i^nlt) der sozialen Entwicklunii ihres 
Volkes beträchtlich vorauseilten. Dies ist auch der 
Aufgabe des Gesetzgebers vollkommen entsprechend 
und nur durch eine solche Vorwegnahme künftiger Ent- 
wicklungen vermag er seinem Werke für lange Zeit Leben 
und Bedeutung zu bewahren. Denn nirgends mehr als auf 
dem Gebiete der Gesetzgebung gilt der Satz, dass das- 
jenige, was heute als ein utopisches Bestreben betrachtet 
wird, nach einem Menschenalter als Gemeinplatz, nacii 
einem Jahrhundert als veraltetes Vorurteil erscheint. 
Und weil jene Männer die Entwickluni^ ihres Volkes 
zu einem höheren Dasein so weit gefördert haben, als 
ihnen in ihrem beengten Wirkungskreise mögUch war, 
so können sie mit gutem Grunde den Anspruch er- 
heben, zu den Erziehern ihrer Nation, ja in gewissem 



12 



Sinne der Menschheit gezählt zu werden. 

K'm solcher Erfolge wird Juristen, welche unter dem 
Banne der geschichtlichen Autlassung stehen, schwer- 
lich jemals zu Teil werden. Das Hauptverdienst der 
historischen Schule besteht in der Erforschimg der 
Vergangenheit, indem sie zuerst die geschichtlichen 
Tatbestände genau festzustellen und im Lichte des be- 
treffenden Zeitalters darzulegen versucht hat, während 
die Literatur der Aufklärungszeit von dem Fehler nicht 
freigresprochen werden kann, dass sie die vergangenen 
Zeiten und Zustände lediglich \ om Standpunkte der 
Anschauungen und Interessen der Gegenwart zu beur* 
teilen verstand. Zwar hat diese letztere AufTassungs- 
weise neben der eigentlich geschichtlichen Betrachtung 
gleichfalls ihre volle Berechtigung ; auch will ich hier 
nicht unteisuchim, ob die Durchforschung von Urkun- 
den, Akten und anderem Trümmerwerk, welches der 
Strom der Geschichte auf seiner Bahn zurückgelassen 
hat, für die Feststellung der geschichtlichen Wahrheit 
wirklich jene Bedeutung hat, die ihr von den histori- 
schen Schulen der verschiedenen Wissensgebiete zuge- 
schrieben wird. Denn die unsterblichen Verdienste 
der historischen Schule um die Erforschung der Ver- 
gangenheit k()nnen dessenungeachtet gerechterweisc 
nicht bestritten werden. 

Dagegen hat die historische Rechtsschule auf die 
Fortentwickelung von Staat und Recht den verderb- 
lichsten Einfluss ausgeübt. Der Gedankenschatz dieser 
Schule stammt vorzüglich von Blackstone und Burke, 
deren Ideen Sa\'igny, l'uclita, Stahl und andere Ver- 
treter der geschichtlichen Richtung in Deutschland mehr 
in die Breite als in die Tiefe ausgearbeitet iiaben. 



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13 



Schon bei Burke ist aber mit der geschichtlichen Auf- 
fassui^ von Recht und Staat die Tendenz verbunden, 
jede tiefer gehende Abänderung des geltenden Rechts- 
zustandes, auch wenn sie durch die Veränderung der 
Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaft unbedingt 
geboten ist, als eine Torheit oder gar als ein Verbre- 
chen hinzustellen, und die Nachfolger Burke 's in Deutsch- 
land haben diese Richtung nur allzu eifrig festgehalten. 
Wer eben von der organischen Auffassung von Recht 
und Staat durchdrungen ist, wird nur allzu leicht und 
allzu gerne vergessen, dass Orkane und Erdbeben 
ebenso zum regelmässigen Naturlauf gehören wie das 
stille Wachstum des Tiers oder der Pflanze. 

Dieser Vorwurf eines un^cschichtlichen Konser- 
vatismus, welcher überlebte Kcchtszustände auch dann 
noch festzuhalten sucht, wenn ihre Grundlagen in den 
gesellschaftlichen Machtverhältnissen bereits verschwun- 
den sind, trifft namentlich auch die Vertreter der Wis- 
senschaft des Zivilrechts, auf welches die geschicht- 
lichen Methoden in Deutschland zuerst angewendet 
wurden, und das auch später ihr wichtigstes Anwen- 
dungsgebiet geblieben ist. In das Studium entfernter 
Zeiten und Zustände versenkt, an den überlieferten 
Rechtsideen mit einer Starrheit festhaltend, die an die 
borniertesten Orthodoxien erinnert, bemerkten sie nicht 
die Welt von Veränderungen, welche seit dem Anfang 
des 19. Jahrhunderts in Deutschland wie in anderen 
Ländern eingetreten sind : die fortwährende Schärtung 
des Gegensatzes zwischen Reich und Arm, das Zu- 
sammenschliessen der besitzlosen Volksklassen in den 
einzelnen Ländern und Weltteilen und ihr Anwachsen 
zu einer weltgeschichtlichen Macht. Nur so ist es zu 



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1 



erklären, dass die ausgezeichneten Männer, welche mit 
der Verfassung des deutschen bürgerlichen Gesetzbuches 
betraut waren, einen Entwurf zustande brachten, der 
gegen das preussische und österreichische Gesetzbuch 
einen entschiedenen Rückschritt bedeutet, obgleich 
diese letzteren Gesetzeswerke tür eine Bevölkerung be- 
stimmt waren, deren Väter und GiDs^väter noch zum 
grossen Teile Leibeigene gewesen waren. 

VI. 

Versifizierte Prosa ist keine Poesie, und ein in 
Paragraphen gebrachtes Lehrbuch des Zivilrechts ist 

noch kein bürgerliches Gesetzbuch. Die Aufgabe des 
Lchrbuchverfassers und des Gesetzgebers ist eben we- 
sentlich verschieden. Von dem ersteren erwartet man, 
dass er den überlieferten Rechtsstoff und dessen ge- 
schichtliche Grundlagen mit möglichster Treue und 
Vollständigkeit wiedergibt, ohne an demselben eine 
umfassende Kritik zu üben. Auch die in jeder ent- 
wickelten Rechtswissenschaft bestehenden Streitfragen 
über den Sinn der einzelnen Rechtsregeln, wie wertlos 
und lächerlich dieselben auch zum grössten Teil sein 
mögen, müssen in einem Lehrbuch beachtet werden. 
Der Lehrbuchverfasser hat eben nicht einen neuen 
Rechtszustand frei zu schaffen, sondern nur den be- 
stehenden mit vollständiger Treue wiederzugeben. 

Ganz verschieden ist die Aufgabe, welche sich 
der Gesetzgeber zu stellen hat. Er muss sich, wenn 
er anders diesen Namen verdienen will, als Erzieher 
seiner Nation fühlen und sich über den Wust des seit 
Jahrtausenden ai^esammelten Rechtsstoifes zu erheben 
wissen. Zwar geht er, seiner konservativen Aufgabe 



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entsprechend, von dem bestellenden Rechtszustand aus, 
aber er prüft bei jedem wichtigeren Rechtssatz oder 
Rechtsinstitut, ob dieselben noch den vorhandenen 
Machtverhältnissen innerhalb der Gesellschaft entspre- 
chen. Ergibt die Prüfung, dass dies nicht mehr der 
Fall ist, so nimmt er die erforderlichen Abänderungen 
vor, ohne zu fragen, ob er damit nach oben oder nach 
unten Anstoss erregt. Ja, er kann bei einer im Wer- 
den begriffenen Aenderung der sozialen Machtverhah- 
nisse soc^^ar die Zukunft vorwei:;nehmen und er wird 
diese vorahnende Tätigkeit, welche das höchste, aber 
auch schwierigste Problem der Gesetzgebung ist, um so 
energischer ausüben, je rascher die gesellschaftliche 
Entwickelung eines Zeitalters fortschreitet Mit einem 
Wort: das Auge des wahren Gesetzgebers ist nicht 
auf die Vergangenheit, sondern unverwandt auf die 
Zukunft gerichtet. 

Niemals hat es einen Zeitpunkt gegeben, der für 
eine solche schöpferische Tätigkeit ^ünstic;er war als 
der gegenwärtige Augenblick. Seit Jahitausenden hat- 
ten ausschliesslich die Herrschenden und Besitzenden 
das Privatrecht in ihrem Interesse ausgebildet und die 
besitzlosen Volksklassen hatten aus Furcht und Un- 
wissenheit niemals ihre Rechte geltend gemacht. Der 
deutsche Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches ist nun 
das erste umfassende Gesetzeswerk, welches zu einer Zeit 
(1874 — 1888) abgefasst wurde, wo die besitzlosen Volks- 
klassen sich in Deutschland wie in andern Ländern zu 
einer gewaltigen Macht emporgeschwungen haben und 
wo diese Veränderung der Machtverhältnisse von der 
deutschen Keichsgeset^ebung selbst durch eine um- 
fassende Sozialreform anerkannt worden ist. Jetzt war 



i6 

daher auch der Zeitpunkt gekommen, die bürgerlichen 
Gesetze — sei es auch unter I-csthaltung aller wesent- 
lichen Konsequenzen des Privateigentums — im In- 
teresse der Armen zu revidieren und dadurch den üb- 
rigen Völkern der Welt ein nachahmungswürdiges Bei- 
spiel zu geben. 

Wie aber haben die Verfasser des Entwurfes ihre 
grosse Aufgabe wirklich gelöst? Vor allem waren die 
Redakteure darauf bedacht — allerdinsfs im Sinne der 
soL^cnannten Vorkomniission — die überaus zahlreichen 
und aus den verschiedensten Zeitaltern stammenden 
Partikulargesetze über das bürgerliche Recht in allen 
deutschen Bundesstaaten zu sammeln und dann dieses 
massenhafte Material — ein wahres onus multorum 
camelorum — »zu sichten, Veraltetes auszuscheiden, 
»das Lebens- und Entwickelungsfähige herauszusuchen 
»und zu neuem Leben und weiterer Entwickehing zu 
^verbinden und zu einem organischen (ianzen zu v^er- 
^ arbeiten«. Dass das Resultat dieser sammelnden und 
sichtenden Tätigkeit nur ein in Paragraphen gebrachtes 
Lehrbuch des geltenden Rechtes mit Ausscheidung des 
offenbar Veralteten ist und dass der Entwurf ebenso- 
wohl im Jahr 1788 als ein Jahrhundert später hätte 
erscheinen können, wird bei der gewählten Arbeits- 
methode niemand befremden. Ja man kann sich ver- 
sichert halten, dass die Redakteure, hätten sie die Skla- 
verei und die Leibeigenschaft in Deutschland als gel- 
tendes Recht anL^^etr( »ffen, diese ehrwürdigen Rechtsin- 
stitute in ihrem Entwurf sorgfältig konserviert haben 
würden. 

Sowie dem Inhalt des Entwurfs jede Originalität 
fehlt, so ist er auch in der Form vollständig vergriffen. 




17 



Kein Teil der Gesetzgebung bedarf so sehr einer volks- 
tümlichen, allgemein verständlichen Aiisdruckswcise als 
das bürgerliche Recht; denn die übrigen Gesetze: die 
Verfassungs-, Verwaltungs-, Zivüprozess- und Strafge- 
setze werden nur von bestinunten Volkskreisen oder 
in besonderen Fällen, dieses wird dagegen täglich und 
von allen Staatsbürgern angewendet. Nun besitzen wir 
aber eine juristische Literatur von ungeheurer Ausdeh- 
nung^ in welcher die Differenzierung der Rechtshegi lile 
und überhaupt die Zerfaserung des Kcchtsstoffes so weit 
getrieben ist, dass man die deut-^che Rechtswissenschaft 
treffend mit einem Messer verglichen hat, welches so 
dünn und scharf geschliffen ist , dass es nicht mehr 
schneidet. Die Verfasser des Entwurfes, welchen ohne- 
dies kein besonderes Formtalent nachzurühmen ist, 
stehen nun ganz unter dem Einfluss dieser juristischen 
Scholastik und haben demgemäss ein Werk geliefert, 
dessen abstrakte und unpopuläre Ausdrucksweise kaum 
überboten werden kann. Rechnet man noch da/u, dass 
fast in jedem Abschnitt zahlreiche Verweisungen auf 
die in andern 1 lauptstücken vorgetragenen Rcchtsre- 
geln vorkommen, so dass man die Normen über ein 
bestimmtes Rechtsinstitut häufig in dem ganzen Gesetz- 
buch zusammensuchen muss^ so kann man mit gutem 
Grunde behaupten, dass die grossen Volksmassen, wenn 
der Entwurf Gesetz wird, in Beziehimg auf die Rechts- 
anwendung ganz der Diskretion der Fachjuristen über- 
liefert sein werden. 

VII. 

Der ungeheure Unterschied, welcher in der Rechts- 
verfolgung zwischen den besitzenden und den be- 
Menge i , Dis büff crL Recht. 4. Aufl. 2 



I8 



sitzlosen Volksklasscn besteht , ist von den Juristen 
bisher nur wenig beachtet woickn. Der Grund dieser 
Erscheinung liegt ohne Zweifel darin, dass die Juristen 
aller Länder infolge ihres Bildungsganges und ihrer 
Interessen geneigt sind, sich ausschliesslich als Diener 
und Vertreter der Besitzenden zu betrachten. Wie 
gross und wie rühmlich ist der Anteil, welchen Aerzte 
und Volkswirtschaftslehrer an der Feststellung und Be~ 
seitigung des menschlichen Elends genommen haben ! 
Unter den theoretischen Juristen wüsste ich nur wenige 
zu nennen, w elche eine ähnliche RichtuuL^ verfolgt haben. 
In ihrer überwiegenden Mehrheit gingen sie im Trosse 
der Reichen und Mächtigen einher und vertraten die 
wirklichen Interessen der Besitzenden und Herrschen- 
den mit demselben Eifer, wie ihre Torheit und ihren 
Uebermut Der soziale Gegensatz, der die Bürger der 
Kulturstaaten immer mehr in zwei Lager scheidet, die 
sich mit steigender Feindseligkeit gegenüberstehen, ist 
zu einem beträchtliclien Teile auf diese Einseitigkeit 
des Juristenstandes zurückzuführen. 

Man hat schon oft darauf hingewiesen, dass das 
Einkommen des Armen nicht nur geringer ist, sondern 
dass es auch in seinen Händen einen relativ gerii^em 
Wert besitzt, da er für seine dürftige Wohnung, Nah- 
rung und Kleidung vergleichsweise viel mehr als der 
Reiche bezahlen muss. Dagegen ist noch niemals be- 
achtet worden, dass der enge Kreis von Rechten, welche 
die Rechtsordnung dem Armen zuweist, eine viel ge- 
ringere Bedeutung hat, als wenn dieselben Befugnisse 
einem Reichen zustellen würden. 

Ebenso haben zahlreiche Aerzte und Sozialschrift- 
steller den Nachweis geführt, dass die geringe Lebens- 



v^oogie 



19 



dauer der besitzlosen Volksklassen zum grössten Teil 
daher rührt, dass sie den Krankheiten nicht rechtzeitig 
durch zweckmässige Vorkehrungen vorbeugen können 

und dcv Staat ihnen nur im Falle einer wirklichen Kv- 
kraiikung Hilfe leistet. Auf dem Gebiete des Rtxhts- 
lebens verhält sich dies nicht anders. Auch die Rechte 
und Rechtsverhältnisse bedürfen , wenn ich mich so 
ausdrücken darf, einer sorgfältigen Pflege, um Dasein 
und Geltung zu behaupten. In der Tat wird jeder ein- 
sichtigfe Richter bestätigen können , dass die Rechts- 
verhältnisse der Ai iiKm sich bei ihrer GeltcnUinacluing 
vor Gericht nur all/uh<äufig in jener vernachlässigten 
und hoffnungslosen Gestalt präsentieren, wie die Körper 
der Proletarier bei der Aufnahme in die öffentlichen 
Heilanstalten. 

Diese Zurücksetzung der ohnedies schon Zurück- 
gesetzten auf dem Gebiete der Rechtsverfolgiin|ar hängt 
zum Teil mit dem Privateigentum und den dadurch 
bedingten Unterschieden des Bildungsgrades von Reich 
und Arm zusammen. Aber es gibt der Rechtsregeln 
und der Rechtsinstitute gt nug, welche das gleiche Ziel 
verfolgen, ohne durch die Konsequenz des Privateigen- 
tums gefordert zu sein. Meistens wird diese Benach- 
teiliguf^ der besitzlosen Volksklassen dadurch bewirkt, 
dass die Gesetzgebung von ihrem formalistischen Stand- 
punkt aus für Reich \md Arm dieselben Rechtsregeln 
aufstellt, während die völlig verschiedene soziale Lage 
beider auch eine verschiedene Behandlung erheischt. 
Es wäre leicht, aus jedem Hauptstück des Entwurfes 
und der geltenden Zivilgesetzbücher zahlreiche Einzel- 
bestimmungen hervorzuheben, an welchen diese ein- 
seitige Tendenz sichtbar ist; hier kann ich nur jene 

2* 



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20 



Punkte berühren, welche eine grössere Wichtigkeit be- 
sitzen und sich nicht durch ihren juristisch-technischen 
Charakter dem allgemeinen Verständnis entziehen. 

VllL 

Die meisten neueren /ivili^esctzbüchcr stellen i^anz 
allgemein den Satz aut, dass sich niemand mit Un- 
kenntnis eines gehörig kundgemachten (jesetzes ent- 
schuldigen könne. Der Entwurf und die Motive ^ 
geben zwar zu, dass die Rechtsunkenntnis und der 
Rechtsirrtum entschuldbar sein können, wenn sie nicht 
auf Fahrlässigkeit beruhen. Allein aus den Motiven 
ist klar ersichtlich, dass die Verfasser des Entwurfes 
sich die Fälle , wo Irrtum und Unkenntnis auf dem 
Gebiete des Rechtes entschuldii^t werden können, als 
eine seltene Ausnahme gedacht haben. 

In Wirklichkeit handelt es sich bei dem Rechts- 
irrtum und der ihm gleichstehenden Rechtsunkenntnis 
nicht um einen Ausnahmefall , sondern um die weit 
überwiegende Rc^cl. Schon zur Zeit der römischen 
Juristen, welche zuerst die Rcchtsrcf^el aufstellten, dass 
die Rechtsunkenntnis jedem schaden müsse , war mit 
Rücksicht auf den grossen Umfang des Rechtsstoifes 
die Gerechtigkeit dieser Bestimmung mindestens zwei- 
felhaft. Heute , wo die Gesetze jedes Kulturstaates 
ganze Bibliotheken füllen und wo kaum jemand ge- 
funden wird, der das ganze Rechtssystem seines J,an- 
des auch nur oberilächlich kennt, ist die Voraussetzung, 
dass jeder Staatsbürger alle Gesetze kennt, die lächcr- 

' § 146 d. Entwurfs u. d. Motive Bd. I. S. 381. — Der § 146 
des Entwurfs wurde In das bürgerliche Geseubuch nicht aufge« 
nommen. 



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21 



lichstc aller i'lktionen und die Recht-.nachteile, welche 
der Gesetzgeber an die Unkenntnis knüpft , sind das 
offenbarste Unrecht. Und zwar ein Unrecht, von wel- 
chem, wie leicht zu erweisen ist, vorzüglich die unteren 
Volksklassen getroffen werden. 

Unter den besitzenden Volksklassen ist die Rechts- 
kenntnis schon von vornherein viel weiter verbreitet, 
ab unter den Armen, teils wegen ihrer höheren geisti- 
gen Ausbildung , teils auch deshalb , weil ihnen der 
Besitz an und für sich ein höheres Interesse an ileni 
Rechtsleben einflösst. Fehlt ihnen aber die Rechts- 
kenntnis in einzelnen Fällen , so haben sie in ihrem 
Vermögen das Mittel, den Rat dm Rechts verständigen 
rechtzeitig einzuholen und ihr Handeln darnach einzu« 
richten. Daher kommt es, dass bei Interessenkonflikten 
zwischen Reichen und Armen die Rechtsfrage meistens 
schon zum voraus zu gunsten der ersteren entschieden 
ist, ohne dass man deshalb gegen die Gerichte den 
Vorwurf der Ungerechtigkeit erheben kann. 

Die Annen dagegen besitzen nur eine dürftige 
Rechtskenntnis, und sie können die Lücken und Mängel 
derselben auch regelmässig nicht durch die Anfrage 
bei Kundigen ersetzen. Ihr Handeln wird deshalb fast 
ausschliesslich von einem dunkeln und nur zu oft trü- 
gerischen Rechtsgefühl geleitet und ihr ganzes Rechts- 
leben ist in Wirklichkeit dem Zufall preisgegeben. Wenn 
dann der Richter im Rechtsstreit das Gesetz gleich- 
wohl anwendet , ja im Widerspruch mit dem Augen- 
schein annimmt, dass es dem Armen bekannt [gewesen 
sei , so ist dieser nur allzu geneigt , den Riciiter der 
Ungerechtigkeit zu zeihen. 

Diese juristische Inferiorität ist nicht so wichtig, 



22 



aber vielleicht ebenso drückend wie die ökonomische 
Abhängigkeit der besitzlosen Volksklassen, schon des- 
halb, weil sie so leicht beseitigt werden könnte. Denn 
wenn der Staat die Kenntnis seiner Gesetzgebung bei 
jedem Staatsbürger voraussetzt oder, was praktisch auf 
das nämliche hinausläuft, die Unkenntnis regelmässig 
als Fahrlässigkeit behandelt, so muss er den besitz- 
losen Volksklassen, bei welchen jene Voraussetzung so 
gut wie niemals zutrifft, die Möglichkeit eröffnen, sich 
die Gesetzeskenntnis aut eine leichte und sichere Weise 
zu verschaffen. Eine ins einzelne gehende Darstellung 
der Mittel, welche diesem Zweck zu dienen hätten, ist 
hier nicht am Ort; wohl aber sollen später (s. unten 
Xn) die entscheidenden Gesichtspunkte im Zusammen- 
hang erörtert werden. 

IX. 

Das heute auf dem europäischen Kontinent gel- 
tende Frivatrecht kann als ein Kompromiss betrachtet 
werden, welches unter dem Einfluss der französischen 
Revolution und der nachfolgenden Bewegungen zwi- 
schen dem Grossbesitz und dem Kleinbesitz abge- 
schlossen und den besitzlosen Volksklassen im Wege 
der Gesetztrebiing auferl(^[^t worden ist. Dieses Kom- 
promiss entspricht nicht mehr vollständig den Macht- 
verhältnissen, die sich seit einem Menschcnalter ausge- 
bildet haben, namentlich auch nicht der gesteigerten 
sozialen Macht der besitzlosen Volksklassen; desto 
mehr aber können diese verlan^^en, dass das Kompro- 
miss nicht zu iliren Ihigunsten über seinen wahren In- 
halt ausgedehnt werde. Da die Feststellung des Pri- 
vatrechts aul dem Kontinent fast überall in der Form 



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23 



des Gesetzes erfolgt ist, so kann man diesen Gedanken 

auch so ausdrücken: Es ist ein gerechter Anspruch 
derjenigen, welche durch das geltende Privatrecht in 
ihren wichtigsten Lebensinteressen zuruckiiesetzt wer- 
den, dass die Normen dos bürgerlichen Rechtes nicht 
über den erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinaus 
angewendet werden. Ein gesetzgeberischer Wille ist 
aber selbstverständlich auch dann vorhanden, wenn der 
Gesetzgeber einen zu engen Ausdruck gewählt hat und 
seine Vorschrift durch ausdehnende Ausle^^ung auch 
auf jene Fälle an^^^ewendet wird, welche zu normieren 
seine Absicht gewesen ist. 

Auf den Gebieten, wo der Gegensatz zwischen den 
besitzenden und den besitzlosen V' olksklassen weniger 
schroif hervortritt, namentlich im Straf- und Verwal- 
tungsrecht, sehen wir diesen Gedanken in weitem Um* 
fange verwirklicht. So schliessen die Strafgesetzbücher 
die Anwendung der Analogie wenigstens in Ansehung 
der zwei wichtigsten Fragen aus, nämlich ob eine Hand- 
lung ein Delikt und welche Strafe deshalb 7ai ver- 
hängen sei (§ 2 des Reichsstrafges.). Auch auf dem 
Gebiete des V^erwaltungsrechts hat die Analogie nur 
ein geringes Anwendungsgebiet , indem gewöhnlich in 
jenen Fällen, wo eine bestimmte Verwaltungsvorschrift 
mangelt, die Entscheidung nach Zweckmässigkeitsgrün- 
den eintritt. 

Dagegen gehen die Zivilgesetzgebungen seit der 
Zeit der römischen Juristen bis auf die Gegenwart von 
einer Fiktion aus, die niclit minder absurd ist, als jene 
Voraussetzung- einer allgemeinen Kenntnis der Gesetze 
(VIII), nämlich dass das geltende Zivilrecht lückenlos 
sei und dass Recht und Lebensinhalt sich vollständig 



24 



decken. Der Zivilrichter darf deshalb einen Rechtsfall, 
für welchen sich in den geltenden Gesetzen keine Be- 
stimmung findet, nicht nach ZwcckmässitTkeitsi^ründen 
entscheiden , sondern er muss die für ähnliche Fälle 
vorhandenen Rechtsregeln anwenden (Analogie). Auch 
der deutsche Entwurf steht vollständig auf diesem 
Standpunkt, indem er bestimmt (§ i)\ dass auf Ver- 
hältnisse, für welche das Gesetz keine Vorschrift ent- 
hält, die für rechtsähnliche Verhältnisse gegebenen 
Vorschriften entsprechende Anwendung finden, ferner 
dass in Ermangelun^r solcher Vorschriften die aus dem 
Geiste der Rechtsordnung sich ergebenden Grundsätze 
massgebend sind, 

Aeltere und neuere Gesetzgeber haben die analoge 
Rechtsanwendung durch die Wissenschaft und Praxis 
von dem Gesichtspunkte aus verboten, weil dieselbe 
ein Eingriff in die gesetzgebende Gewalt sei. Diese 
kleinliche Auffassung ist mir völlig fremd, vielmehr bin 
ich der Ueberzcuguni; , dass kein Werk menschlicher 
Hände so sehr der Nachhilfe bedarf, als die Gesetz- 
gebung, bei welcher Einsicht und Absicht so oft zAvetfel- 
haftcr Natur sind. Wenn ich gleichwohl dafür eintrete, 
dass die analoge Rechtsanwendung auch auf dem Ge- 
biete des bürgerlichen Rechts durch die Entscheidung 
nach Zweckmässigkeitsgründen zu ersetzen ist, so ge- 
schieht dies aus dem Grunde, weil nur auf diesem 
Wege eine Reform des Zivilrechts von innen heraus 
bewerkstelligt wenden kann. 

Es ist natürlich, dass das l)ürgerliche Recht, wel- 
ches seit Jahrtausenden bloss von den besitzenden 



* Gestrichen. 



25 



Volksklassen ausgebildet worden ist, auch vollständig 
im Dienste ihrer Interessen steht. Wenn also ein Ge> 
setzbuch die analoge Rechtsanwendung in dem weiten 

Umfange vorschreibt wie der deutsche Entwurf, so 
muss das zur notwendigen FolLje haben, dass ein <:jrosser 
Teil aller Rechtsstreite zwischen den Besitzenden und 
Besitzlosen, für welche sich eine ausdrückliche gesetz- 
liehe Bestimmung nicht vorfindet, zum Nachteil der 
letzteren entschieden wird. Könnte der Zivilrichter in 
solchen Fällen nach Zweckmässigkeitsgründen entschei- 
den, so wäre er dadurch in die Lage versetzt, die Ein- 
seitigkeit des Zivilrechts in zahllosen Rechtsstreitii^keiten 
zu mildern und dadurch einer allmählichen Umbildung 
desselben im Interesse der besitzlosen Volksklassen 
vorzuarbeiten. Freüich die gegenwärtige Juristengene- 
ration, welche fast ausnahmslos in der grausamen Schule 
des römischen Rechts aufgezogen ist, wüsste von der 
ihr zuc^^estandcnen freien Stellunsr kaum den richtigen 
Gebrauch zu luachen ; ihr würden nach wie vor die 
Überlieferten Formeln vorschweben, und sie würde so 
auf einem Umweg den heutigen Rechtszustand festzu- 
halten suchen. Aber schon die Juristen des nächsten 
Menschenalters — dies lässt sich mit Sicherheit vor-- 
aussetzen — werden von sozialen Ideen erfüllt sein 
und die h'ähigkeit besitzen, an der Reform des bürger- 
lichen Rechtes mitzuwirken. 

Für die Gesetzgebung der Gegenwart ergibt sich 
aus dieser Sachlage ausserdem auch der wichtige Grund- 
satz, dass sie jene Rechtsgebiete, auf welchen sich die 
Interessen der besitzenden und der besitzlosen Volks- 
klassen feindlich gegenüberstehen, so wenig als mög- 
lich der analogen Rechtsanwendung preisgeben darf. 



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26 



Nirgends ist eine ins einzelne gehende Gesetzgebung 
von zwingendem Charakter so unerlässHch, als bei den 
Rechtsinstituten, durch welche vorzüglich derlnteressen- 
gegensatz zwischen Reich und Arm geordnet werden 
soll. Dass der Entwurf eines deutschen bürgerlichen 
Gesetzbuchs gerade um^^ckchrt in solchen Fällen nur 
die dürftit^sten Bestimmungen trifft und dadurch fast 
alles der analogen Rechtsanwendung überlässt, wird sich 
im weiteren Verlaufe dieser Darstellung (XIX) ergeben. 

Die hier bekämpfte Bestimmung (§ i des Entw.) 
wurde im Laufe der späteren Beratungen gestrichen, 
doch lässt sich mit Rücksicht auf die in alten Monar- 
chien herrschenden Machtverhältnisse von vornherein 
annehmen , dass die für die höheren Volksklassen so 
vorteilhafte analoge Anwendung des geltenden Gesetzes- 
rechts gleichwohl fortdauern wird. Nach dem Schweizer 
Vorentwurf (Art. i) soll der Richter zunächst nach dem 
Gesetz, dann nach dem Gewohnheitsrecht, endlich in 
dritter Reihe nach bewährter Lehre und Ueberlieferung 
entscheiden. Kann er aus diesen Quellen das Recht 
nicht finden , so hat er das Urteil nach der Regel zu 
schöpfen, die er selbst als Gesetzgeber aufstellen würde. 
In diesem Falle hat also der Richter in Uebereinstim- 
mung mit meinen Vorschlägen nach Zweckmässigkeits^ 
gründen zu entscheiden. 

X. 

Die beiden grossen Fiktionen der Zivilgesetzbücher, 
dass das bürgerliche Recht vollständig sei und dass es 
jedem Staatsbürger vollständig bekannt ist — diese 
Fiktionen haben zweifellos den Erfolg, die unteren 



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27 



Volksklassen in Bezug auf die Rechtsverfolgung un- 
günstig zu stellen, wenngleich vielen, welche heute 
diese Sätze aufstellen und anwenden, jene ursprüngliche 
Tendenz nicht bewusst sein mag. Weniger sichtbar 
ist diese Konsequenz bei einem dritten Moment, welches 
den unteren Volksklassen die (jcltcndmachung ihrer 
Rechte kaum weniger erschwert und das deshalb noch 
erwähnt werden soll. 

Die Entstehung und der Untergang der Rechte 
und Verbindlichkeiten ist auf allen Recht^ebieten vor- 
züglich an bestimmte menschliche Handlungen geknüpft. 
Jede Handlung, welche rechtliche Be(lcutiin<^ haben soll, 
besteht aber einesteils aus einem äus>cilich erkennbaren 
Tatbestand und andererseits aus gewissen diesen be- 
gleitenden inneren Zuständen des Willens und der Vor- 
stellung, welche sich der sinnlichen Wahrnehmung ent- 
ziehen. Solche innere Zustände sind z. B. der gute 
oder der böse Glauben beim Besitz, der böse Vorsatz 
oder die Fahrlässigkeit bei strafbaren Handlungen. 
Während nun der Richter in Ansehung des äusseren 
Tatbestandes an die ihm vorgelegten Beweismittel ge- 
bunden ist, entwickelt er in Betreff jener inneren Zu- 
stände eine frei schaffende Tätigkeit ; er ist es, welcher 
— durch die Annahme einer bestimmten Richtung des 
Wollens und des Vorstellens in dem Handelnden — der 
toten Masse der äusseren Handlungen erst den beleben- 
den Geist einhaucht. Die Natur der Sache bringt es 
nun mit sich, dass die Armen bei dieser Konstruktion 
der' inneren Zustände durch den Richter viel häufiger 
als die Besitzenden benachteiligt werden. 

Besonders augenfällig tritt diese Einseitigkeit auf 
dem Gebiete der Strafrechtspflege hervor. Bekanntlich 



28 

erhält eine Handlung erst dadurch eine strafrechtliche 

Bcdeutun^f, dass ihr eine bestimmte Willensrichtuiii^ 
des Handelnden: böser Vorsatz oder Fahrlässigkeit zu 
Grunde lie^^t. Wie leicht wird nun selbst ein jTferechter 
Richter in einen verdächtigen äusseren (sog. objektiven) 
Tatbestand jene rechtswidrige Wiilensbestimmung hin- 
einlegen, wenn es sich um einen Armen handelt und 
wie schwer wird ihm der gleiche Entschluss bei Per- 
sonen aus den besitzenden Klassen fallen I Bei einzelnen 
Richtern steigert sich diese Einseitigkeit zu der soge- 
nannten Diebstalilspräsumtion, von welcher der Arme 
sofort ergriffen wird, wenn ihm das Unglück widerfährt, 
zu einem Eigentumsverbrechen in eine äussere Be- 
ziehung zu treten. Ja, wenn man cli<^ Strafrechtspflege 
nicht bloss nach den dürftigen und abstrakten Umrissen 
beurteilt, welche Gesetze und theoretische Schriften 
von ihr bieten, sondern darnach, wie sie in der Wirk- 
lichkeit lebt und sich betätigt, so wird man zugeben 
müssen, dass durch jene verschiedene Beurteilung der 
inneren Zustände ähnliche Wirkungen hervorgebracht 
werden, als wenn für die 1 meiden grossen Kreise des 
Volkes verschiedene Strafrechte in Wirksamkeit wären. 

Nicht anders als auf dem Gebiete des Strafrechts 
verhält es sich mit der bürgerlichen Rechtspflege. Zwar 
ist hier die richtige Konstruktion des inneren Tatbe- 
standes für Staat und Gesellschaft entfernt nicht von 
jener entscheidenden Wichtigkeit wie bei der Ausübung 
der Strafjustiz ; aber auch so wird selbst der gerech- 
teste Zivilrichter den besitzlosen Volksklassen in un- 
zähligen Rechtsstreiten Unrecht tun, weil er ihre inne- 
ren Zustände nicht richtig aufzufassen oder zu deuten 
weiss. 



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29 



Seit der Mitte des i8. Jahrhunderts, namentlich 

aber seit der französischen Revolution hat man die 
besonderen Gerichte de«; Adels, der (ieistlichkeit und 
der anderen bevorrechteten Stände immer mehr be- 
seitigt, weil man von der richtigen Ansicht ausging, 
dass selbst ein vollkommen gewissenhafter Richter sich 
dem Einflüsse des Standesgegensatzes nicht zu ent- 
ziehen vermag. Aber indem man die neuen Gerichte 
fast ausschliesslich den besitzenden und gebildeten 
Volksklassen entnahm, schuf man wieder ein Privilegium, 
das kaum weniger drückend ist als die Vorrechte der 
feudalen Gesellschaftsordnung und das bei dem stei- 
genden Gegensatz zwischen den Besitzenden und den 
Besitzlosen täglich schwerer empfunden wird. Die 
Mittel zur Aufhebung oder Milderung dieses Gegen- 
satzes zu finden und insbesondere für eine zweckmäs- 
sigere Ausbildung des Juristenstandes zu sorgen, ist 
eine Aufgabe, deren Lösung der Zukunft angehört. 

XI, 

Diese letztere Bemerkung führt mich auf einige 
prozessuale Fragen, welche für die Rechtsver- 
folgung und Rechtsverteidigung der Armen von grosser 

Bedeutung sind und deshall) an dieser Stelle erwähnt 
werden müssen, obgleich sie mit dem Entwurf eines 
bürgerlichen Gesetzbuches nur in losem Zusammen- 
hange stehen. 

Die neuere Zivilprozessgesetzgebung hat im grossen 
und ganzen die entgegengesetzte Richtung verfolgt wie 
die wirtschaftliche und die soziale Gesetzgebung der 
letzten Zeit. Bis vor einem IMenschenalter war man 
überzeugt, dass das freie Spiel der wirtschaftlichen 



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30 



Kräfte die Erzeugung der grössten Gütermengen und 

dadurch das (jkonomische Wohlbefinden Aller herbei- 
führen werde (Manchesterdoktrin). Indem man nun 
alle Staatsbürger ohne Rücksicht auf ihre persönlichen 
Eigenschaften und auf ihre wirtschaftliche Lage völÜg 
gleich behandelte und zwischen ihnen einen zügellosen 
Wettbewerb zuliess, bewirkte man zwar, dass die Gü- 
tererzeugung ins unendliche stieg, zugleich aber auch, 
dass die Armen und Schwachen an den gesteigerten 
Gütermengen nur einen sehr gerin tyen Anteil hatten. 
Daher die neue wirtschaftliche und Sozialgesetzgebung, 
welche bestrebt ist, den Schwachen gegen den Starken 
zu schützen und ihm an den Gütern des Lebens we- 
nigstens einen bescheidenen Anteil zu sichern. Man 
weiss eben heute, dass es keine grössere Ungleichheit 
gibt, als das Ungleiche gleich zu behandeln. 

Unsere neuere Zivilprozessgesetzgebung steht noch 
ganz unter der Herrschaft jener überlebten Weltan- 
schauung, wie wir uns denn überhaupt nicht verhehlen 
können, dass die Rechtswissenschait die zurückgeblie- 
benste aller Disziplinen ist und von den Zeitströmungen 
am spätesten erreicht wird, hierin einer entlegenen 
Provinzstadt nicht unähnlich, in welcher die abgelegten 
Moden der Residenz noch als Neuigkeiten getragen 
werden. 

Noch im 18. Jahrhundert war die Ziviljustiz fast 
überall ganz oder zum grössten Teile in den Händen 
des Richters vereinigt und deshalb auch für die Ärmen 
erreichbar. Heute wirken an der bürgerlichen Rechts- 
pflege Anwälte, Notare, Gerichtsvollzieher und andere 
Personen mit, und w-er seine Privatrechte gehörig sichern 
und durchsetzen will, muss diesen komphzierten Me- 



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31 



chanismus zu beniitzen und zu bezahlen im Stande sein. 
Dass die bürgerliche Rechtspflege durch diese Teilung 
der Arbeit wesentlich verbessert worden ist, will ich 
nicht in Abrede stellen ; aber es liegt in der Natur der 
Sache, dass jene verwickelten und kostspieligen Ein- 
richtungen hauptsächlich den besitzenden und gebilde- 
ten Bevölkerungsschichten zu Gute kommen und ihnen 
bei der Sicherung und Durchsetzung ihrer Rechte ein 
ungeheures Uebergewicht über die besitzlosen Voiks- 
klassen verleihen. Mit anderen Worten : auf dem Ge- 
biete der Justiz hat sich ein ähnlicher Prozess vollzo- 
gen wie auf dem Gebiete der Volkswirtschaft; wir ha- 
ben die Zivilrechtspflege so vervollkommnet, dass sie 
schliesslich der ungeheuren Mehrheit der Nation uner- 
reichbar {geworden ist. 

Ich weiss sehr wohl, dass jene 1 liltspersonen über- 
all durch das Gesetz verpflichtet sind, ihre Dienste den 
Armen unter Umständen unentgeltlich zu leisten. Aber 
gerade in diesem Privilegium liegt für die besitzlosen 
Volksklassen die empfindlichste Zurücksetzung. Denn 
in einer Gesellschaft, in welcher jede Dienstleistung 
bezahlt wird, und in der die betrefi"enden Funktionäre 
selbst die Befriedigung jedes Bedürfnisses erkaufen 
müssen, lässt sich vernünftigerweise nichts anderes er- 
warten, als dass die unentgeltlichen Funktionen schlecht 
und widerwillig geleistet werden. 

Aber noch mehr! Dieser komplizierte Apparat 
würde auf die Rechtsverfolgung und Rechtsverteidi- 
gung der Armen noch weniger nachteilig einwirken, 
wenn dem Richter nur gestattet wäre, in die Zivil- 
rechtspflege selbsttätig einzugreifen. Allerdings liegt 
es nun in der Natur der Sache» dass der Richter nie- 



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32 



manden zur Geltendmachung seiner Privatrechte zwingen 
kann, weil diese nach der Grtmdaufiasstmg des heuti- 
gen bür^a-rlichen Rechtes eine Privatan<4elegenheit der 
Beteiligten sind. I lat aber der Berechtigte einmal bei 
dem Richter Klage erhoben und dadurch die Absicht 
erklätt, sein Recht geltend zu machen, so sollte man 
glauben, dass dieser nunmehr alle gesetzlichen Mittel 
anwenden werde, um dem verletzten Rechte Geltung 
zu verschaffen. Dies ist jedoch keineswegs der Fall. 
Vielmehr muss das Gericht nach den Zivil prozessge- 
setzgebungen aller Kulturstaaten auch nach Beginn des 
Rechtsstreites zu allen wichtigeren Schritten besonders 
veranlasst werden, gleich einem verdorbenen Uhrwerk, 
welches tortwährend gestos^en und geschüttelt werden 
muss, um wieder auf kurze Zeit in Gang zu kommen. 

Dieser Rechtszustand ist nun für die besitzenden 
Volksklassen sehr bequem und vorteilhaft, weil sie, 
intelligent und gut beraten, jene Initiative rechtzeitig 
und in zweckmässiger Weise zu ergreifen wissen. Da- 
gegen muss die Rechtsverfolijung der besitzlosen Voiks- 
klassen, welche dem komplizierten Prozessmechanismus 
ratlos .L^es^enüberstehen und schlecht (jder gar nicht 
vertreten sind, durch diese unnatürliche Passivität des 
Richters auf das Verderblichste beeinflusst werden. 

Dass die besitzlosen Volksklassen der Zivilrechts- 
pflege in allen Kulturstaaten misstrauisch gegenüber- 
stehen, kann unter solchen Umstanden niemand be- 
fremden. Ihnen erscheint unsere Ziviljustiz in der Regel 
als ein System von juristischen Kniffen, in welche der 
einfache Sinn des Ungebildeten niemals einzudringen 
vermag. Kommt dann, wie in unserer Zeit, das Be- 
wusstscin des Klassengegensatzes hinzu, so wird es nur 





33 



allzu oft geschehen, dass der Arme, welcher ein paar 
Zivilrechtsstreite bei Gericht durchzutühren hatte, sich 
in einen bewussten Feind von Staat und Gesellschaft 
verwandelt 

XIL 

Warum stehen in Europa und Amerika viele Mil- 

Uoncn \ Uli Arbeitern dem überlieterten Staat teindlich 
gegenüber, sei es, dass sie, wie die Anarchisten, die 
einfache Vernichtung^, oder dass sie, wie die Sozial- 
demokratie, dessen völlige Umbildung anstreben? Der 
Hauptgrund dieser Erscheinung liegt ohne Zweifel da- 
rin, dass der Staat hinter der geltenden Eigentums- 
und Wirtschaftsordnung steht, welche die besitzlosen 
Volksklassen zu beseitigen streben. Aber auch wenn 
man unsere heutige Wirtschaftsordnung als eine uner- 
schütterliche Tatsache betrachtet, wird man zugeben 
müssen, dass unsere überlieferte staatliche Organisation 
mit Rücksicht auf die besitzlosen Volksklassen einer 
gründlichen Umbildung unterzogen werden muss. Sieht 
man von den grossen politischen Bewegungen ab, 
welche das Proletariat für eine kurze Zeit an die Ober- 
fläche des öffentlichen Bewusstseins zogen, so sind die 
besitzlosen Volksklassen und ihre Interessen von den 
Staatsmännern eigentlich erst im letzten Menschen alter 
entdeckt worden. Daher kommt es, dass die älteren, 
wohlbestallten Einrichtungen der bürgerlichen Gesell- 
schaft: das Zivil- und Stratrecht, der Zivil- und Strai- 
prozess und die innere Verwaltung durchgreifend vom 
Standpunkt der Gebildeten und Besitzenden aus kon- 
struiert sind und von den Interessen der besitzlosen 
Volksklassen, die doch die ungeheure Mehrheit aller 

Menger, Das bSrgerl. Recht 4. Aufl. 3 



34 



Nationen bilden, nur in unterc^eordnetcn Punkten Notiz 
nehmen. Unser auf Machtverhältnissen beruhender 
militärisch-büreaukratischer Staat macht eben in der 
Gegenwart die ersten unsicheren Schritte, um sich in 
einen Arbeits- und Wirtschaftsstaat zu verwandeln. 

In der Umbildui^ dieser alten Institutionen zu 
j^unsten der besitzlosen Volksklassen könnte nun un- 
endlich vieles geleistet werden, ohne dass die Grund- 
lagen der geltenden Eigentumsordnunt{ berührt zu wer- 
den brauchten. Freilich müssten zu diesem Ende die 
Gesetzgeber, welche fast ausschliesslich den besitzen- 
den und gebildeten Schichten angehören, den Bann 
ihrer Vorurteile durchbrechen und sich bei jeder Rechts- 
regel und bei jedem Rechtsinstitut die Frage vorlegen, 
wie sich dieselben in ihrer Anwendung auf die besitz- 
losen Volksklassen gestalten werden. Namentlich würde 
eine zweckmässige Reform des Zivilrechts und -Pro- 
zesses, welche Rcchtsgcbicte für Reich und Arm von 
täghcher Anwendung sind, dazu beitragen, die besitz- 
losen Volksklassen der geltenden Rechtsordnung wie- 
der näher zu bringen. 

Vor allem müsste der Ztvilrichter verpflichtet wer- 
den, jedem Staatsbürger, besonders aber dem Armen, 
unentgeltlich Belehrung über das geltende Recht zu 
erteilen und ihm auch sonst bei der Sicherung seiner 
Privatrechtc Hilfe zu leisten. Erst dadurch würde die 
juristische Inferiorität der besitzlosen Volksklassen, 
welche so schwer auf ihr ganzes Rechtsleben drückt, 
einigermassen beseitigt werden. Da der Staat von den 
Armen und Ui^^ebildeten verlangt, dass sie das Wirr- 
sal seiner Gesetzgebung vollständig kennen, so ist es 
nur gerecht, dass er denselben ermi^licht, sich diese 



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35 



Kenntnis auf eine ihnen zugängliche Weise zu ver- 
schaffen und wenn die analoge Rechtsanwendung be- 
seitigt ist, so würde es dem Richter auch nicht schwer 
fallen, allen Staatsbürgern das geltende Recht zu weisen. 

Dann aber müsste zweitens der Richter, wenn ein- 
mal der Kläger dio Klage erhoben und dci Beklagte 
den geltend gemachten Anspruch bestritten hat , den 
Rechtsstreit von Amtswegen durchführen. \\ cnn man 
den Besitzenden gestattet, sich in dem Rechtsstreit 
durch Advokaten vertreten zu lassen, so müsste der 
Richter die Gleichheit zwischen den Parteien dadurch 
herstellen, dass er die Vertretung der armen Prozess- 
partei übernimmt. Ich weiss sehr wohl, dass die Durch- 
führung dieser Grundsätze in der bürgerlichen Rechts- 
pflege manche technischen Schwierigkeiten bietet; aber 
gegenüber den Gebrechen unseres heutigen Zustandes, 
wo zu der Ungleichheit der Rechte noch die Ungleich- 
heit der Rechtsverfolgung hinzugefügt wird, können 
dieselben kaum in Betracht kommen. 

Die Durchführung dieser Grundsätze würde natür- 
lich eine Umarbeituni» der Gesetze über die Täti'jfkeit 
der Gerichte bedingen. In der Uebergangszeit könnten 
jene richterlichen Funktionen auch Armenadvokaten 
anvertraut werden, die der Staat in genügender Anzahl 
bestellen und bezahlen müsste. Andere Rechtssachen 
als jene der Armen dürften aber solche Advokaten 
nicht übernehmen. 

Die hier dargelegten Grundsätze, namentlich die 
Durchführung der Zivilprozesse von Amtswegen, sind 
bekanntlich zum Teil in dem Frozessgesetzbuch Fried- 
richs des Grossen (1781) und in der Allgemeinen Ge- 
richtsordnung für die Preussischen Staaten (1793) ver- 

3* 



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36 

wirklicht worden und haben in Preussen duicli zwei 
Menschenalter, allerdings mit einzelnen Modifikationen, 
ihre Geltung behauptet. Später^ erlag die allgemeine 
Gerichtsordnung einer doppelten, bis zu einem gewis- 
sen Grade entgegengesetzten Strömung : der historischen 
Richtung, welche in diesem Gesetz nicht mit Unrecht 
eine imgeschichtliche Bildung erblickte, dann der Vor- 
liebe für den französischen Prozess mit seinen Grund- 
sätzen der ( )effentlichkeit und Mündlichkeit. Der gei- 
stige Hintergrund der Angriffe gegen die Preussische 
Gerichtsordnung war aber jedenfalls die Erfahrung, dass 
die wohlhabenden Stände in einem Verfahren, in wel- 
chem der Richter den Rechtsstreit von Amtswegen 
durchzuführen hat, bei der Verfolgung ihrer Rechte 
entfernt nicht jene Ueberlegenheit besitzen, wie etwa 
im lVanz()sischen Prozess. Damals hatten die besitz- 
losen Volksklassen keine Stimme; heute würden sie 
sicli das grosse Gesetzeswerk der Aufklärungsepoche 
nicht ohne Widerstand entreissen lassen. 

Obgleich die deutsche Zivilprozessordnung im Jahre 
1 898 bei Einführung des bürgerlichen Gesetzbuchs einer 
tiefgreifenden Umarbeitung unterworfen wurde, so hat 

doch auch der neue deutsche Zivilprozess an der ein- 
seitigen Begünstif.,funi4 der besitzenden Volksklassen in 
allen wesentlichen Punkten festgehalten. Dagegen 
näliern sich die österreichischen Prozessgesetze vom 
Jahre 1895 den hier vertretenen Anschauungen nament- 
lich in dreifacher Richtung. Zuvörderst hat der neue 
österreichische Prozess das kostspielige Institut der Ge- 

' Vgl. die preussischen Gcscize vom i. Juni 1S33 and vom 
21. Juli 1846. 



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37 



richtsvollzieher nicht angenommen, sondern deren Tä- 
tigkeitskreis, namentlich das Zustellungswesen und die 
Zwangsvollstreckung, den Gerichten vorbehalten. Ferner 
hat der in den Rechtssachen der Armen vorzugsweise 
zuständige Einzelrichter, wenn vor ihm eine rechtsun- 
kundi^fe Partei ohne Vertretung eines Advokaten er- 
scheint, eine weitgehende Verpflichtung^ zur Rechtsbe- 
lehrung (§ 432, 435 d. öst. Zivilprozessordnungj. End- 
lich drittens — und dies ist wohl der wichtigste Punkt 
— ist der österreichische Prozess mit Einschhiss der 
Zwangsvollstreckung nach dem Gesetz und vielleicht 
noch mehr nach der Praxis ein Verfahren von Amts- 
wegen. (Vgl. z. B. § 180 folgg. der österr. Zivilprozess- 
ordnung und § 16 der Execut-Ordn.) 

xni. 

Indem ich nunmehr zu der Besprechung der ein- 
zelnen Rechtsinstitute des künftigen deutschen Zivilge- 
setzbuches übergehe, erscheint es notwendig, über das 
in demselben befolgte System einige Bemerkungen vor- 
auszuschicken. 

In einem bürgerlichen Gesetzbuch, welches ledig- 
lich der Natur der Sache folgt, müsste vor allem das 
FamiUenrecht dargestellt werden, welches im wesent- 
lichen die Ehe, das Verhältnis zwischen Eltern und 
Kindern und die Vormundschaft umfasst. Denn hier 
handelt es sich um Rechtsinstitute, die in Wahrheit zu 
den Grundlagen der ganzen bürgerlichen Gesellschaft 
gehören, weil sie nicht die Begründung eines Privüe- 
giums zu Gunsten bestinunter Bevölkerungsgruppen be- 
zwecken, sondern die Beteiligung aller, der Besitzen- 
den wie der Besitzlosen, in gleichem Masse gestatten. 



38 



Auf das Familienrecht folgen in der natürlichen Ord- 
nung jene Rechtsinstitute, welche den Gegensatz zwi- 
schen den Besitzenden und den Besitzlosen begründen 
und an welchen daher die ungeheure Mehrheit der 

Nation der I laiiptsachc nach nur, wenn ich mich so 
ausdrücken darf, ein passives Interesse hat (Venn()- 
gensrecht). In dem Vermögensrecht sind zunächst das 
Eigentum und die ihm ähnhchen dinglichen Rechte 
darzustellen (Sachenrecht) und erst dann die Schuld- 
verhältnisse, welche, wenn man von einzelnen Ausnah- 
men absieht, durcl^eifend den Zweck verfolgen, das 
Eigentum oder einzelne in diesem enthaltene Beft^- 
nisse zu erwerben. Den Schluss des Privatrechtssy- 
stems bildet naturgemäss das Erbrecht, welches nicht 
nur für die »Enterbten« der Gesellschaft so gut als 
gar keine Bedeutung besitzt, sondern an dem auch in- 
nerhalb des Kreises der Besitzenden und Gebildeten 
nur verhältnismässig enge Gruppen teilnehmen. 

Von dieser durch soziale Gesichtspunkte bestinmi- 
ten Reihenfolge weicht das in der deutschen Rechts- 
wissenschaft seit langer Zeit übliche System darin ab, 
dass es das Vermögensrecht mit seinen beiden Unter- 
abteilun^^en (Sachen- und Obligationenrecht) dem Ea- 
milienrecht voranstellt. Diese Eigentümlichkeit, welche 
in den Gesetzbüchern und der juristischen Literatur 
der fremden Nationen mit Recht nur wenig Nachahmung 
gefunden hat, ist überaus charakteristisch, weil sie durch 
ein äusserliches Moment sofort erkennen lässt, wie sehr 
die natürlichen Grundlagen der Gesellschaft durch das 
Eigentumsinteresse überwuchert werden. Der Gesichts- 
jniiikt, von welchem aus diese seltsame Verschiebung 
gerechtfertigt wird, ist die Erwägung, dass das T'ami- 





39 



lienrecht mit dem Erbrecht in naher Beziehimg steht 
und dass beide das sogenannte successive Privatrecht 

bilden, d. h. jenen Teil des Privatrechtssystems, wel- 
cher die zeitliche Aufeinanderfolge der Menschen und 
den Uebergang ihres Vermögens ordnet. 

Am weitesten hat sich von der natürlichen Reihen- 
folge der deutsche Entwurf eines bürgerlichen Gesetz- 
buches entfernt, welcher die Gegenstände in folgender 
Ordnung behandelt : Recht der Schuldverhältnisse (Ob- 
ligationenrecht), Sachenrecht, Familien- und Erbrecht 
Hier werden also die Schuldverhältnisse an erster Stelle 
behandelt, obgleich ihr juristischer oder wirtschalilicher 
Zweck doch fast ausnahmslos dahm geht, das Eicren- 
tum zu erwerben, zu erhalten, zu sichern; erst dann 
folgt — seltsam genug — das Eigentum mit den üb- 
rigen dinglichen Rechten und gar erst an dritter Stelle 
das Familienrecht. Dadurch, wie auch durch zahlreiche 
andere Eigentümlichkeiten, von welchen später die Rede 
sein wird, charakterisiert sich der Entwurf und das ihm 
in dieser Beziehung folgende bürgerliche Gesetzbuch 
als das Produkt einer Zeit der vorherrschenden Ver- 
kehrsinteressen, in welcher die Rücksicht auf den 1 laud- 
ier sogar jene auf den Eigentümer überwiei^t. Hätten 
die Verfasser das Erbrecht in ihrem Entwurf in die 
erste Reihe gestellt, so wäre die Umkehrung der na- 
türlichen Ordnung eine vollständige gewesen. 

Ich werde bei der Besprechung des Entwurfs jene 
Reihenfolge beobachten, welche sich vom sozialen Ge- 
sichtspunkte aus als die richtige darstellt und deshalb 
zuerst das Familienrecht behandeln. Die Kritik des- 
selben soll den Gegenstand der folgenden Abteilung 
bilden. 



40 



Zweite Abteilung. 

Das PamiUenrecht des Entwurfs eines bürgerlichen 
Gesetzbuches für das deutsche Reich. 

XIV. 

T)i(^ Auf klärungs})ciiode hat ant^enommcn — und 
dies war ihr grösster Irrtum — , dass neben und über 
den positiven Rechten der einzelnen Staaten ein Natur- 
recht bestehe, an welchem die Gerechtigkeit der po- 
sitiven Rechtssysteme gemessen und aus dem sie nö- 
tigenfalls ergänzt werden können. Ein solches Nor<* 
malrecht existiert nun in Wirklichkeit nicht, mag man 
das Naturrecht als das Recht des Naturzustandes der 
Menschheit oder als das auf Vciniinftbegriffcn a priori 
horiihcndf Kccht oder (^ndlich als die aus der Natur 
der Lebensverhältnisse sich ergebende ivechtsordnung 
auffassen. Das wirkliche Leben der Völker bietet uns 
vielmehr nur Machtverhältnisse zwischen den einzelnen 
Klassen und Gruppen der Gesellschaft dar, welche 
dauernde Anerkennung und dadurch den Charakter 
von Rechten, Rechtsverhältnissen und Rechtsinstituten 
erlangt haben. Kein Rechtssat/, \ue iiatuilich er auch 
dem unl)etangenen Beobachter erscheinen mag, kann 
Dasein und Geltung behaupten, wenn er mit den be- 
stehenden Machtverhältnissen, namentlich auch mit dem 



41 



Interesse der Herrschenden und Besitzenden iin Wider- 
spruch steht. 

Diese wichtige Wahrheit erhäh ihre sicherste Be- 
glaubigung, wenn wir die Gestaltung des Familienrechts 
in den positiven Rechtssystemen in Betracht ziehen. 
Kein Teil des Piivatrechts hat in den natürlichen Grund- 
lagen des Menschengeschlechts so tiefe Wurzeln wie 
gerade das Familienrecht. Das Zusammenleben von 
Mann und Weib , die Erzeugung und die Erziehung 
der Kinder bis zu dem Augenblick, wo sie sich selbst 
erhalten Icönnen — all' dies sind Naturvorgänge, welche 
imter der Herrschaft jeder Rechtsordnung in irgend 
einer Form wiederkehren müssen und die sogar bei 
zahlreichen Gattungen des Tierreichs ihr Seitenstück 
haben. Dies ist auch der Grund, weshalb die römi- 
schen Juristen das Familienrecht zu dem natürlichen 
Rechte zählen, dessen Satzuni^en die Natur nicht bloss 
dem Menschen, sondern allen tierischen Wesen einge- 
prägt hat. Hier also, auf dem (lebiete des Familien- 
rechts, sollte man erwarten, dass der feindliche Gegen- 
satz zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen 
vollständig zum Schweigen verurteilt sein wird, und 
dass eine der Natur der Lebensverhältnisse entsprechende 
Rechtsordnung ihr Dasein behauptet hat. 

In Wirklichkeit ist dies aber keineswegs der Fall. 
Auch jener Teil des Privatrechts, durch welchen die 
Fortplianzung der Menschen und der Wechsel der 
Generationen geordnet wird, leidet an denselben Ge- 
brechen , wie das Vermögensrecht , indem auch die 
Rechtsregeln und Rechtsinstitute des Faniilienrechts 
vom Standpunkt der Besitzenden aus gedacht und aus- 
gebildet sind. Ja diese Einseitigkeiten sind hier viel- 



42 



leicht noch drückender , weil es zu ihrer gründlichen 
Beseitigung nicht, wie auf dem Gebiete des Vermögens- 
rechts, einer durchgreifenden Umbildung des überliefer- 
ten Rechtszustandes bedarf. Ich will auch von diesen 
Mängeln des Familienrechts nur jene hervorheben, 
welche innerhalb der besitzlosen Volksklassen für weite 
Kreise von entscheidender Bedeutung sind und alle 
minder wichtigen Fragen an dieser Stelle beiseite 
setzen. 

XV. 

Am wenigsten tritt dieser einseitige Standpunkt 
unseres Familienrechts bei der Ehe hervor, welches 
Kechtsinstitut in den positiven Rechtssystemen und so 
auch im Entwurf eines deutschen bürgerlichen Gesetz- 
buches in einer gerechten und unparteiischen Weise 
geordnet ist. Der (jiund dieser Erscheinung, welche 
bei dem l'\indamentalinstitut des Eamilienrechts doppelt 
befremden muss , liegt zunächst in der Tatsache, dass 
die Ehe, welche lange Zeit der Gesetzgebungsgewalt 
der Kirche unterstand, von dieser als ein ausschliess- 
lich sittilich-religiöses Institut betrachtet und dadurch 
dem Streite der materiellen Interessen bis zu einem 
gewissen Grade entrückt wurde. Dann aber — und 
dies mag als die Hauptsache gelten — ist die Ehe 
zu allen Zeiten ein Rechtsjj^eschäft gewesen, welches 
regelmässig nur zwischen Personen von der gleichen 
gesellschaftlichen Lebensstellung abgeschlossen wurde, 
so dass nicht standesgemässe Ehen als eine seltene 
Ausnahme betrachtet werden können. Als daher der 
Staat im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert der 
Kirche das Gesetzgebungsrecht über die Ehe aus den 



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43 



Händen nahm, so war kein Bedürfnis vorhanden, den 
Normen des Eherechts eine g^en die besitzlosen 
Volksklassen gerichtete Tendenz zu verleihen. Selbst 
das Rechtsinstitut der Ebenbürtigkeit und der Miss- 
heirat, welches nach den Motiven (I, lO ff.) bei den 
soTiveränen Häusern und dem hohen Adel des deut- 
schen Reiches aufrecht erhalten werden soll, ist der 
Natur der Sache nach mehr gegen den Bürgerstand 
und den niederen Adel, als gegen die besitzlosen Volks- 
klassen gerichtet. 

Diese unparteiische Haltung der Gesetzgebung über 
die F.hc hal auch bewiikt , dass dieses Kechtsinstitut 
von dem Sozialismus verhäkiusmässig nur weni^ an^^e- 
grihen wird. Von einer Weltanschauung wie der So- 
zialismus, welche eine durchgreifende Umbildung des 
Privateigentums anstrebt, sollte man auf den ersten 
Blick erwarten, dass sie auch das zweite Fundamen- 
talinstitut des Privatrechts : die Ehe verwerfen wird. In 
Wirklichkeit ist aber von den drei grundlegenden Ein- 
richtungen unserer bürj^erlichen Gesellschalt ; dem Pri- 
vateigentum, der Religion und der Ehe, welche Robert 
Owen einmal die Dreieinigkeit des Unheils (Trinity of 
curse) genannt hat, die sozialistische Strömung haupt- 
sächlich gegen das Eigentum, weniger gegen die Reli- 
gion, am wenigsten ^egen die Ehe gerichtet. Dies 
mag zur Bestätigung der schon früher hervorgehobenen 
Wahrheit dienen , dass die sozialen Gegensätze der 
Gegenwart nicht nur durch die (Grundideen unserer 
Privatrechtsordnung, sondern vielleicht in ebendemsel- 
ben Masse auch durch deren einseitige und parteiische 
Ausführung, welche fast ausschliesslich ein Werk der 
Juristen Ist, hervorgerufen werden. 



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44 



l iciiich darl bei der W'ürdigun«,^ dieser Erschei- 
nung auch nicht übersehen werden, dass die moderne 
Ehe, wie sie sich unter der Einwirkung kirchlicher und 
staatlicher Einflüsse ausgebildet hat, entfernt nicht jene 
furchtbaren Uebelstände zur Folge hat, wie das Pri- 
vateigentum. Ein Gegensatz wie jener zwischen reich 
und arm, ist auf dem Gebiete des ehelichen Lebens 
überhaupt nicht vorhanden; ob der einzelne in der 
Ehe eine grössere oder geringere Befriedigung seiner 
i;eistit,'en und physischen Bedürfnisse findet, hän^^t von 
individuellen Verhältnissen und vielfach vom Zufall ab. 
Wäre für die Befriedigung jener Bedürfnisse, weichen 
das Privateigentum dienen soll , durch dieses ebenso 
gut gesorgt wie auf dem Gebiet des Geschlechtslebens 
durch die Ehe, so würden sich die sozialistischen Par- 
teien wohl auch mit dem Privateigentum in seiner über- 
lieferten Form zufrieden geben. Dies mögen die Gründe 
sein, weshalb nur wenige der konsequentesten Sozia- 
listen, unter welchen ich Plato, den Hcrbertisten Boissel, 
Charles Fourier und den Saint-Simonisten 1-^nfantin her- 
vorhebe, auch eine grundsätzliche Umbildung der Ehe 
angestrebt liabcn \ 

Was die einzelnen Bestimmungen des Entwurfs 
über das Eherecht betrifft, so entziehen sich dieselben 
wegen ihres rein juristischen Charakters an dieser Stelle 
unserer Betrachtung. Im allgemeinen wird man das 
juristische Detail, namentlich die Auswahl der Tatsachen, 
an w eiche die Ungültigkeit der l^he geknüpft ist, ferner 
die doppelte Form der Geltendmachung dieser Tat- 
sachen (Nichtigkeit und Anfechtbarkeit der Ehe) wohl 
billigen können. 

> Menger, Neue Suatslebre (1903) II, 13. 





45 



Nur einen Punkt möchte ich liier hervorheben, 
weil derselbe in der sozialistischen Literatur, wie ich 
glaube, nur allzuhäufig besprochen worden ist, nämlich 
die Frage, wann eine Scheidung der Ehe bei Lebzeiten 
der Ehegatten zugelassen werden soll. Ich sage, dass 
die sozialistischen Schriftsteller der Scheidiingsfrage 
eine zu grosse Aufmerksamkeit geschenkt haben, weil 
die Wichtigkeit, die man derselben l)eileqt, doch vor- 
herrschend ans der Nervosität und dr?- 1 'eh(n-iein€run<T 
der höheren Stände entspringt. Der Entwurl ^ gestattet 
die Scheidung und die Trennung von Tisch und Bett (die 
lediglich eine Vorbereitung für die endgültige Scheidung 
sein soll) nur dann, wenn auf Seite des einen Ehegatten 
ein schweres Verschulden vorhanden ist *, nämlich wenn 
derselbe einen Ehebruch oder bestimmte schwere Sitt- 
lichkeitsverbrechen bef^an^^cn, dem Leben des andern 
Ehe^^atten nachgestellt oder ihn böslich verlassen hat, 
oder endlich, wenn er durch schwere Verletzung der 
ihm gegen den anderen Ehegatten obliegenden ehe- 
lichen Pflichten eine so tiefe Zerrüttung des ehelichen 
Verhältnisses verschuldet hat, dass diesem letzteren die 
Fortsetzung der Ehe nicht zugemutet werden kann 
(§ 1440 — 1444 des Entwurfs)'. Ich glaube, dass der 
Entwurf durch diese Bestimmungen, von welchen viel- 
leicht schon die letztere für sich genügen würde, die 
richtige Mitte zwischen jenen Gesetzgebungen getroffen 
hat, welche, wie z. B. das kathohsche Eherecht, an der 
Unauflösbarkeit der Ehe testhalten, und jenen, die, wie 
das preussische Landrecht, schon auf Grund beider- 
seitiger Einwilligung der Ehegatten die Scheidung (kin- 



' % 1575. 1576 BGB. « Vgl, § 1569 BGB. • § 1564—1568 BGB. 



46 



derloser) Ehen gestatten, ja so^ar die unübei windlichc 
Abneigung des einen Ehegatten zur Auflösung der 
Ehe als genügend erklären (Pr. L.R. II, i, § 716 flf ). 

Die Familie ist in unserer Zeit die einzige Gemein- 
schaft, in welcher das Gefühl der Brüderlichkeit und 
der Hingebung praktisch betätigt wird, und die besitz- 
losen Volksklassen haben deshalb kein Interesse, die 
1^'estigkeit der Ehe, des Fundaments der Familie, durch 
allzugrosse Ausdehnung der Scheidungsgründc zu er- 
schüttern. Erst dann, wenn die höheren Lebenskreise : 
die Arbeitergruppe , die Gemeinde , der Staat sozial 
organisiert sind und die Familie in ihren wohltätigen 
Wirkungen bis zu einem gewissen Grade ersetzen, wird 
die Frage zu erwägen sem, ob das Band der Ehe ohne 
Schädigung der Gesellschaft gelockert werden kann. 
Bis dahin aber werden die besitzlosen Volksklassen 
dem Entwurf die Anerkennung nicht ve rsagen können, 
dass seine Bestimmungen über die Ehe nicht nur an 
sich zweckmässig sind, sondern dass sie auch ihr be- 
sonderes Klasseninteresse nicht verletzen. 

XVI. 

Die ganze Sachlage verändert sich vollständig, 
wenn wir von der Ehe zu dem so naheliegenden Ge- 
biete des Ehegüterrechts übergehen. Hier ist an 
den Bestimmungen des Entwurfs sofort der einseitige 
und parteiische Geist unseres Juristenstandes wahrzu- 
nehmen, der sich lediglich als Vertreter der besitzenden 
Klassen fühlt. Bekanntlich wird es von wohlliabenden 
Vätern als eine der wichtigsten Lebensaufgaben be- 
trachtet , ihren verheirateten Töchtern , die ja in der 
Ehe meistens der schwächere Teil sind, ihr Vermögen 



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47 



und überhaupt ihre wirtschaftliche Stellung zu sichern. 
Demgemäss hat denn auch der deutsche Entwurf nicht 
weniger als fünf Ehegüterrechte aufgestellt und bis in 
die geringfügigsten Einzelheiten ausgebildet, so dass 

für jeden Geschmack ein Sträusschen geflochten er- 
scheint. In ihrem Eifer, für jenes wichtige soziale In- 
teresse der besitzenden V'olkskiassen nur ja recht aus- 
giebig zu sorgen, haben die Verfasser des Entwurfs 
zur Normierung der verschiedenen Ehegüterrechte mehr 
als hundertfünfzig sehr umfassende Paragraphen^ ge- 
braucht. Gegen diese Sorgfalt wäre an sich wenig 
einzuwenden, wenn sie bei Rechtsverhältnissen zwischen 
Armen und Reichen, wo das Kräfteverhältnis der Be- 
teiligten doch noch unendlich un^^ünstiger ist als zwi- 
schen Mann und Frau, nicht regelmässig so ziemlich 
alles der »freien Vereinbarung« überlassen hätten. Hie- 
von wird noch später ausführlich die Rede sein. 

Sehen wir nun zu, wie sich die vom Entwurf auf- 
gestellten Ehegüterrechte zu den einzelnen Klassen des 
Volkes verhalten. 

In den vornehmen Bevölkerungsschichten, zu wel- 
chen man die Geburts- , Finanz- und Beamtenaristo- 
kratie, sowie auch das höhere Bürgertum zählen kann, 
ist die Ehegattin kaum mehr als ein anmutiges De- 
korationsstück. An der Berufstätigkeit ihres Mannes 
und an der häuslichen Arbeit nimmt sie persönlich fast 
gar keinen Anteil, ja selbst die Erfüllung ihrer intimsten 
Mutterpflichten : das Säugen und die Autziehung ihrer 
Kinder in den ersten Lebensjahren pflegt sie auf Frauen 
der besitzlosen Volksklassen abzuwälzen. Häuhg bringt 



* § 13(^3—15^3 BGB. (201 Paragraphen!) 



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48 



die 1 lau ein Vermo^^en in die Khe mit, an welchem 
der Mann zur Bestreitung der beträchtlichen Unter- 
haltungskosten die Nutzung erhält. Wird dann die Ehe 
aufgelöst, so erhält die Frau ihr Eigentum zurück, auf 
das während der Ehe erworbene Vermögen hat sie, 
die ja immer nur konsumiert hat, naturgemäss keinen 
Anspruch. Dieses Ehegüterrecht wird als die »Ver- 
waltungsgemeinschaft bezeichnet, weil in demselben 
das Vermögen beider Ehegatten während der Dauer 
der Khe in der einheitlichen Verwaltung des Eheman- 
nes steht. 

Wesentlich anders gestaltet sich die Lage bei den 
mittleren Klassen, zu welchen die unteren Schichten 
des Bürgertums und die höher qualifizierten Arbeiter 
zu rechnen sind. Hier wirft die Gattin regelmässig 
nicht nur ihr Vermögen, sondern auch ihre Arbeit in 
die Ehe ein, indem sie die hauslichen Dienste verrich- 
tet und auch an der Herufstätigkeit des Mannes in 
ijrösserem oder geringcrem Masse teilnimmt. 1 )ie na- 
türliche Gestaltung des Ehegüterrechts für diese Le- 
benskreise ist die Errungenschaftsgemeinschaft , d. h. 
die Ehegatten behalten das Verm<^en, welches sie zur 
Zeit der Eheschliessung besassen, das während der Ehe 
erworbene Vermögen gehört dagegen beiden gemein- 
schaftlich. 

Bei den besitzlosen Volksklassen werfen endlich 
die Ehegatten zumeist nur ihre Arbeit in die Ehe ein; 
das Vermögen, das sie sich etwa zubringen, ist regel- 
mässig ge ringfügig und einem raschen Verbrauch unter- 
worfen. Während aber die Tätigkeit der Gattin bei 
den höheren und selbst bei den mittleren Schichten 
der Bevölkerung hinter der Arbeit des Mannes be- 



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49 



trächtlich zurücktritt, ist die Frau dem Manne in einer 
dürftigen Ehe in dieser Richtung mindestens eben- 
bürtig. Nicht nur dass die häusliche Arbeit vollständig 
der Gattin obliegt, sondern es ist auch eine ganz ge- 
wöhnliche Erscheinung, dass sie ausserdem noch für 
sich eine besondere Berufstätigkeit ausübt. Die für 
solche Verhältnisse allein passende Gcstaltun^^ des Ehe- 
iTütcrrechts ist die Gütergemeinschaft , deren Wesen 
darin besteht, dass sowohl das zur Zeit der Eheschlies- 
sung als auch das später erworbene Vermögen ein ge- 
meinschaftliches Gut beider Ehegatten wird. Ja mit 
Rücksicht auf die umfassende Tätigkeit , welche der 
Frau im ehelichen Leben der Armen obliegt, erscheint 
es mir sehr zweifelhaft, ob die hervorragende Stellung, 
welche der deutsche EntMOirf dem Ehemann auch in 
der Güterp^emeinschaft zuweist, für diese Volkskreise 
hinreichend gerechtfertigt ist. 

Und hier zeigt es sich mit voller Klarheit, wie sehr 
unsere Juristen und Gesetzgeber die Tendenz haben, 
alle Lebensverhältnisse vom Standpunkt der Reichen 
und Vornehmen zu beurteilen, deren soziale Lage ihnen 
allerdings am besten vertraut ist. Denn jene erste Form 
des Ehegüterrechts : dieVerwaltungsgemeinschaft, welche 
nur den Bedürfnissen ganz enger Lebenskreise ent- 
spricht, soll nach dem Entwurf (§ 1283 fif., 1333)^ bei 
jeder Ehe Anwendunt{ finden , sofern die Ehegatten 
nicht durch einen in gerichtlicher oder notarieller Form 
abgeschlossenen Ehevertrag ein anderes Ehegüterrecht 
erwählen. Bei der tiefen Unwissenheit, welche unter 
den besitzlosen Volksklassen in Ansehung der Normen 



» § 1363 ff., 1432 BGB. 
M e n g e r , Das bürgerl. Recht. 4. Au6. 



4 



50 



des Privatrechts herrscht, werden arme I^hepaare rc^^el- 
massig von der ganzen Existenz eines Ehegüterrechts 
nur eine schwache Vorstellung besitzen , geschweige 
denn , dass sie unter den fünf gesetzlichen Ehegüter- 
rechten eine sachgemasse Auswahl treffen könnten. 
Unterlassen sie aber die Abschliessimg eines Ehever- 
trags, so findet auf ihre dürftige Ehe sofort das Ehe- 
güterrecht der Gehciiiu äte und der Milhunärc von Ge- 
setzes wegen Anwendunsf. 

Solang der Staat nicht in dem oben (vgl. XII.) 
angedeuteten Sinne organische Einrichtungen schafft, 
um die besitzlosen Volksklassen vor den schädlichen 
Folgen der Rechtsunkenntnis zu schützen, wird sich 
dieser Uebelstand auch kaum vollständig beseitigen 
lassen. Da jedoch die Ansprüche der unteren Volks- 
klassen naturgemäss ihre Befriedigung von seiten der 
Gesetzgebung^ nur c^anz aUmählich erwarten können, so 
sollte bis daliin dem Standesbeamten, vor welchem die 
Ehe abgeschlossen wird, durch das Gesetz die Ver- 
pflichtung auferlegt werden, arme Ehepaare über den 
Inhalt der verschiedenen Ehegüterrechte zu unterrich- 
ten, damit diese ihre Wahl mit Sachkenntnis und Ueber- 
legung treffen können. Natürlich müsste auch dafUr 
Sorge getragen werden, dass die gerichtliche oder no- 
tarielle Form, welche das (jesetz tVir die Eheverträge 
vorschreibt, für dürftige Eheleute mit keinen Kosten 
verbunden ist. 



Alle Zivilgesetzbücher legen den Verwandten in 
auf- und absteigender Linie unter gewissen Voraus- 
setzungen die Unterhaltspflicht auf; insbeson- 



XVII. 






51 



dere sind die Eitern verpflichtet, ihre ehelichen Kinder 
zu erziehen und sie so lange zu erhalten, bis sie selbst 
für ihr Fortkommen Sorge tragen können (§ 1480 dl 
Entw.)^ Noch weiter geht der deutsche Entwurf, nach 

welchem sich auch die Geschwister unter Umständen 
gegenseitig den notdürftigen Unterhalt gewähren müs- 
sen (ij 1489 d. Entw.)^. Vom Standpunkt der sozialen 
Massenwirkungen kommt hier nur der Unterhalt der 
Kinder durch die Eltern in Betracht ; die übrigen Fälle 
der Unterhaltsverpflichtung sind vergleichsweise von ge- 
ringer Bedeutung. 

Wie ist aber der Unterhalt dem Berechtigten von 
dem Verpflichteten zu gewähren? Nach dem Entwurf 
(§ 1491)^ hat der Verpflichtete denselben regelmässig 
in der Form einer Gcldrente zu leisten. Xur wenn dem 
Verpflichteten gegenüber dem Berechtigten ein Erzie- 
hungsrecht zusteht, so hat er das Recht, selbst die Art 
der Gewährung des Unterhaltes zu bestimmen. Da das 
Erziehungsrecht in erster Reihe dem ehelichen Vater 
und nach seinem Tode der ehelichen Mutter zusteht, 
so können die Eltern nach freiem Ermessen bestimmen, 
in welcher Weise das Kind zu erhalten ist (g 1501, 
1502, 1504, 1655 tl- Entw.)'*. 

Aus dieser Darstellung ist leicht ersichtlich, mit 
wie grossem Recht den Verfassern des Entwurfs in 
einem früheren Abschnitt dieser Abhandlung der Vor- 
wurf einer abstrakten und unvolkstümlichen Darstel- 
lungsweise gemacht worden ist. Jeder Gesetzgeber, 
der auch nur das geringste Formtalent besitzt, wird bei 
Darstellung der Unterhaltspflicht zunächst die Alimen- 

« § 1601 BGB. « Gestrichen. » § 1612 BGB. 

« § 1612 Abs. 2 BGB. 

4* 



52 



tations Verpflichtung der Eltern gegenüber ihren ehe- 
lichen Kindern normieren, weil dieser Fall die unge- 
heure Mehrzahl aller Unterhaltsverpflichtungen bildet 
und jedem, selbst dem Aermsten und Ungebildetsten, 
aus den Erfahrungen seiner Jugend wohl bekannt und 
vertraut ist ; erst dann sind die besonderen Ikstiinmun- 
gen für die seltener vorkommenden Alimentationsfäile 
anhangsweise beizufügen. 

Wie haben aber die Verfasser des Entwurfs diese 
wahrlich sehr einfache Formfrage gelöst? Als echte 
Lehrbuchsjuristen haben sie eine abstrakte, alle Fälle 
umfassende Alimentationspflicht konstruiert und die 
meisten Rechtsregeln auf diesen abstrakten BegrifT be- 
zogen. Daher bestimmen sie in allem Emst, dass der 
Unterhalt rcgclüiässig in einer Geldrente zu leisten ist 
und (^statten nur ausnahmsweise, dass die Eltern auch 
eine andere Form der Alimentation wählen können. 
Diese Formulierung erinnert denn doch durch ihre 
naive Umkehrung von Regel und Ausnahme an das 
bekannte Witzblatt, welches taglich mit Ausnahme der 
Wochentage erscheint! Denn auf dem Gebiete des 
Unterhalts bildet glücklicherweise die Naturalwirtschaft 
noch die weit überwiegende Regel, die die Kinder von 
ihren Idtern — und dies ist die ungeheure Mehrzahl 
aller Alimentationsfäile — ihren Unterhalt meistens in 
Natur entweder im elterlichen Hause oder von einem 
dritten im Namen der Eltern empfangen. Wer über- 
haupt lernen will, wie man die Sache anzugreifen hat, 
um mn allen Staatsbürgern ohne Unterschied der 
Lebensstellung wohlbekanntes Rechtsinstitut in einer 
möglichst abstrakten und unverständlichen Weise dar- 
zustellen, braucht nur den Titel des deutschen Ent- 






S3 

wurfs^ über die Unterhaltspflicht zu lesen. 

XVIII. 

Die Eltern haben also das Recht, die Art und 
Weise, wie der Unterhalt dem Kinde zu gewähren ist, 
nach freiem Ermessen zu bestimmen (§§ 1491, 1504, 
1506 d. Entw.)*. Diese Ausnahme oder vielmehr diese 

Regel zieht unsere ^VuiniL rksamkeit auf sich, weil die- 
selbe eine grosse Ungerechtigkeit gegen die besitzlosen 
Klassen in sich birgt. 

In dem ersten Lebensjahr wird dem neugeborenen 
Kind der wichtigste Teil des Unterhaltes, nämlich die 
Nahrung, in der Weise gereicht, dass es von der Mut- 
ter oder einer anderen Frau gesäugt wird. Diese der 
Natur allein entsprechende Kniahmiig ist für das kör- 
perliche und geistige Wohlbefinden des Kindes in sei- 
nem weiteren Lebenslauf erfahrungsgemäss von ent- 
scheidender Bedeutung. Treten Ersatzmittel an die 
Stelle der natürlichen Nahrung» so ist, namentlich wenn 
das Kind auch sonst vernachlässigt wird, nicht selten 
der Tod, in zahlreichen Fällen lebenslängliches Siech- 
tum die Folge. 

Hier greift nun jener Rechtssatz ein, dass die El- 
tern die Alt und Weise, wie der Unterhalt dem Kinde 
zu leisten ist, nach freiem Ermessen bestimmen können. 
Kraft dieser Gesetzesnorm werden die wohlhabenden 
Familien die Ernährung der Kinder in der ersten Zeit 
ihres Lebens gegen eine bestimmte Entlohnung armen 
Frauen und Mädchen übertrafen, welche vor kurzem 
geboren haben und die dann ihr Kind regelmässig mit 



> § 1601— 1615 BGB. 



> g 1612 Abs. 2 BGB. 



54 

künstlichen Nahrungsmitteln aufziehen müssen. Der 

deutsche Entwurf führt dadurch nichts Neues ein, da 
das Ammen wesen selbst in der Praxis jener Länder, 
deren Gcsctzt^cbung eine ähnliche Bestimmung nicht 
enthält, allgemein anerkannt ist. 

Würde es sich bei der Ernährung der Kinder in 
ihrer ersten Lebenszeit lediglich um die Frauen der 
besitzlosen Volksklassen handeln, so wäre die Regel, 
dass die Mutter zur Stillung ihres eigenen Kindes per- 
sönlich verpflichtet ist, gewiss schon längst von Ju- 
risten und RechtsphiUwnphcn als die natürlichste und 
notwendigste aller Gesetzesbestimmungen anerkannt. 
Denn die Natur selbst weist das Weib durch gewisse 
Veränderungen in seinem Körper zur Erfüllung seiner 
Mutterpflicht an und ahndet die Verletzung ihres Ge- 
botes durch schwere körperliche Nachteile. Gilt ja 
doch auch sonst der Grundsatz , dass Handlungen, 
welche auf Grund von Verhältnissen des reinen Fami- 
lienrechts zu leisten sind, von dem Verpflichteten regel- 
mässig in Person vorgenommen werden müssen. Selbst 
bei Schuldverhältnissen, welche auf dem persönlichen 
Vertrauen der Vertragsschliessenden Teile beruhen, z. B. 
bei dem Auftrag oder der Gesellschaft, soll nach dem 
Entwurf im Zweifel nur die persönhche Leistung; ge- 
stattet sein s88, 638 d. Entw.)V Und bei einem so 
intimen, rein tainiüenrechtlichen Akt wie die Ernährung 
des Kindes in seiner ersten Lebenszeit, welcher nichts 
als die Fortsetzung und der Abschluss des durch den 
Beischlaf und die Schwangerschaft geschaffenen Zu- 
Standes ist» darf eine Stellvertretung durch andere statt- 



1 § 664, 713 BGB. 



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55 



finden, weil eine solche Ausnahme durch unerhebliche 
Bcquemlichkeitsinteressen der höheren Stände gefor- 
dert wird. 

Denn in der Tat sind die Interessen der besitzen- 
den Bevölkerungsschichten und insbesondere ihrer 
Frauen, welche durch diesen Zustand befriedigt werden, 
nicht sehr bedeutend, wenn man sie mit dem Schaden 

vergleicht, der dadurch den besitzlosen Volksklassen 
zugefügt wird. Wenn gesunde F'raiien der besitzenden 
Volksklassen sich bei Erfüllung ihrer Mutterptlichten 
durch Aminen vertreten lassen, so tun sie dies kaum 
aus einem anderen Grunde, als aus Bequemlichkeit 
oder deshalb, weil sie ihren gesellschaftlichen Vergnü- 
gungen nicht auf längere Zeit entsagen wollen. Da- 
gegen wird das Kind der Amme, welchem die mütter- 
liche Nahrung und auch sonst ihre Pflege mangelt, oft 
dem Siechtum, nicht selten sogar dem Tode preisge- 
geben. Ja man müsste Frauen, die für Geld ihre ei- 
genen Kinder der Verkümmerung überliefern, um fremde 
Kinder zu ernähren, aufs tiefste verabscheuen, wenn 
man nicht wüsste, dass sie zu einer solchen Hand- 
lungsweise meistens nur durch den Drang der bitter- 
sten Not bestimmt werden. 

In der Tat wird nur durch die Gesetze über die 
unehelichen Kinder bewirkt, dass sich stets Frauens- 
personen finden, die sich von den wohlhabenden Fa- 
milien als Ammen verwenden lassen. Ehefrauen wer- 
den der grossen Regel nach niemals geneigt sein, ihre 
eigenen Kinder zu Gunsten fremder Bequemlichkeit der 
Verkürnnierunf^ preiszugeben. Da jedoch die Mädchen, 
welche unehelich geboren haben, durch eine vollkom- 
men einseitige Gesetzgebung unmittelbar nach der Ge- 



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56 



burt in die bitterste Not gestürzt werden, so müssen 
sie sich jede Bedingung auflegen lassen, um nur sich 
und ihr Kind notdürftig zu erhalten. 

Die Nachteile, welche durch diese Zustände nicht 
nur den Beteiligten, sondern auch den besitzlosen Volks- 
klassen in ihrer (iesamtheit zugefüi^t werden, kann man 
kaum hoch genug anschlagen. Denn dadurch werden 
in der Zeit der grössten Empfänglichkeit die Keime 
des physischen Verderbens in Hunderttausende von 
Kindern gelegt, welche später meistens in die arbei- 
tenden Klassen eintreten und deren körperliche und 
geistige Gesamthaltung ungünstig beeinflussen. Deshalb 
sollten die besitzlosen Volksklassen auf die Beseitigung 
dieser üebelstände mit Ernst und Nachdruck hinwirken, 
obgleich von denselben die Frauenspersonen, welche 
sich von den Mitgliedern der höheren Stände haben 
verführen lassen, meistens gehasst und verachtet w erden. 

Aber auch der Staat und die Gesetzgebung haben 
alle Ursache, schon aus Rücksicht auf die Gesund- 
heitspflege in diese Zustände ordnend einzugreifen. 
Freilich wird gar mancher, welcher sein Urteil durch 
Redensarten beherrschen lässt, dagegen die Freiheit 
der Vertragsschliessuni; und die Unantastbarkeit des 
Familienlebens der Besitzenden geltend machen. Allein 
die Wirkung des Grundsatzes der Vertragsfreiheit ist 
auf dem Gebiete des reinen Familienrechts ohnedies in 
die engsten Grenzen gebannt; weder der gesetzliche 
Inhalt der Ehe noch jener des Rechtsverhältnisses zwi- 
schen den Eltern und ihren ehelichen Kindern kann 
durch Verträge in wesentlichen Punkten abgeändert 
werden. Auch hat sich die staatliche Gesetzgebung 
zui' Hebung des Gesundheitszustandes der arbeitenden 






57 



Volksklassen nicht gescheut, in die Freiheit des Lohn- 
vertrags, dem der privatrechtliche Charakter doch weit 
mehr aufgeprägt ist, durch die Fabrikgesetzgebung und 
durch andere soziale Massregeln sehr tief einzugreifen, 

wie denn überhaupt die Periode, wo die Privatrechtc 
lediq^Hch eine Privatsache der Beteiligten waren, ent- 
schieden ihrem Ende entgegeneilt. 

Ebensowenig kann davon die Rede sein, dass 
durch eine solche Umbildung der Alimentationspflicht 
in das Familienleben der besitzenden Volksklassen stö- 
rend eingegriffen werde. Dadurch, dass das Gesetz 
die ehelichen Mütter der wohlhabenden Bevölkerungs- 
schichten zur persönlichen Erfüllung ihrer Mutterpflicht 
nötigt, werden vielmehr die BezicliuiiL^^en zwischen 
Mutter und Kind nur inniger und natürlicher gestaltet 
und zugleich auch für das Verhältnis zwischen den un- 
ehelichen Müttern und ihren Kindern wenigstens die 
Möglichkeit einer befriedigenden Entwickelung geschaf- 
fen. Was wirklich eine Beeinträchtigung erfahren mösste 
und sollte, wäre nur die selbstsüchtige Vergnügungs- 
sucht und die Bcquemlichkeitsliebc der wohlhabenden 
Frauen. 

Um diese Zwecke vollständig zu erreichen, müsste 
im § 149 1 ^ des deutschen Entwurfs bestimmt werden, 
dass die Eltern zwar das Recht haben, über die Form, 

in welcher den Kindern der Unterhalt zu gewähren ist, 
nach freiem Ermessen zu liestimmen, dass aber gesunde 
eheliche und uneheliche Mütter jedenfalls verpflichtet 
sind, das Kind in seiner ersten Lebenszeit selbst zu 
stillen und dass dabei eine Stellvertretui^ nur durch 



1 § i6ia BGB. 



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58 



Frauenspersonen zulässig ist, welchen ihr eigenes Kind 
gestorben ist. Sollte sich aber eine solche Bestim- 
mungt obgleich sie durch die Gerechtigkeit, ja durch 
die Natur selbst gefordert wird, bei den bestehenden 
Machtverhältnissen als unerreichbar erweisen, so wäre 
doch zum mindesten eine Stellvertretung nur dann zu 
gestatten, wenn sie nach ärztlicher Untersuchung^ des 
unehelichen Kindes als zulässig erkannt und von dem 
Vormundschaft'^r^« rieht desselben genehmigt wird. Ich 
weiss sehr wohl, dass gegenwärtig, wo die Interessen 
der höheren Gesellschaftskreise überall einen so gewal- 
tigen Druck ausüben, an die strenge Handhabung eines 
solchen Rechtssatzes nicht zu denken ist ; aber die Fälle, 
in welchen das uneheliche Kind durch den Mangel der 
mütterlichen Fliege und Nahrung unmittelbar dem Tode 
in die Arme getrieben wird, möchten dann doch wohl 
seltener werden. 

Freilich wird kein gesetzliches Verbot einem so 
tief eingewurzelten Unwesen vollständig steuern, wenn 
nicht zugleich das Rechtsverhältnis der unehelichen 
Kinder in einer gerechteren Weise geordnet wird. Wenn 
die uneheliche Mutter durch das Gesetz besser gestellt 
ist, so wird sie ohnedies in den Fällen, wo der Vater 
leistungsfähig ist, der natürlichen Zuneigung zu ihrem 
Kinde folgen und sich seiner Pflege und Ernährung 
widmen. Das Rechtsverhältnis der unehelichen Kinder, 
wie es sich nach dem Entwürfe gestalten wird, soll 
nunmehr näher in Betracht gezogen werden. 

XIX. 

Die hohe soziale Bedeutung der Gesetze über die 
unehelichen Kinder tritt sofort zu Tage, wenn 



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59 



man einen Blick auf die Zahl der unehelich Geborenen 
in den verschiedenen Kulturländern wirft. Ich erwähne 
nur, dass das deutsche Reich , welches eine relativ 
niedrige Ziffer der unehelichen Geburten hat, nach den 
neuesten Volkszählungen auf loo Geburten 9 unehe- 
liche Kinder aufweist. Obgleich nun die Sterblichkeit 
der unehelichen Kinder infolge der mangelhaften Ge- 
setzgebung (XVIII) und anderer Verhältnisse eine sehr 
grosse ist , so kann man doch sa^en ^ dass die Per- 
sonen, deren bürgerliche Stelliin^^ wesentlich durch die 
Gesetze über die unehelichen Kinder geregelt wird, in 
jedem grösseren Kulturstaat nach Millionen zählen. 

Mit dieser grossen Wichtigkeit der Gesetze über 
die unehelichen Kinder steht nun der geringe Umfang 
der Bestimmungen, welche der deutsche Entwurf wie 
auch die meisten älteren Zivilgesetzbücher Ober ein so 
bedeutsames Rechtsverhältnis aufstellen, in einem auf- 
lalkndcn Widerspruch. Hier vcrlässt den deutschen 
Entwurf sofort die Redselif^keit, welche man bei allen 
Rechtsinstituten, die das Interesse der höheren Gesell- 
schaftskreise berühren , wahrnehmen kann ; die ganze 
so überaus wichtige Frage wird in elf Paragraphen' 
abgehandelt, die an Kürze und Knappheit mit den 
Bruchstücken des Zwölftafelgesetzes wetteifern können. 
Dagegen werden zum Beispiel die Rechtsverhältnisse 
aus gefundenen Sachen, trotz der Bedeutungslosigkeit 
des ganzen Rechtsinstituts, im deutschen Entwurf in nicht 
weniger als neunzehn Paragraphen ^ normiert, augen- 
scheinlich bloss deshalb, weil die Reichen nicht selten 
In die Lage kommen , wertvolle Sachen zu verlieren. 



* Vgl. % 1705— 17 18 BGB. 



* Vgl. § 965-984 BGB. 



6o 

Und doch darf man nicht vergessen, dass kaum irgend 
ein Rechtsinstitut zu so viel Prozessen Anlass gibt als 
das Verhältnis zwischen dem unehelichen Vater und 
seinem Kind. 

Diese auffallende Kürze beruht keineswegs auf 
einem Zufall. Sie kehrt in dem Entwurf überall wie- 
der , wo es sich um Rechtsverhältnisse handelt , bei 
welchen die Angehörigen der besitzenden Volksklassen 
armen und schwachen Personen gegenüberstehen und 
wo es gerade die Pflicht der Verfasser gewesen wäre, 
die Interessen dieser letzteren durch besonders aus- 
führliche und genaue Gesetzesbestimmungen zu sichern. 
So werden wir später sehen, dass die Rechtssätze über 
den Lohnvertrag in acht, sage acht Paragraphen ^ ent- 
halten sind, obgleich die Existenz der grossen Mehr- 
heit der Nation auf diesen Vertrag gegründet ist. 

Der Grund dieser Zurückhaltung ist leicht zu er- 
raten. Eine klare und präzise Gesetzesbestknmung ge- 
währt dem Schwachen bei Streitigkeiten einen mäch- 
tigen Schutz. Der Arme selbst vermag sich in solchen 
knallen, obgleich eine gründliche Rechtsunkenntnis sein 
natürliches Erbteil ist, doch leichter eine feste Ueber- 
zeugung vom Dasein seines Rechtes zu verschaffen, und 
andererseits wird der Gegner nicht leicht geneigt sein, 
gegen das klare Recht Widerspruch zu erheben. Kommt 
es aber gleichwohl zum Rechtsstreit, so wird auch der 
Arme, der auf ein zweifelloses Recht hinweisen kann, 
willigere Organe zu dessen Durchsetzung finden. 

Diese Situation ändert sich vollständig , wenn es 
für einen Rechtsfall an einer klaren Gesetzesbestim- 



> Vgl. § 6ii<~630 BGB. 



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6i 



mung mangelt und deshalb die analoge Rechtsanwen- 
dung notwendig wird. Wie sehr die Armen und Schwa- 
chen bei dieser Form der Rechtsfindung gegenüber 
den besitzenden Klassen im Nachteil sind , ist schon 

oben (IXj ausführlich dargelegt worden. Unzählige 
Härten und Ungerechtigkeiten, welche der Gesetzgeber 
niemals wagen würde, in die Form einer Rechtsregel 
zu bringen, werden in solchen Fällen von dem Mäch- 
tigen im Wege der analogen Rechtsanwendung durch- 
gesetzt. Denn immer werden sich in einem Privatrecht 
wie das unsere »rechtsähnliche Verhältnisse« finden, 
die dem Mächtigen Recht geben und , wenn dies ein- 
mal ausnahmsweise nicht der Fall sein sollte, so wird 
der Geist der Rechtsordnung« willfährige Dienste leisten. 
Es ist deshalb vollkommen begreiflich und wird auch 
durch die Rechtsgeschichte aller Völker bestätigt, dass 
die Armen und Schwachen selbst harte und ungerechte 
Gesetze, sofern sie nur klar und für ihre Zeit möglichst 
vollständig waren , der Rechtsunsicherheit , d. h. der 
analogen Rechtsanwendung und der Geltung des Ge- 
wohnheitsrechts vorgezogen haben. 

XX. 

Alle Bestrebungen des einzelnen bezwecken ent- 
weder die individuelle Erhaltung oder die Fort- 
pflanzung der Gattung. Von den grossen Unter- 
abteilungen des Privatrechts dient das Vermögensrecht 
(Sachen-, Obligationen- und Erbrecht^ dem ersten der 
beiden Zwecke, indem dasselbe die Rechtsmstitute ent- 
hält , durch weiche dem einzelnen jene Sachen und 
Dienstleistungen zugewiesen werden, die zur Erhaltung 
seines Daseins notwendig oder förderlich sind. Das 



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62 



i'ainilieiiicchl üinlasst da^^egcn jene Bestandteile des 
rrivatrechtssystems, durch welche das Geschlechtsleben 
und die Fortpflanzung des Menschengeschlechts geord- 
net und geregelt wird. Alle Bestrebungen des ein- 
zelnen, welche nicht der Erhaltung des Individuums 
oder der Fortpflanzung der Gattung dienen, fallen in 
das Gebiet der öfTentlichen Interessen*. 

Das Vermögensrecht kann nun auf sehr verschie- 
denen Grundsätzen aufi^ebaut weiden. In dem kom- 
munistischen Staat würden dem einzelnen die zur Er- 
haltung seines Daseins notwendigen oder förderlichen 
Sachen und Dienstleistungen unmittelbar durch die 
staatlichen Organe zugewiesen werden. In unserer 
heutigen Privatrechtsordnung, auf welcher alle Zivilge- 
setzbücher beruhen, wird diese Aufgabe dadurch ge- 
löst, dass die Objekte der äusseren Natur ( die Sachen) 
durch das Privateigentum dem einzelnen mit Ausschluss 
aller übrigen zu beliebiger Benützung zugeteilt und 
dass femer Verträge, durch welche sich ein Staats- 
bürger dem anderen zur Leistung von Sachen und 
Handlungen verpflichtet hat, als rechtsgültig und er- 
zwingbar anerkannt werden. 

Die besitzlosen Volksklassen haben nun seit jeher 
die Tendenz gehabt, die durch das Privateigentum g^e- 
schaffenen Schranken zu durchbrechen und in den 
durch das Gesetz den Besitzenden vorbehaltenen Rechts- 
kreis einzudringen. So wurden im deutschen Reich im 
Jahr 1886 nicht weniger als 88 816 Personen wegen 
Diebstahls verurteilt, so dass die Zahl der verurteilten 
Diebe oder gar aller Diebe überhaupt nach Hundert- 

^ Vgl. jetzt Menger, Neue Staatslehre (1603) II, i. 



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63 



lausenden zählen muss ; der wegen Raubs, Unterschla- 
gung und Hehlerei Verurteilten nicht zu gedenken. 
Dieser ungeheure Ansturm der besitzlosen Volksklassen 
gegen die Eigentumsordnung hat zur natürlichen Folge, 

dass der Staat diese durch strenge Strafgesetze g^-gcn 
alle Ant^riffe zu schirmen sucht. Uenn vom sozialen 
Standpunkt aus betrachtet, sind es hauptsächlich die 
Strafgesetze, durch welche die Eigentumsordnung gegen 
die besitzlosen Volksklassen geschützt und aufrecht er- 
halten wird, während die zivilrechtltchen Klagen mehr 
die Tendenz haben, dieselbe gegen Rechtsverletzungen 
der Besitzenden zu behaupten. 

Eine ähnliche, in Ii enide Rechtsgebiete eingreifende 
Tendenz ist nun auch auf Seite der Besitzenden wahr- 
zunehmen, nur dass diese nicht gegen das Vermögen, 
sondern gegen das Geschlechtsleben der besitzlosen 
Volksklassen gerichtet ist. Die Wohlhabenden sind 
durch ihr Eigentum und das daraus fiiessende arbeits- 
lose Einkommen in die Lage versetzt, die zur Erhal- 
tung und Förderung des individuellen Daseins dienen- 
den Bedürfnisse im weitesten Umfang zu befriedij;^en, 
und es entspricht nur den psychologi.schen Gesetzen, 
wenn sie vielfach auch ihre Geschlechtsgenüsse über 
die durch die Rechtsordnung gesteckten Schranken zu 
erweitem suchen. Dazu kommt noch, dass das ausser- 
eheliche Geschlechtsleben der Reichen durch das späte 
Heiraten, durch ihre Ueberlegenheit an Vei-mögen und 
Bildung und durch zahlreiche andere soziale Einflüsse 
veranlasst und gefördert wird. 

Wie weit dieses aussereheliche Geschlechtsleben der 
besitzenden Volksklassen, namentlich der Männer, wel- 
ches jedenfalls nur auf Kosten der Reinheit und Un- 



6* 

antastbarkeit des Familienlebens der Armen gehen 
kann, in unserer Zeit reicht, ist schwer festzustellen ; 
sicher ist nur, dass die Zahl der unehelichen Kinder 
in einem Lande hiefür auch entfernt keinen genügen- 
den Anhaltspunkt bietet. Man wird wohl der Wahr- 
heit nahekommen, wenn man annimmt, dass das aus- 
sereheliche Geschlechtsleben der wohlhabenden Män- 
ner, sofern man ihren ganzen Lebenslauf in Betracht 
zieht, dem ehelichen in den grösseren Städten an Um- 
fang nicht bedeutend nachsteht und dass dasselbe auch 
auf dem Lande von grösster sozialer Bedeutung ist. 

Wie aber verhält sich der Staat und die Gesetz- 
gebung zu dieser übers^reit enden Tendenz der besitzen- 
den Klassen auf einem Gebiete, welches mit Recht seit 
jeher als besonders unnahbar gegolten hat? Hier zeigt 
sich die volle Einseitigkeit unserer bürgerlichen Ge- 
setzgebung. Grundsätzlich erkennen wir zwar an, dass 
das aussereheliche Geschlechtsleben gegen Recht und 
Sitte verstösst; aber während der Staat diejenigen, 
welche die Eigentunisintercsscn der Besitzenden ver- 
letzen , mit schweren Strafen bedroht , sind die Ge- 
schlechtsinteressen der besitzlosen Volksklassen im 
Zivil- und im Strafrecht nur ungenügend geschützt. 
Die Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts hat sogar 
manche Bollwerke, welche frühere Zeiten gegen jene 
übergreifende Tendenz der besitzenden Volksklassen 
errichtet haben, wieder beseitigt und der Entwurf eines 
deutschen Zivilgesetzbuches will, so scheint es, diese 
verfehlte Richtung im Widerspruch mit der ganzen 
Zeitströmung bis zu ihren äussersten Konsequenzen 
durchführen. 

Ich weiss sehr wohl, dass aussereheliche Geschlechts- 



v^oogie 



65 



Verhältnisse auch zwischen den Angehörigen der be- 
sitzlosen Volksklassen überaus häufig vorkommen. Aber 
die fortschreitende Einseitigkeit unserer Gesetzgebung 
in Beziehung auf diese so wichtige Frage ist gewiss 
nur durch die Rücksicht auf die Interessen der Be- 
sitzenden veranlasst worden, obgleich gerade hier ein 
sicheres Mittel zur ^hiderung der Klassengegensätze 
geboten war. 

Der Trieb zur Erhaltung des individuellen Daseins 
und der Geschlechtstrieb sind in ihren Wirkungen fast 
von gleicher Stärke. Eine weise Gesetzgebung würde 
deshalb trachten, durch die Rechtsinstitute, welche sich 
an den Geschlechtstrieb anschliessen, die Härten un- 
serer Eigentumsordnung nach Möglichkeit zu mildem. 
Um die Sache ijanz klar und nüchtern auszudrücken : 
Wenn der reiche Mann das arme Mädchen, welches 
sein Gefallen erregt hat, heiraten oder zum mindesten 
genügend mit Geld entschädigen muss, so wird in un- 
zähligen Fällen ohne jede Störung der Eigentumsord- 
nung eine wohltätige Ausgleichung der vermögensrecht- 
lichen Gegensätze herbeigeführt werden. Wie weit die 
moderne Zivilgesetzgebung, insbesondere auch der 
deutsche Entwurf, von dieser ausgleichenden und ver- 
söhnenden Tendenz entfernt sind, soll nuuiiiclu im ein- 
zelnen dargelegt werden. 

XXI. 

Nach dem Römischen Recht wurde derjenige, wel- 
cher eine römische Jungfrau oder eine ehrbar lebende 
Witwe zum ausserehelichen Beischlaf verführte, den 
strengsten Kriminalstrafen unterworfen. Noch weiter 
ging das kanonische Recht, welches jeden ausserehe- 

M e 11 e r , Das bürgerl. Recht. 4. Aufl. C 



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liehen Beischlaf, wenn der Mann die Geschwächte nicht 
heiraten konnte oder wollte, mit körperlicher Züchti> 
gung, Exkommunikation und Verweisung in ein Kloster 
ahndete. Im Anschluss an das kirchliche Recht hat 

der gemeinrechtliche Gerichtsgebrauch den ausserehe- 
lichen Heischlaf mit Geld- und Arreststrafen nach freiem 
richterlichem JMme.s>en beleiht, und die Gesetzgebung 
der einzelnen deutschen Länder hat diesen Standpunkt 
noch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts 
vielfach festgehalten. 

Dagegen ist der aussereheliche Beischlaf nach dem 
Deutschen Reichsstrafgesetz regelmässig straflos, so- 
fern er mit einer Frauensperson über vierzehn Jah- 
ren vorgenommen wird, es wäre denn, dass der Mann 
zu dem Mädchen in besonderen Verpflichtungsverhält- 
nissen, z. B. als Vormund, Lehrer oder Erzieher steht. 
Ist aber das Mädchen unter vierzehn Jahren oder wird 
ein unbescholtenes Mädchen, welches das sechzehnte 
Lebensjahr noch nicht vollendet hat, von dem Manne 
durch Verführung zum Beischlaf bestimmt, so tritt Krt- 
minalstrafe ein (§ 176 Z. 3, 182 St.G.B.). Da jedoch 
die Fälle, in welchen zwischen dem Mann und der 
Frauensperson jenes Verpflichtun<^^sverhältnis besteht 
oder wo das Mädchen das vierzehnte oder scchzelinte 
Lebensjahr nicht vollendet hat, zu den seltenen Aus- 
nahmen zählen, so kann man sagen, dass der unehe- 
liche Beischlaf nach dem deutschen Reichsstrafrecht 
(ebenso wie nach den meisten anderen Strafgesetz- 
büchern) einer kriminellen Bestrafung überhaupt nicht 
mehr unterliegt. 

Einen ähnlichen Entwicklungsgang wie auf dem 
Gebiete des Strafrechts können wir in Ansehung der 



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zivürechtlichen Folgen des unehelichen Beischlafs wahr- 
nehmen. Auch hier ist das kanonische Recht am gün- 
stigsten für die geschwächten Frauenspersonen, wie 

denn überhaupt der Kirche die Anerkennung nicht ver- 
salzt werden kann, dass sie in dieser wichtigen Fra^^e 
die Interessen der Armen wirksam vertreten hat. Nach 
dem kanonischen Recht muss der Mann das geschwächte 
Madchen heiraten und ausstatten, während der deutsche 
Gerichtsgebrauch ihm das Wahlrecht gab, entweder 
die Geschwächte m heiraten oder sie mit Geld abzu- 
finden. Diesen Standtpunkt teilten dann manche deutsche 
Landesgesetze bis in die neueste Zeit, wogegen es auch 
nicht an Gesetzgebungen fehlt» weiche der geschwäch- 
ten Frauensperson jeden Anspruch aus der blossen 
Tatsache des unehelichen Beischlafes versagten. 

Auch nach dem Entwurf soll ein solcher An- 
spruch und die ihm entsprechende Klage (die sog. De- 
florationsklage) nicht stattfinden. Die Motive (Bd. 4, 
S. 914 u. folg.) sagen ausdrücklich, -dass durch den 
»ausser der Ehe vollzogenen Beischlaf als solchen für 
»die Geschwächte und Geschwängerte, auch wenn sie 
:i verführt worden oder die Schwächung oder Schwän- 
>gerung während des Brautstandes von selten des Ver- 
» lobten erfolgt ist, keinerlei Anspruch, sei es auf eine 
Ausstattung oder auf euie Entschädigung, begründet 
wird.c Dadurch wird selbstverständlich nur der An- 
spruch der Frauensperson selbst verneint, nicht aber 
jener des unehelichen Kindes, welches dieselbe etwa ge- 
boren hat, wie sich sofort ergeben wird 

Fragt man aber nun, aus welchen Gründen die 
Verfasser des^Entwurfs die in weiten Gebieten Deutsch- 
lands zulässige Deflorationsklage beseitigt haben, su 

5* 



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ist der durchschlagende Gestditspunkt, dass die ge- 
schwächte Frauenspeison in den unehetichen Beischlaf 
eingewilligt hat, dass aber nach einer Bestimmung des 
Entwurfes i$ 706)* dem Beschädigten, welcher in die 

beschädigende Handlun^j; einL^ewilligt hat, ein Anspruch 
auf Schadenersatz nicht zusteht. Aber die Verfasser 
der Motive vergessen, dass es sich bei dem unehelichen 
Beischlaf zum grossen Teil um Mädchen handelt, die 
noch minderjährig (unter 21 Jahren) und deshalb — 
um den geschmackvollen Kunstausdruck des Gesetz- 
buchs zu gebrauchen — »in ihrer Geschäftsfähigkeit 
beschränkt« sind. Eine solche Minderjährige kann nach 
dem Entwurf (§ 65)^ nicht auf das geringste Recht, ja 
sogar nicht auf einen tatsächHchen Zustand wie den 
Besitz (§ 809)^ ohne Zustimmung ihres gesetzlichen Ver- 
treters Verzicht leisten, dagegen kann sie nach dem- 
selben Entwurf ihr wichtigstes Gut, nämlich ihre Frauen- 
ehre, mit voller Rechtswirkung prei^eben. Sie kann 
femer eine Ehe nur mit der Einwilligung ihres gesetz- 
lichen Vertreters eingehen (§ 1232)*, aber sie kann ohne 
Hedenken in eine unehcUche Geschlechts«^ emeinschaft 
eintreten, obgleich eine solche für ihre künftige Wohl- 
fahrt meistens verderblicher ist, als selbst die unglück- 
lichste Ehe. Kurz, wenn der Entwurf nicht reine Klassen- 
gesetzgebung treiben und mit sich selbst in Widerspruch 
treten will, so muss er die Deflorationsklage zum min- 
desten bei den minderjährigen Mädchen zulassen. 

Aber auch bei unbescholtenen Mädchen und Wit- 
wen, welche das Alter der Grossjährigkeit bereits er- 
reicht haben, ist die Deflorationsklage wohl begründet. 

> Gestrichen. * § lo6— III BGB. ■ Gestrichen. 

« § 1304 BGB. 



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69 



Die Motive meinen freilich, dass die Deflorationsklage 
sich aus allgemeinen Grundsätzen nicht rechtfertigen 
lasse und deren Zulassung gegenwärtig nur dazu diene, 
die Unsittlichkeit zu befördern. Aber hat es denn über- 
haupt einen Sinn, wenn sich ein Gesetzgeber die Frage 
stellt, ob sich eine Rechtsregel durch allgemeine Prin- 
zipien rechtfertigen lässt? Ein theoretischer Schrift- 
steller, der einen im Gesetz nicht ausdrücklich aus- 
gesprochenen Rechtssatz verteidigt, wird allerdin^^s jene 
Frage nicht umgehen können ; dagegen hat der (jesetz- 
geber lediglich die Interessen der verschiedenen Volks- 
kreise gegen einander abzuwägen und darnach allge- 
meinere und speziellere Bestimmungen zu treffen. Der 
entscheidende Punkt wird dabei immer sein, ob die 
Bevölkerungsgruppe, deren Interesse in einer Rechts- 
regcl seinen gesetzHchen Ausdruck finden soll, genügend 
Macht und Einfluss besitzt, um die übrigen Volkskreise 
zu deren Anerkennung zu bestimmen. 

Aber es ist nicht einmal richtig, dass sich die De- 
florationsklage aus allgemeinen Grundsätzen nicht recht- 
fertigen lässt. Unter die Schadensersatzpflicht lässt sich 
freilich die Verbindlichkeit des Mannes zur Abfindung 
der Geschwächten nicht wohl subsumieren, und die 
Motive haben ein leichtes Spiel, wenn sie diese Ansicht 
bekämpfen. Aber indem das kanonische Recht und 
der gemeinrechtliche Gerichtsgebrauch den Mann zur 
Dotation der Geschwächten verpflichten, haben sie den 
familienrechtlichen Charakter des zwischen beiden be- 
stehenden Rechtsverhältnisses anerkannt, und diesem 
Standpunkt ist auch der Entwurf, der die uneheliche 
Geschlechtsgemeinschaft und ihre Folgen in dem Fa- 
milienrechte behandelt, trotz den abweichenden Aus- 



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70 

fuhrun^^en in den Motiven (IV, 851 ff.), im wesentlichen 
beigetreten. Auf dem Gebiete des Familienrechtes 
bietet aber der Unterhaltsanspruch der Frau eine zu- 
trefifende Analogie, welcher ja auch in einzelnen Fällen 
stattfindet, wo eine rechtsgültige Ehe überhaupt nicht 
vorhanden ist (§ 1258, 1454 d. E.)^ 

Und nun schliesslich die Bemerkung der Motive, 
dass die Deflorationsklage gei^enwärtig nur zur Beför- 
derung der Unsittlichkeit dient! Kaum wäre es der 
Mühe wert, diesen Gegengrund überhaupt in Betracht 
zu ziehen, wenn er in der Literatur über unsere Frage 
nicht eine so grosse Rolle spielen würde, als ob die 
Mädchen und Frauen der ärmeren Volksldassen Mes- 
salinen wären, die nur darauf lauem, die arglosen 
Männer in die Netze des unehelichen Beischlafes zu 
locken. Glücklicherweise stehen aber die körperlichen 
Reize der Frauen mit ihrer »Geschäftsfähigkeit« im 
umgekehrten Verhältnis; bei gar zu zweifelloser »Ge- 
Schäftsfähigkeit« werden sie regelmässig der natürlichen 
Mittel zur Verführung entbehren. Tatsächlich geht 
auch in der ungeheuren Mehrzahl von Fällen die Ini- 
tiative zum unehehchen Beischlaf vom Manne aus und 
gegen cluMn, nicht gegen die Frau, muss das Gesetz 
seine Drohungen richten. Uebrigens unterliegt es auch 
keinem Bedenken, dem Manne nach dem Vorbild der 
gemeinrechtlichen Praxis gegen die Deflorattonsklage 
die Einrede zu gewähren, dass er von der Geschwäch- 
ten selbst zum Beischlaf verführt worden sei. 

Aber um alle diese kleinlichen vSpitzfindigkeiten, 
von welchen die Motive des deutschen Entwurfes und 



' § 1345» i578 BGB. 



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die jiiristischen Schriften über unsere Frage angefüllt 

sind, handelt es sich i^ar nicht in erster Reihe, son- 
dern um die grosse soziale Frage, ob die staatHche 
(lesetzgebung die Beeinträchtigung des Geschlechts- 
lebens der besitzlosen Volksklassen durch die höheren 
Stände verhindern will, soweit ihr dies in den Schran- 
ken unserer sozialen Ordnung überhaupt möglich ist. 
Freilich kann man in juristischen Werken über die 
Ehe, namentlich aus der älteren Zeit, vielfach lesen, 
dass der »gemeine Mann < bei Schliessung der Ehe auf 
die Jungfräulichkeit seiner Gattin keinen besonderen 
Wert lege. Allein je mehr die besitzlosen Volksklassen 
sich in Bildung und Einfluss emporheben, desto sicherer 
müssen sie es mit Scham und Bitterkeit empfinden, 
wenn die Reinheit und Unantastbarkeit ihres Familien- 
lebens zum voraus dem vorübergehenden Vergnügen 
der Reichen geopfert und wenn ein solcher Rechl und 
Sitte widersprechender Zustand von der Gesetzgebung 
mit verschränkten Armen betrachtet wird. 

XXU. 

Nehmen wir an» die Verführung hat stattgefunden 

und es ist ein uneheliches Kind geboren worden. Wel- 
ches ist nun die Laj^e der Mutkr und des Kindes? 

Am einfachsten ist die Sache in dem französischen 
Gesetzbuch (Art. 340) und seinen Nachbildungen ge- 
ordnet. Nach dem französischen Recht ist die Er- 
forschung der unehelichen Vaterschaft untersagt oder 
mit anderen Worten, weder die uneheliche Mutter noch 
auch das Kind haben an den Vater irgend einen An- 
spruch. Dafür kann die Mutter das uneheliche Kind 
ohne jede Verantwortlichkeit in ein Findelhaus stecken» 



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72 



wo dasselbe auf öffentliche Kosten erhalten wird. Weiter 
kann wohl die Einseitigkeit nnd Parteilichkeit zu Gunsten 
der besitzenden Volkskiassen nicht mehr getrieben 
werden, als wenn der Staat oder die staatlichen Ver- 
bände die Kosten für die Ausschweifungen der wohl- 
habenden Männer übernehmen. Die Redner, welche 
den Art. 340 des französischen Gesetzbuchs im gesetz- 
gebenden Körper und im Tribunat zu vertreten hatten, 
machten auch gar kein Hehl daraus, dass es sich da- 
rum hnndle, die Vermögens- und Familien interessen 
der Wohlhabenden gegen die besitzlosen Voiksklassen 
zu schützen. 

Die Bestimmung des französischen Gesetzbuchs ist 

so aulfallend ungerecht und einseitig, dass sie nur als 
Rückschlag gegen eine entgegengesetzte Uebertreibung 
der revolutionären Gesetzgebung verstanden werden 
kann. Der französische Konvent, wohl die einzige par- 
lamentarische Versammlung, welche wenigstens bis zum 
Sturze des Jakobinertums den proletarischen Stand- 
punkt mit Entschiedenheit vertreten hat, erkannte sehr 
bald, welch' ungeheures Interesse die besitzlosen Volks- 
klas.^cn an einer gerechten Regelung des Rechtsver- 
hältnisses der unehelichen Kinder haben. Daher wurde 
der schon im älteren französischen Recht anerkannte 
Unterhaltsanspruch gegen den unehelichen Vater durch 
die revolutionäre Gesetzgebung nicht nur aufrecht er« 
halten, sondern der Konvent fasste sogar in seiner 
Sitzung vom 4. Juni 1793 den prinzipiellen Beschluss, 
dass die unehelichen Kinder ein Erbrecht an der Ver- 
lassenschaft ihres Vaters und ihrer Mutter haben sollen. 
Wenige Monate später wurde durch das Gesetz v. 12. 
brumaire II (2. Nov. 1793) bestimmt, dass ihnen die- 



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selben gesetzlichen Erbrechte an dem Vermögen ihres 
Vaters und ihrer Mutter zustehen sollen, wie den ehe- 
lichen Kindern, ja, es wurde in diesem Gesetz sogar 
ein wechselseitiges Intestaterbrecht zwischen dem un-* 
ehelichen Kinde und den Seitenverwandten von väter- 
licher und mütterlicher Seite anerkannt, sofern der Erb- 
lasser Erben in auf- und absteigender Juinie nicht zurück- 
lassen sollte. 

£s ist klar, dass durch dieses Gesetz die ehelichen 
und unehelichen Kinder in den wichtigsten Beziehungen 
fast gleichgestellt wurden. Darin ist aber der Konvent 

ohne Zweifel zu weit gegangen und hat durch diese 
Uebertreibung- den späteren Rückschlag versciiuldet. 
Denn so lang Eigentum und Ehe in ihrer heutigen 
Form bestehen, ist eine auch nur annähernde Gleich- 
stellung der ehelichen und uneheUchen Kinder ohne 
Erschütterung jener beiden Rechtsinstitute unmöglich 
und die höheren Stände können deshalb auch nur 
durch straf- und vermögensrechtliche Nachteile von 
Eingriften in das Geschlechtsleben der besitzlosen Volks- 
klassen zurückgehalten werden. Will man weiter gehen, 
so muss man vor allem zur Umbildung der Eigentums- 
ordnung schreiten, welche ja die soziale Grundlage des 
ganzen Unterschiedes zwischen ehelichen und unehe« 
liehen Kindern bildet. Darin bestand ja eben der 
grosse Widerspruch, in welchem sich der Konvent fort- 
während bewegte, so lange er überhaupt den proleta- 
rischen Standpunkt vertrat : dass er das Privateigentum 
in seiner überlieferten Form aufrecht halten, zu gleicher 
Zeit aber die besitzlosen Klassen vor den politischen 
und sozialen Nachteilen schützen wollte, welche mit 
diesem Recht untrennbar verbunden sind. 



74 



Der deutsche Gerichtsgebrauch und die meisten 
Landesgesetzgebungen stehen auf einem ganz anderen 
Standpunkt als das französische Gesetzbuch, indem sie 
dem unehelichen Kinde einen Unterhaltsanspruch gegen 
den Vater zuerkennen; selbst solche Gesetzgebungen, 
welche wie die badischc das französische Zivilrecht im 
grossen und L^anzcn ancjenommcn haben , teilen doch 
in Beziehung auf unsere Frage die deutsche Auffassung, 
Besonders rühmlich muss in dieser Richtung das preus- 
sische Landrecht (1794) hervoi^ehoben werden, dessen 
grosse Urheber hier wie in so zahlreichen anderen Fallen 
gezeigt haben, wie günstig sie den Interessen der Armen 
und Bedrängten c^esinnt waren. Vielleicht ist es mir 
gestattet, die (seit dem Jahre 1854 aufgehobenen) Be- 
stimmungen dieses Gesetzbuchs über die Rechtsfolgen 
des unehelichen Beischlafs in den äussersten Umrissen 
darzustellen, damit jeder Leser dieselben mit dem Ent- 
wurf eines deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs ver- 
gleichen kann. Ein solcher Vergleich wird dann deut- 
lich zeigen, wie die altpreussische Gesetzgebung sich 
zu den Interessen des damals noch ganz einflusslosen 
Proletariats in einer so wichtigen Frage gestellt hat, 
und wie die Verfasser des Entwurfs dieselbe Frage in 
einer Zeit lösen wollen, wo die besitzlosen Klassen in 
der gesamten Kulturwelt eine gewaltige politische Be- 
deutun.; erlanL^t haben. 

Da^ picussische I.andrecht gewährt der G esch wach- 
ten einen Anspruch an den Mann nur in dem Falle, 
wenn eine unbescholtene ledige Frauensperson oder 
Witwe ausserehelich geschwängert worden ist; durch 
einen ohne Folgen gebliebenen ausserehelichen Bei- 
schlaf wird der Mann in keiner Weise verpflichtet. Im 



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75 



Falle einer aiisserehelichen Schwängerung hat aber der 
Mann die Geschwächte nach ihrem Stande und nach 
seinem Vermögen abzufinden , doch darf der Betrag 
der Abfindung niemals den vierten Teil des Vermögens 
des Schwängerers übersteigen (A. Pr. L.R. II, i, § 1015, 
1032, 1033, 1061, 1065, 1069, 785). Auch kann die 
Geschwächte von dem Schwängerer Ersatz der durch 
die Entbindung verursachten Kosten verlangen (P. L.R. 

n, I, § ioi6ff.). 

Dem unehelichen Kinde steht nach dem Preus- 
sischcn Landrecht ein Anspruch gegen den Vater auf 
Unterhalt und Erziehung zu und zwar ohne Rücksicht, 
ob die Mutter eine unbescholtene Person gewesen ist, 
jedoch jedenfalls nur in dem Betrage, welchen die Er- 
ziehung eines ehelichen Kindes Leuten vom Bauem- 
oder gemeinen Bürgerstande kosten würde. Die Ein- 
wendung, dass der Mutter während der Empfängniszeit 
mehrere Männer beigewohnt haben, ist nicht zulässig, 
vielmehr kann der Vormund diese nach einander in 
einer von ihm bestimmten Reihenfolge verklagen (A. 
L.R. II, 2, § 612, 619, 620, 626). 

Noch weit günstiger sind die Bestimmungen des 
Preussischen Landrechts für Kind und Mutter in dem 
Falle, wenn die aussereheliche Schwängerung unter der 
Zusage einer künftigen Ehe stattgefunden hat. In die- 
sem Falle hat der Richter der Geschwächten regel- 
mässig den Namen, Stand und Rang des Schwängerers 
wie überhaupt alle Rechte einer geschiedenen , für 
den unschuldigen Teü erklärten Ehefrau zuzuerkennen 
(A. L.R. II, I § 1035, ff.). Auch das von der 
Geschwächten geborene Kind hat die Rechte der aus 
einer vollgültigen Ehe erzeugten Kinder (A. L.R. II, 2 



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76 

§ 592 ff.). Diese Kinder haben dann natürlich auch 
ausnahmsweise ein Erbrecht in das Vermögen ihres 
Vaters. Dieselben Rechtsfolgen wie bei einer unter 
der Zusage der Khe erfolgten Schwängerung treten 
für Mutter und Kind auch dann ein , wenn der Bei- 
schlaf durch eine Notzucht bewerkstelügt worden ist, 
ja diese finden hier selbst dann Anwendung, wenn die 
durch die Notzucht erzwungene Beiwohnung zur Ge- 
burt eines Kindes nicht geführt hat (A. L.R. II» i, § 1 1 1 5, 

II 16; II, 20, 8 1048 ff.)^. 

Ich glaube , dass das allgemeine Landrecht mit 
diesen Bestimmungen, welchen noch einit^e andere an- 
zureihen wären, die Linie zwischen den Interessen der 
besitzenden und der besitzlosen Klassen im grossen 
und ganzen richtig gezogen hat. £s vermeidet die 
Uebertreibungen der Gesetzgebung des Konvents, in 
dem die unehelichen Kmder regelmässig kein Erbrecht 
in das Vermögen ihres Vaters haben (A. L.R. II, 2, 
§ 647 tl.j; aber es sorgt zugleich dafür, dass die un- 
eheliche Mutter nicht infolge ihres Fehltritts ni Ver- 
zweiflung gestürzt wird, und da.s das Kind nicht von 
vornherein zur Zuchthauspflanze aut wachsen muss. 

Selbstverständlich wurden die Bestimmungen des 
Landrechts über unsere Frage von den besitzenden 
Klassen seit jeher mit scheelen Augen betrachtet. 
Gleich ursprünglich wurden die ersten drei Titel des 
zweiten Teils des Preussischen Landrechts, welche 
auch die Normen über die unehelichen Kiudci enthalten, 
nui' zögernd und nicht in allen Landcsteilen in VVirk- 

^ Ueber die 2ahlreic1ien Streitfragen, welche die obeneTW&bnten 
Bestimmiinge» des Preussischen Landrechts verursacht haben, vergl. 
Boraemann, Preass. Zivilrecht, 5. Bd., 2. Aufl. (1845) S. 327 ff. 




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77 



saTTikrii i^esetzt und auch später wurden diese Bestim- 
mungen in der Theorie und in der i'raxis lebhaft an- 
gefochten. Angesehene Juristen erklärten offen, »dass 
das allgemeine Landrecht zu gunsten der Weibsper- 
sonen alles billige Mass überschreitet«. Als dann nach 
dem Sturz des absoluten Königtums in Preussen die 
gesellschaftlichen Interessen der besitzenden Klassen 
in dem Landtage ein Organ erhielten, wurden die Be- 
stimmungen des Landrechls durch das Gesetz vom 
24. April 1854 von Grund aus umgeändert. Der we- 
sentliche Inhalt dieses Gesetzes, durch welches im 
grossen und ganzen die Grundsätze des französischen 
Gesetzbuchs unter dem Scheine einer Aufrechthaltung 
des alten deutschen Gerichtsgebrauchs eingeführt wur- 
den, soll im nächsten Abschnitt besprochen werden* 

xxni. 

Der Entwurf eines deutschen bürgerlichen Gesetz- 
buchs hat in Beziehung auf unsere r'rage die deutsche 
Auffassung, jedoch mit beträchtlichen Einschränkungen 
ai^enommen. Zum Unterhalt eines unehelichen Kindes 
ist nämlich der Vater vor der Mutter und den übrigen 
Verwandten desselben verpflichtet. Als unehelicher 
Vater gilt aber derjenige , welcher während der Em- 
pfängniszeit — d. i. während der Zeit von dem ein- 
hunderteinundachzigsten bis zu dem dreihundertsten 
Tage vor dem Tage der Geburt des Kindes — mit der 
Mutter des Kindes den Beischlaf vollzogen hat, e s s e i 
denn, dass innerhalb dieser Zeit auch von 
einem andern derBeischlaf mit derMut> 
ter vollzogen ist (iS7i» 1572 d. Entw.)*. Oer 

* Vgl. § 1708, 1709, 1717 BGB. 



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78 



legislatife Gedanke, welcher diesen BestimmuDgen zu 
Grunde liegt, ist also, dass ein Anspruch des unehe- 
lichen Kindes nur d^:i:: äiiei^^iiuit weiLiuii iull, wenn 
die Zcu^^ving desseiben durch den unehelichen Vater 
zweifellos ist ; die Einwendung der mehreren Beischläfer 
fdie sog. exceptio plurium constupratorum) ist aus- 
drücklich zugelassen. 

Diese Einrede der mehreren Beischläfer, welche 
der deutsche Entwurf aufgenommen hat, gehört zu den 
zahlreichen Massregeln, welche ohne Zweifel die Wir- 
kung haljen, den besitzlosen Volksklassen die ohnedies 
kümmerlichen Vorteile unseres Rechtsinstituts zum gros- 
sen Teile wieder zu entziehen. Ich kann hier nicht 
auf die vielen Einreden , Vermutungen und Beweis- 
regeln eingehen, welche juristischer Scharfsinn in dieser 
Abgeht erfunden hat. Nur zwei Punkte will ich nach 
Anleitung des schon oben erwähnten Preussischen Ge- 
setzes vom 24. April 1854 hervorheben, weil es immer- 
hin möglich ist, dass die Anschauungen, welche diesem 
(jesetze zn Grunde lie<j[en, auch bei der Beratung des 
deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs sich geltend machen 
werden. 

Das Gesetz vom 24. April 1854 versagt also zu- 
nächst dem unehelichen Kind den Unterhaltsanspruch 
gegen den Vater, wenn die Mutter eine beschol- 
tene Person ist. Schon das muss wundernehmen, 

dass ein sittlicher Mangel der Mutter ihr Kind seines 
Anspniclu's berauben soll. Das Befremden aber wächst, 
wenn man liest, welche Tatsachen nach der Ansicht 
des Gesetzgebers den Vorwurf der Bescholtenheit gegen 
die Mutter begründen sollen. Denn schon die Tat- 
sache, dass sie für die Gestattung des Beischlafs Be- 




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79 

Zahlung in Geld oder Geschenken angenommen 

hat, muss dem Richter genügen, um die Bescholtenheit 
mit allen ihren verderblichen K()nsc(iuenzcn für die 
Wohlfahrt des Kindes als fcstf^^estcllt anzunehmen. 

Man kann ohne Uebertreibung sagen, dass schon 
durch diese Bestimmung allein die meisten aus dem 
Umgang von wohlhabenden Männern und armen Mäd- 
chen entsprossenen unehelichen Kinder ihres Unter- 
haltsanspruches beraubt und dadurch der Verkümme- 
rung oder dem Untergang preisgegeben werden. Denn 
jeder, der in Schwängerungsprozessen einige l^>fahrung 
hat, wird bestätigen, dass die Hingabe eines armen 
Mädchens an einen wohlhabenden Mann in der Volks- 
sitte als ein Opfer betrachtet und von diesem regel- 
mässig in irgend einer Form belohnt wird. Dies ist 
aber doch die »Bezahlung in Geschenken«, wenn an- 
ders dieser unklar und widerspruchsvoll gefasste Aus- 
druck überhaupt einen Sinn haben soll. Ja eine Praxis 
des vormaligen preussischen Obertribunals, welche frei- 
lich bei der krassen Einseitigkeit dieser Sätze nicht 
konsequent war, nahm sogar an, dass alles, was eine 
Frauensperson von dem Manne, welchem sie den Bei- 
schlaf gestattet oder gestattet hat, annimmt, unter 
jenen Begriff fallt und dass es auch gleichgültig ist, 
ob die Belohnung vor oder während der Empfängniszeit 
von dem angeblichen Schwängerer oder von einem 
dritten gegeben wurde. Rechnet man noch dazu, dass 
es sich in solchen Fällen meistens um Mädchen aus 
den besitzlosen Klassen handelt, welche die Normen 
des Privatrechts in keiner Weise kennen und die des- 
halb auch die verhängnisvolle Bedeutung der ange- 
nommenen Gabe für steh und Ihr Kind nicht ermessen 



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80 



können, so entrollt sich tms das Bild einer sozialen 
Einseitigkeit, Vielehe kaum noch überboten werden 
kann. 

Die zweite Tatsache, welche nach dem Gesetz 
vom 24. April 1854 die Einrede der Bescholtenheit be- 
gründen soll, besteht darin, dass die Geschwängerte 
> wecken unzüchtigen Lebenswandels berüchtigt ist«. 
Auch diese Bestimmung ist fast ausschliesslich gegen 
die besitzlosen Volksklassen gerichtet. Denn fehlt es 
schon bei den wohlbewachten Frauen der höheren 
Stände nicht an übler Nachrede, so werden von den 
Mädchen der besitzlosen Volksklassen, welche sich 
ihren Unterhalt in der Welt verdienen müssen und 
deshalb tausendfältiger Verführung preisgegeben sind, 
nur wenige Tugendmuster solchen Gerüchten entgehen. 
Schon der Umstand aber, dass Gerüchte über unzüch- 
t^en Lebenswandel der Geschwängerten verbreitet 
sind oder waren, genügt, um die Mutter und das Kind 
aller Ansprüche ge^cn den Schwängerer zu berauben, 
auch wenn 1 atoachen, welche diesen Ruf begründen, 
in keiner Weise angegeben werden können. Natürlich 
benützen die von der Mutter oder dem Kinde in An- 
spruch genommenen Männer diese von der gegen- 
wärtigen Gesetzgebung (1889) gebotene Handhabe, um 
sich leichten Kaufes von einer beschwerlichen Ver- 
bindlichkeit zu befreien, und es fällt ihnen nicht schwer, 
in den der Mutter nahestehenden Kreisen üble Nach- 
reden in beliebiger Menge zu sauiuiclu, so dass die 
Schwängerungsprozesse, wie angesehene preussische 
Praktiker klagen, von Unflat und Gemeinheiten förm- 
lich triefen. 

Es ist unnötig, diese Darstellung fortzusetzen, da 




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8i 



die Wirkungen des Gesetzes sich schon aus dem Ge- 
sagten ergeben. Das Gesetz verlangt eben von den 
annen« ungebildeten und der Verführung in jeder Form 
preisgegebenen Mädchen der besitzlosen Volksklassen 
dasselbe Mass von Sittlichkeit, welches von den wohl- 
bewachten und im Luxus lebenden Mädchen der höhe- 
ren Stände mit Recht erwartet werden kann, und zwar 
lediglicii zu dem Zwecke, um den wohlhabenden Män- 
nern die Betätigung; des ^erinj^fsten Masses von Sitt- 
lichkeit und Menschlichkeit zu ersparen. Diese Ein- 
seitigkeit hat der bekannte Brüggemann während der 
Beratungen in der ersten Kammer, welche später zu 
dem Gesetz vom 24. April 1854 führten, in den folgten- 
den Worten gekennzeichnet. 

Es ist wahr, sagte der Redner, wenn der Hirt und 
die Herde weiss, dass der WoH" sie umschleicht, dann 
ist die Herde scheuer und der Hirt vorsichtiger. Ich 
habe aber noch nicht gehört, dass die Besitzer grosser 
Herden Scharen von Wölfen in die Nähe der Herden 
gebracht haben, um die Aufmerksamkeit der Hirten 
dadurch zu erhöhen, und wenn das Eigentum soi^- 
fältiger bewahrt wird, wenn man es räuberischen An- 
griffen ausgesetzt weiss, so wird doch niemand den 
Vorschlag machen, die Diebe frei und ungestraft zu 
lassen, damit das ICigentum gesicherter sei und sorg- 
fältiger bewacht werde. Wir befreien von allen Fesseln 
und steigern die Angriffslust des männlichen Ge- 
schlechts und zur Rechtfertigung sagen wir, damit der 
weibliche Teil um so vorsichtiger, um so sittlicher 
werde. 

XXIV. 

Neben der Bescholtenheit kann sich der Schwän- 

M e n g e r , Das bürgerl. Recht. 4. Aufl. 6 



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82 



gerer nach dem Gesetz vom 24. April 1854 gegen die 
Klage des Kindes auf Gewährung des Unterhalts auch 
damit verteidigen, dass die Geschwängerte 
während der Empfängniszeit mit meh- 
reren Mannspersonen denBeischlaf voll- 
zogen habe (die sog. exceptio plurium concumbentium 
oder constupratorumi. Ich will diesen Verteidigungs- 
grund, welchen man in deutschen juristischen Werken 
als die Einrede der mehreren Beischläfer bezeichnet, 
in der vorliegenden Abhandlung die Einrede der Un- 
treue während der Empfängniszeit nennen. 

Während der Entwurf eines deutschen bürgerlichen 
Gesetzbuchs der Bescholtenheit der Mutter keine auf- 
hebende Wirkung auf den Anspruch des Kindes ein- 
räumt, hat derselbe, wie aus den im vorigen Abschnitt 
miti^eteilten Auszü^^en hervorgeht, die Einrede der Un- 
treue allerdings zugelassen ^ Scheinbar ist diese Ein- 
rede besser in der Natur der Sache begründet als die 
Einrede der Bescholtenheit; in Wirklichkeit sollen aber 
durch beide Verteidigungsgründe die Interessen der 
besitzenden Volksklassen auf Kosten der Armen be- 
günstigt werden. 

Ziehen wir zunächst den sozialen Hintergrund der 
Einrede der Untreue in Betracht, da die juristischen 
K(>nsirul>:tiünen und Begründungen doch nur den Zweck 
haben, den Kechtsregeln, durch welche das Interesse 
bestimmter Volksgruppen seinen äusseren Ausdruck 
erhält, den Schein rechtlicher Konsequenz zu verleihen. 

Durch die Einrede der Untreue wird, wenn man 
alles juristische Beiwerk abstreift, an die Geschwängerte 

» g 17 17 BGB. 



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83 



der Anspruch gestellt, dass sie dem Manne, welcher 
mit ihr ein oder mehrere male den ausserehelichen 
Beischlaf vollzogen hat, während der Empfängniszeit 
(s. oben XXIII.) die Treue bewahren soll. Diese Treue 

kann man nun den Mädchen der besitzenden Klassen 
ohne Bedenken zumuten, da durch ihre gesellschaft- 
liche Stellung die Verführung zurückgehalten und et- 
waige sittliche Mängel durch eine sorgfältige Ueber- 
wachung unschädlich gemacht werden. Stellt man aber 
denselben Anspruch an Mädchen der besitzlosen Volks- 
klassen, so mutet man ihnen eine Willenskraft und 
eine sittliche Haltung zu, die natur^femäss nur einer 
bevorzuglcn Minderheit eigen sein kann. Denn sie 
müssen meistens in eincni Lebensalter, in welchem ihr 
Urteil noch nicht durch die Erfahrung gereift ist, ihren 
Lebensunterhalt ausserhalb des Elternhauses in der 
grossen Welt suchen, wo auf sie die Verführung in 
tausendfältigen Formen lauert. Betrachten doch die 
Armen mit vollem Recht nicht ihre dürftige Lebens- 
führung, sondern die Notwendigkeit, ihre Kinder in 
früher Jugend der Gefahr des physischen und mora- 
lischen Verderbens preiszugeben, als die bitterste Folge 
ihrer Armut. Eine Frage aber, welche, wie die uns- 
rige, vorzüglich die Frauen der besitzlosen Volksklassen 
betrifft, muss man vom Standpunkt dieser Volkskreise 
und der für sie geltenden sozialen Notwendigkeiten zu 
lösen versuchen. 

Noch augenfälliger wird die Ungerechtigkeit der 
Einrede der Untreue, wenn man annimmt (was ja im 
praktischen Leben die Regel bildet), dass die Unter- 
haltsklage von dem Kinde eines armen Mädchens gegen 
einen wohlhabenden Mann eingebracht wird. £s ist 

6* 



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84 

bekannt» dass die den besitzenden Klassen angehörigen 
Männer von ihren ausserehelichen Geschlechtsverhält- 
nisseh meistens eine grobsinnliche Auifassung haben 

und im unehelichen Beischlaf kaum mehr als ein vor- 
übergehendes Vergnügen erblicken. Andrerseits fehlt 
auf Seiten des Weibes in solchen Fällen vollständig 
die wirksamste Triebfeder zur Treue, nämlich die Aus- 
sicht auf die Ehe mit dem Manne, weil Ehen in den 
weitaus meisten Fällen nur zwischen Personen der näm- 
lichen Lebensstellung geschlossen werden. Wenn nun 
der Gesetzgeber verlangt, dass der eine Teil und zwar 
gerade das arme und ungebildete Mädchen ein solches 
Verhältnis als ein sittliches auffassen und dem anderen 
Beteiligten die Treue bewahren soll, so ist dies die 
krasseste Einseitigkeit Und doch stellen so viele Pri- 
vatrechte, darunter der deutsche Entwurf, an das Mäd- 
chen die Anforderung, dass sie dem Manne die Treue 
in weiterem Umfange zu bewahren hat, als eine in ge- 
setzlicher Ehe angetraute Ehegattin, wenn anders das 
Kind nicht durch Verweigerung des Unterhaltsanspni- 
ches dem Mangel und der Verkümmerung preisgege- 
ben werden soll. 

Denn, seltsam ^enug, die Einrede der Untreue gilt 
nach dem lüitwuii nur für die aussercheliche Ge- 
schlechtsgemeinsclialt, nicht für die legitime Ehe. Der 
Mann, welcher während der Empfängniszeit die Gunst 
seiner Ehegattin mit anderen geteilt hat, darf jene Ein- 
rede dem Kinde nicht entgegensetzen, sondern muss 
dasselbe als eheliches anerkennen und erhalten^. »Hat 
>der Ehemann seiner Ehefrau in der Empfängniszeit 



§ 1591 BGB. 



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85 



> beigewohnt, sagen die Motive, so ist, wenn man von 
»ganz seltenen und deshalb Iceine besondere BerÜck- 

»sichtigung verdienenden Fällen absieht, die Möglich- 
*keit, dass der Ehemann der Vater des Kindes ist, 
»auch dann nicht ausgeschlossen, wenn die Khclrau 
»sich des Ehebruches schuldig gemacht hat und zu- 
»gleich andere Indizien mehr oder weniger auf die Va- 
»terschaft eines Dritten hindeuten. Es ist aber als ein 
»geringeres Uebel und als ein geringeres Unrecht an- 
» zusehen, wenn ausnahmsweise ein wirklich uneheliches 
»Kind als Kind des PLhemannes, als wenn ein in Wirk- 
»lichkeit eheliches Kind als ein uneheliches Kind be- 
»handelt wirdf (Motive IV. S. 654). 

Ich frage nun jeden unbefangenen Beurteiler, ob 
man diese allgemeinen Redensarten nicht auch und 
zwar mit dem zehnfachen Gewichte für die unehelichen 
Kinder anführen kann? Denn das, was die Verfasser 
des Entwurfes zur Begründung des Unterschiedes zwi- 
schen den ehelichen und den unehelichen Kindern noch 
im weiteren Verlaufe der Motive (iV, 885) anführen: 
das Interesse der Würde der Ehe und der Erhaltung 
des Familienstandes, kann unmöglich ernst genommen 
werden. Die Würde einer Ehe, welche nachweisbar 
gebrochen worden ist und gegen welche das Gesetz 
in diesem Falle den Skandal einer Scheidung gestattet 
(§ 1441 d. E.) \ ist kaum mehr als eine sinnlose Phrase 
und die Voraussetzungen des Familienstandes ehelichci 
Kinder sollten, eben weil das Gesetz an dieselben für 
den Vater und die Verwandten so bedeutsame Rechts- 
folgen knüpft, nach aller Analogie mit doppelter Strenge 
behandelt w erden, 
1 1 1565 BGS. 



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86 



In Wirklichkeit sind auch hier die sozialen Macht- 
verhältnisse der entscheidende Grund. Denn für das 
von der Ehefrau geborene Kind sind in solchen zwei- 
felhaften Fällen seit jeher die Blutsverwandten dersel- 
ben eingetreten, die an gesellschaftlicher Lebensstellung 
dem Ehemann meistens gleichstehen und deshalb einen 
wirksamen Einfluss ausüben können, welcher bei den 
von dürftigen Frauenspei ^onen geborenen unehelichen 
Kindern gcfrenüber dem wohlhabenden Manne eben 
immer gefehlt hat. Daraus ist dann bei den Kömern 
der Satz: Pater est quem nuptiae demonstrant für die 
ehelichen und im deutschen Gerichtsgebrauch die ex- 
ceptio plurium constupratorum für die unehelichen Kin- 
der entstanden. 

Wenn man also das Privatrecht nicht lediglich vom 
Standpunkt der besitzenden Volksklassen betrachtet, 
so sollte gerade in der Ehe und in den dieser nahe- 
stehenden ausserehelichen Geschlechtsverhäitnissen die 
Einrede der Untreue in Ansehung der Kinder gewährt 
werden. Wenn zwei Personen von gleicher Lebens- 
^icUung, bei welchen die Aussicht auf eine Ehe nicht 
ausgeschlossen ist , in dauernder Geschlechtsgemein- 
schaft stehen , so kann m der Tat ohne Ungerechtig- 
keit Treue verlangt und die Einrede der Untreue zu- 
gelassen werden. Da sich jedoch die Voraussetzungen 
dieser Ausnahme schwerlich mit genügender Bestimmt« 
heit feststellen lassen , so entspricht es jedenfalls am 
besten den Anforderungen der Gerechtigkeit , wenn 
man die Einrede der Untreue gegenüber dem Unter- 
haltsanspruche des unehelichen Kindes überhaupt nicht 
gestattet. 

Diese sozialen Beziehungen unserer Frage erschei- 



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8/ 



nen mir ungleich wichtiger als die »juristischen« Gründe, 
welche die Motive für die Zulassung der Einrede der 
Untreue anführen. Im wesentlichen lassen sich diese 
dahin zusammenfassen , dass der Beischlaf mehrerer 
Männer während der Empiängniszeit die Vaterschaft 
unsicher macht, dass aber der Unterhaltsanspruch des 
Kindes nur an die wirkliche, ja notwendige Vaterschaft 
zu knüpfen sei. ^Es kann nicht zweifelliaft sein, sagen 
»die Motive, dass vom Standpunkt der juristischen Kon- 
> Sequenz aus die Tatsache , dass innerhalb der Em- 
»pfangniszeit die Mutter mit mehreren den Beischlaf 
»vollzogen hat, als erheblich erachtet werden muss. 
»Das die Grundlage der Unterhaltspflicht bildende na- 
»türhche Verhältnis zwischen dem Kinde und dem Kon- 
»kumbenten ist in einem solchen Falle nicht feststell- 
>bar und deshalb für das Recht nicht vorhanden« (Mo- 
tive IV, 885). 

Die sozialpolitische Seite unserer Frage habe ich 
bereits oben behandelt. Hier ist nur meine Aufgabe 
nachzuweisen, dass die »juristische Konsequenz« den 
Gesetzgeber niemals verhindert hat, ganz ähnliche Fälle 
in einem entgegengesetzten Sinne zu entscheiden, wenn 
nicht, wie hier, widersprechende Interessen der besitzen- 
den und besitzlosen Volksklassen, sondern allgemeine 
Interessen der körperlichen Sicherheit und des Ver- 
m^ens in Frage stehen. 

In unserem Falle haben mehrere eine unsittliche, 
ja rechtswidrige Handlung vollzogen und aus dieser 
ist ein von den Beteiligten nicht gewollter Erfolg her- 
vorgegangen, in Betreff dessen die Urheberschaft nicht 
festgestellt werden kann. Unsere Strafgesetzbücher tra- 
gen kein Bedenken, bei einer solchen Sachlage schwere 



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88 



Krinunalstrafen zu verhängen. Ist z. B. durch eine 
Schlägerei oder durch einen von mehreren gemachten 

Angrifif der Tod eines Menschen oder eine schwere 
Körperverletzung verursacht worden, so ist nach dem 
deutschen Strafgesetzbuch (§ 227) jeder, welcher sich 
an der Schlägerei oder dem Angriffe beteiligt hat, 
schon wegen dieser Beteiligung mit Gefängnis bis zu 
drei Jahren zu bestrafen, falls er nicht ohne sein Ver- 
schulden hereingezogen wird Micr argumentiert also 
der Gesetzgeber nicht wie bei dem unehelichen Bei- 
schlaf: Weil die Beteiligung an einer Schlägerei an 
sich nicht strafbar ist und der ursächliche Zusammen- 
hang zwischen dem erfolgten Tode oder der schweren 
Körperverletzung und einem bestimmten Täter nicht 
festgestellt werden kann , so müssen alle Beteiligten 
ohne Strafe davonkommen; sondern er bestimmt ganz 
vernünftig und sachgemäss , dass eben wegen dieser 
üogewissheit alle an der Schlägerei Beteiligten bestraft 
werden sollen. 

Aber noch mehr! Auch die Verfasser des Ent- 
wurfs sind weit entfernt, in ihrer »juristischen Konse- 
quenz« konsequent zu sein. Haben nämlich mehrere 
durch gemeinsames Handeln, sei es als Anstifter, Täter 
oder Gehilfen, einen Schaden verschuldet, so haften 
sie nach dem Entwurf (§714)^ als Gesamtschuldner. 
Das Gleiche gilt auch dann, wenn im Falle eines von 
mehreren verschuldeten Schadens von den mehreren 
nicht gemeinsam gehandelt wurde, der Anteil des ein- 
zelnen an dem Schaden aber nicht zu ermitteln ist. 
In diesem letzteren Falle lässt sich der ursächliche Zu- 



^ § 830, 840 BGB. 



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89 



sammenhang zwischen der Handlung des einzelnen und 
dem dadurch bewirkten Erfolg ebenso wenig hersteilen, 
wie bei dem unehelichen Beischlaf; vielmehr ist dort 
wie hier nur feststehend, dass alle Täter zusammen 
jedenfalls das Resultat hervorgebracht haben (vgl. die 
Motive II, 738). Da es sich jedoch bei solchen Ver- 
mögensbeschädigungen regelmässig um Interessen der 
besitzenden Klassen handeln wird, so tragen die Ver- 
fasser des Entwurfes nicht das mindeste Bedenken, 
alle Beteiligten und zwar als Gesamtschuldner für haft- 
bar zu erklären (§ 714 d. E.) ^ 

Die angetuhiten Beispiele werden wohl genügen, 
um jeden Unbefangenen zu überzeugen, dass es sich 
bei der Einrede der Untreue keineswegs um die Wah- 
rung der »juristischen Konsequenz«, sondern einfach 
um eine Begünstigung der Geschlechtsinteressen der 
besitzenden Volksklassen handelt Und zwar eines 
Teils derselben , der diese Begünstigung gewiss am 
wenigsten verdient. 

Schliesslich möchte ich noch auf eine mehr pro- 
zessuale, aber doch sehr wichtige Erage aufmerksam 
machen. Bisher musste in den meisten Ländern , in 
welchen die Einrede der Untreue zugelassen ist, das 
uneheliche Kind in dem Unterhaltsprozess nur die von 
dem Beklagten während der Empfängniszeit vollzogene 
Beiwohnung, der Beklagte dagegen den Beischlaf an- 
derer Männer während derselben Zeit nachweisen. Jetzt 
aber soll dem Kinde, wie aus der Fassung des § 1572 * 
des Entwurfs und aus den Motiven (IV, 869) unzwei- 
felhaft hervorgeht, überdies auch der Beweis aufgelegt 



» § 830, 840 BÜB. 



^ § 17x7 BGB. 



90 



werden , dass seine Mutter während der Empfängnis- 
zeit anderen Männern, als dem Beklagten, den Bei- 
schlaf nicht gestattet hat. Ich glaube, dass diese 
schmähliche und allen sonstigen Analogien widerspre* 

chcndc Beweisführung schon an und für sich die bes- 
seren unter den verführten Mädchen bestimmen wird, 
den Vormund des Kindes von der Einbringung der 
Unterhaltsklage abzuhalten und dessen Ernährung ganz 
auf die eigenen Schultern zu nehmen. In den Fällen 
aber, wo gleichwohl die Unterhaltsklage eingebracht 
werden sollte, wird der Beklagte gegenüber dem Be- 
weise des Kindes schon aus pirozessualischer Vorsicht 
alle Tatsachen und Indizien zusammenhäufen, aus wel- 
chen etwa die Untreue der Mutter hervorgehen kann 
und so wird in solchen Prozessen des Schmutzes und 
der Gemeinheit kern Ende sein. Freilich wird meistens 
von dem Gericht die OefTentlichkeit dieser Prozess Ver- 
handlungen ausgeschlossen werden ; aber die Kunde 
von so pikanten Rechtsstreiten wird nur allzu schnell 
durch die Zeugen und andere Beteiligte in den unteren 
Voiksklassen verbreitet. Ob es aber in unserer Zeit 
ratsam ist, solche Schmutzprozesse, bei welchen den 
besitzenden Klassen gerade keine beneidenswerte Rolle 
zugewiesen ist , durch die Gesetzgebung geradezu zu 
erzwuij^en, mag sich jeder selbst beantworten. 

XXV. 

Betrachten wir nun noch das Mass der An- 
sprüche, welche der Mutter und dem Kinde aus dem 
unehelichen Beischlaf gegenüber dem Manne zustehen. 

Schwerlich wird es ein Gesetz geben, welches in der 
Verkümmerung dieser Ansprüche weiter geht, als der 



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91 



deutsche P^ntwiirf. 

Was zunächst den Anspruch der Geschwäch- 
ten betrifft, so habe ich schon oben (XXI) dargelegt, 
dass der aussereheliche Beischlaf an sich, wenn er nicht 
zur Geburt eines Kindes geführt hat, für die Geschwächte 
gar keinen Anspruch begründet. Hat dieselbe aber 
ein Kind geboren, so ist der Vater des unehelichen 
Kindes verpflichtet, ihr innerhalb der Grenzen der Not- 
durft sowohl wecfen der Kosten der Entbindunq; als 
wegen der Kosten des Unterhalts während der ersten 
sechs Wochen nach der Geburt des Kindes Ersatz zu 
leisten (§ 1577 d. Entw.)^ Auf diese kümmerlichen 
Leistungen beschränkt sich der Anspruch der Ge- 
schwängerten selbst dann, wenn der Beischlaf unter 
dem Versprechen der Ehe stattgefunden hat, in wel- 
chem Falle das Preussische Landrecht der Geschwäch- 
ten, wenn keine Ehehindernisse vorhanden sind, die 
Rechte einer geschiedenen und für den unschuldigen 
Teil erklärten Ehefrau zuerkennt. Ja die Leistungen 
des Mannes erhöhen sich selbst dann nicht, wenn der 
aussereheliche Beischlaf nur durch ein Verbrechen oder 
durch eine andere strafbare Handlung möglich gewor- 
den ist. In allen diesen Fällen wird die Geschwängerte 
ausser den Entbind un^^skosten eine LniscliädiguiiL; nur 
dann ansprechen können, wenn sie einen wirklich er- 
littenen Vermögensschaden nachzuweisen vermag, was 
regelmässig nicht der Fall sein wird (§ 221 d. Entw. 
und Mot. II, 753)^' Nur bei einigen der schwersten 
Sittlichkeitsverbrechen, z. B. bei der Notzucht kann 
der geschwächten Frauensperson von dem Gericht auch 



» § I7'5 BGB. * § 253 BGB. 



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92 

ohne Nachweis eines Vermöo^ensschadens nach freiem 
Ermessen eine billige Geldentschädigui^ zugesprochen 
werden (§ 728 d. Entw. und § i;6, 177, 179, 182 des 
Reichsstrafg.) *. 

Was nun zweitens die Ansprüche des Kindes 
betrifft, so hat der Vater demselben in jedem Falle 
nur den notdürftigen Unterhalt und diesen nur bis zur 
Zurückl^[ung des vierzehnten Jahres zu gewähren 
(§ IS73 Entw.)*. Auf diesen notdürftigen Unter- 
halt beschränkt sich die Verpflichtung des unehelichen 
Vaters auch dann, wenn der aussereheliche Beischlaf 
unter dem Versprechen der Ehe erfolt^^t ist, in welchem 
Falle das Preussische Landrecht, wie bereits oben dar- 
gelegt wurde, dem Kind regelmässig alle Rechte der 
ehelichen Geburt zuerkennt. Ja, was man für unmög- 
lich halten sollte, was aber nach dem Entwürfe zwei- 
felloses Recht sein wird: selbst wenn der ausserehe- 
liche Beischlaf durch eine Notzucht oder durch ein 
anderes schweres Sittlichkeitsverbrechen herbeigeführt 
worden ist, behält es bei dem notdürftigen Unterhalt 
sein Bewenden. 

Man erwäge nun, in welche furchtbare Lage durch 
den Entwurf gerade die Besten unter den ärmeren 
Mädchen gegenüber reichen und vornehmen Wüst- 
lingen gebracht werden, die zur Befriedigung ihrer 
Lüste selbst vor einer Notzucht oder einem anderen 
Sittlichkeitsverbrechen nicht zurückscheuen. Denn leider 
ist es nur allzu wahr, dass meistens die schönsten und 
tugendhaftesten Mädchen der besitzlosen Volksklassen, 
welche das Verbrechen lohnen und nur durch ein Ver- 



* Vgl. § 847 Abs. 2 BGB. » Vgl. § 1708 BGB. 



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93 



brechen zu gewinnen sind, die Opfer dieser nichtswür- 
digen Attentate bilden, die der Natur der Sache nach 

viel häufiger begangen als in den Gerichten geahndet 
werden. Würde das bürgerliche Recht nach dein Muster 
des Preussischen Landrechts dafür Sorge tragen, dass 
in solchen Fällen der Mutter wie dem Kinde das Recht 
der Ehelichkeit zuerkannt und auf solche Weise die 
Ehre des Opfers tatsächlich wieder hergestellt wird, 
so würden derartige Sittlichkeitsverbrechen in den 
meisten Fällen von den Beteiligten zur Kenntnis der 
Gerichte gebracht und dadurch der Wiederholung der- 
selben am wirksamsten vorgebeugt werden. So aber, 
da nach dem Entwurf dem Opfer eines schimpflichen 
Verbrechens im besten Falle eine »billige Geldentschä- 
digung«, ihrem Kinde der »notdürftige Unterhalt« winkt, 
wird das iMädchen mit seinen Angehörigen es vernünf- 
tigerweise vorziehen, seine luitehrung geheim zu halten 
und durch Drohung mit der Kriminalklage von dem 
Manne etwas günstigere materielle Bedingungen zu er- 
zwingen. Statt dass also der Staat alle seine Kräfte 
aufbieten sollte, um die Ehre und die Interessen sol- 
cher unglücklichen Frauenspersonen in Schutz zu neh- 
men, werden diese, um nur eine mässigc Abfindung 
zu erlangen, sich auf eine Handlungsweise verlegen 
müssen, die von einer Erpressung nicht gar weit ent- 
fernt ist. Kann es unter solchen Umständen Jeman- 
den Wunder nehmen, dass die besitzlosen Volksklassen 
in diesen Gesetzesbestimmungen, welche ihnen fort- 
während durch einzelne krasse Fälle zum Bewusstsein 
gebracht werden, ein schweres Unrecht erblicken müssen! 

Aber auch wenn man von den Fällen absieht, in 
welchen die Schwängerung auf eine besonders rechts- 



94 



widrige oder unsittliche Weise erfolgt ist, erscheint es 
nicht als gerecht und zweckmässig, den Vater bloss 
zur Leistung des notdürftigen Unterhaltes zu verpflich- 
ten. Der notdürftige Unterhalt ist nämlich an allen 
Orten eine fest bestimmte Grösse, durch welche das 
geringe Einkommen des Armen viel härter getroffen 
wird als die grossen Einkünfte des Reichen. Jene Be- 
stimmung des Entwurfes ist daher gerade so eine un- 
gerechte Bevorzugung der Wohlhabenden und Reichen 
wie etwa eine gleiche Kopfsteuer auf dem Gebiete der 
Finanzgesetzgf^ Ininc; Nach dem Preussischcn Land- 
recht, welches m dieser Richtung noch heute (1889) in 
Geltung steht, ist der Unterhaltsanspruch zwar gleich- 
falls eine fixe Grösse, aber er richtet sich nach dem Be- 
trage, welchen die Erziehung eines ehelichen Kindes 
des Bauern- oder gemeinen Bürgerstandes kostet. Der 
Entwurf geht also in Beziehung auf das Mass des Un- 
terhahsanspruchs sogar noch weiter zurück als das 
preussische Gesetz vom 24. April 1854, wie derselbe 
denn überhaupt die einseitige Begünstigung der be- 
sitzenden Volksklassen in den meisten Punkten auf die 
Spitze getrieben hat. 

Am zweckmässigsten ist es jedenfalls, wenn der 
Lntcilialtsanspruch des unehelichen Kindes gar nicht 
als eine bestimmte Grösse behandelt wird, sondern sich 
nach dem Einkommen des Vaters richtet. In Deutsch- 
land wie in jedem grösseren Kulturstaat leben meh- 
rere Millionen unehelich geborener Personen, welche 
zu einem sehr beträchtlichen Teil von wohlhabenden 
Männern erzeugt worden sind. Der gesunde Sinn der 
besitzlosen V^olksklassen wird es niemals begreifen, 
dass der wohlhabende, ja vielleicht reiche Vater sein 



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95 



Kind durch Gewährung eines kargen Unterhalts in das 
Proletariat hmabstösst und es sich dadurch selbst für 
immer entfremdet. Der Staat hat gerade in unserer 
Zeit die unabweisbare Aufgabe, solche Missverhältnisse, 
die naturgemäss eine Quelle der schärfsten sozialen 
Gegensätze sind, zu verhindern und dafür Sorge zu 
tragen, dass der Vater, wenn es sein Einkommen zu- 
lässt, das uneheliche Kind in die höheren Stände des 
Volkes einordnet. 

In einem Falle möchte ich sogar über jenes durch 
das Einkommen des Vaters gegebene Mass hinaus^rehen 
und dem Kinde gegen den unehelichen Vater den 
Anspruch auf einen dem Stande dieses Letzteren ent- 
sprechenden Unterhalt zuerkennen. Wenn der Mann 
bei Erzeugung des unehelichen Kindes bereits ein Le- 
bensalter erreicht hat, in welchem eine Eheschliessung 
unwahrscheinlich ist, so kann man wohl annehmen, 
dass ihm die unehelichen Geschlechtsverhältnisse die 
Ehe ersetzen und ilm demgemäss zu dem seinem eii^e- 
nen Stande entsprechenden Unterhalt des Kindes ver- 
pflichten. Als eine solche Alt* f^c^ienze könnte man 
etwa das vierzigste Lebensjahr bezeichnen. Diese er- 
höhte Unterhaltsverpflichtung würde sich zugleich als 
eine der zweckmässigsten und humansten Zölibatsstrafen 
darstellen, welche sonst, wie ich wohl weiss, zahlreiche 
Bedenken gegen sich haben. 

XXVI. 

Ich kann diese Kritik der Gesetzesbestinunungen 
über die unehelichen Kinder nicht schliessen, ohne auch 
die prozessualeSeite unserer Frage in Betracht 
zu ziehen. Ich habe schon in einem früheren Abschnitt 



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96 



gezeigt, wie nachteilig sich unser Zivilverfahren für die 
Interessen der besitzlosen Volkskiassen erweist , weil 
in demselben regelmässig ein selbsttätiges Eingreifen 
des Richters ausgeschlossen ist Diese allgemeinen 
Gebrechen der bürgerlichen Rechtspflege lasten aber 
auf den Armen in I'^ällen wie der unsrige mit d(*[)pelter 
Schwere, weil die unehelich Geschwäny^erte mit ihrem 
Kind durch die Niederkunft meistens in einen völlig 
hilflosen Zustand versetzt wird. Hier, im Falle der 
dringendsten Not, wäre es also besonders ratsam, den 
Richter zu ermächtigen, nach einer summarischen Un- 
tersuchung den unehelichen Vater zur Leistung der 
Wochenbettkosten und des Unterhaltes noch vor Be- 
endigun«^' des Rechtsstreites auf Anerkennung der V' a- 
terschaft zu verpflichten. 

Bei der Ehe, wo sich regelmässig Personen von 
gleicher Lebensstellung gegenüberstehen, hat sich der 
Gesetzgeber auch gegen die Notwendigkeit einer be- 
sonderen Bestimmung für solche Fälle nicht verschlos- 
sen. Nach dem Entwurf (§ 1462)' kann die Ehegattin, 
welche auf Scheidung oder auf Trennung von Tisch 
und Bett klagt, den Anspruch erheben, da s sogleich 
nach Beginn des Rechtsstreites durch einstweilige Ver- 
fügung des Richters die Verbindlichkeit zur häuslichen 
Gemeinschaft aufgehoben und der Ehegatte zur Leistung 
des Unterhalts an sie und ihre Kinder verpflichtet 
werde. Die Ehegattin ist also keinen Augenblick ohne 
Unterhalt, da sie vor jener einstweiligen Verfügui^ des 
Richters das Haus ihres Ehegatten nicht verlassen 
darf, bis dahin aber den Unterhalt innerhalb der häus- 
lichen Gemeinschaft in Natur erhält. 

^ § 627 ZPO. V. 1898. 




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97 



In ähnlicher Weise hat auch das Preussische Land- 
recht (II, I, § 10 19 fg.) für die uneheliche Mutter und 

ihr Kind gesorgt, soweit dies bei der Verschiedenheit 
der Verhältnisse überhaupt möglich ist. Nach diesem 
Gesetzbuch konnte die Geschwängerte schon vor ihrer 
Niederkunft den unehelichen Vater auf Leistung der 
Entbindungskosten und einer sechswöchentlichen stan- 
desgemässen Verpflegung klagen. War die Schwanger- 
schaft ausgemittelt und der Beischlaf eingestanden oder 
einigermassen bescheinigt, so hatte der Richter durch 
ein vorläufiges Dekret die Summe dieser Kosten fest- 
zusetzen. Dadurch war der dringenden Not, welche 
bei unehelich Geschwängerten unmittelbar nach der 
Niederkunft einzutreten pflegt» wenigstens einigermassen 
vorgebeugt. 

Nach dem Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs 
kann zweifellos auf Zahluni::: des Unterhaltes und der 
Entbindungskosten erst nach der Niederkunft geklagt 
werden. >Es ergibt sich aus § 1571 ^ in Verbindung 
»mit § 3' des Entwurfs — sagen die Motive — dass 
»die Verpflichtung des unehelichen Vaters zur Gewäh- 
»rung des Unterhaltes mit der Geburt des Kindes, aber 
■>auch erst mit dieser zur Entstehung kommt. Es kann 
»daher vor Geburt des Kindes auf Leistung von Ali- 
>menten nicht geklagt, derjenige, welcher mit der 
»Mutter des Kindes den Beischlaf vollzogen hat, auch 
»nicht etwa im Wege einstweiliger Verfügung schon 
>vor der Geburt des Kindes zur Zahlung von Alimen- 
^tcn angehalten werden, um die dem Kinde vom Au- 
^genblick der Geburt an gebührenden Alimente zum 
»voraus zu sichern« (Mot. IV, 893). 
> § 1708 BGB. « § I BGB. 

Mengsr, Dai bOigerL Rächt. 4. Aofl. 7 



98 



Und nun vergleiche man, wie ähnliche Fragen 
von der deutschen Ziviiprozessordnung dann entschie- 
den werden, wenn es sich um die Vermdgens^Interessen 
der besitzenden Klassen handeh. Nach § 819^ der 
Zivilprozessordnung vom Jahre 1877 sind einstweilige 
Verfügungen auch zum Zwecke der Regelunj:^ eines 
einstweil i'cn^n Zustandes in bezug auf ein streitiges 
Rechtsverhältnis zulässig, sofern diese Regelung, insbe- 
sondere bei dauernden Rechtsverhältnissen, zur Ab- 
wendung wesentlicher Nachteile oder zur Verhinderung 
drohender Gewalt oder aus anderen Gründen notwen- 
dig erscheint. Ist afso z. B. der Besitzstand zwischen 
den Beteiligten streitig, so kann der Richter, auch wenn 
der Besitzprozess noch nicht anhängig ist, die ihm 
zweckmässig erscheinenden einstweiligen Verfügungen 
treffen. 

Hier aber, angesichts des dringendsten Bedürf- 
nisses, ja der bittersten Not soll der Richter vor der 
Niederkunft keine einstweilige Verfügung auf Zahlung 
der Alimente vom Tage der Geburt des Kindes er- 
lassen dürfen!* Dass durch eine solche ungerechtfer- 
tigte Ausnahmsbestimniun<4 die uneheHche Mutter und 
ihr Kind in den ersten Monaten nach der Niederkunft, 
bis ein Vormund des Kindes bestellt, ein unentgelt- 
ücher Rechtsanwalt erbeten und andere juristische Förm- 
lichkeiten erledigt sind, der grössten Not preisgegeben 
werden, braucht nicht näher auseinandergesetzt zu wer- 
den. Ueberdies lässt sich schon jetzt mit ziemlicher 
Bestimmtheit voraussagen, dass die Gerichte auch nach 
überreichter Vatcrschaitsklage die einstweilige Gewäh- 



* % 940 ZPO. V. 189S. « Vgl. § 17 16 BGB. 



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99 



rung von Alimenten an uneheliche Kinder ablehnen 
werden, und zwar mit gutem Grund, weil der Entwurf, 
der doch unzahlige Zitate anderer Paragraphen enthält, 
gerade in dem Abschnitt über die unehelichen Kinder 

eine Rückbeziehung auf den obenerwähnten § 1462 
unterlassen hat. Unter dieser Voraussetzung würde 
dann die uneheliche Mutter die Alimente für ihr Kind 
sogar erst nach Durchführung des Vaterschaftsprozesses 
(§ 648 Z. 6Z.P.O. vom J. 1877)% also meistens lange 
Zeit nach ihrer Niederkunft erhalten. 

Die durch Ausnahmsbestimmungen erschwerte 
Geltendmachung der kiimnici liehen Ansprüche, welche 
der Entwurf der Mutter und dem Kinde noch gelassen 
hat, wird zweifellos eine doppelte Konsequenz nach 
sich ziehen. Zunächst werden die Mädchen, welche 
unehelich geboren haben, sich wie bisher unter dem 
Drucke der bittersten Not zum Ammendienst drängen 
und das Ammenwesen mit seinen traurigen Ausartungen 
wird uns auf absehbare Zeit erhahen bleiben. Hievon 
ist schon in einem früheren Abschnitt (XVIII) die Rede 
gewesen. 

Dann wird aber zweitens jene Erschwerung der 
Rechtsverfolgung eine weitere VerkOnunerung der ohne- 
dies karg zugemessenen Rechte des unehelichen Kindes 

zur h olge haben. Nach dem Entwurf darf, soweit es 
sich um die ehelichen Kinder, die Ehegattin oder an- 
dere durch legitime Jthe vcrv/andte Personen handelt, 
auf den Unterhaltsanspruch für die Zukunft nicht ver- 
zichtet werden (§ 1495 d. Entw.)^ Diese Bestimmung 
wird in den Motiven (IV, 709) durch die sitdiche Grund- 



1 § 708 Z. 6 ZPO. V. 1898. » § 1614 BGB. 

• - » 



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lOO 



läge des Unterhaltsanspnichs und durch die Rücksicht 
auf das wegen der Armenpflege konkurrierende öffent- 
liche Interesse gerechtfertigt. 

Aber besteht nicht auch zwischen dem unehelichen 
Vater und seinem Kinde ein sittliches Band und ist 
bei diesem nicht viel wahrscheinlicher, dass es der 
öffentlichen Armenpflege zur Last fallen wird, sobald 
es einmal seinen Unter haltsan Spruch verloren hat? Und 
ist es nicht klar, dass dieser Anspruch für das unehe- 
liche Kind in seiner isolierten Stellung von unendlich 
grösserer Bedeutung ist, als für die ehelichen Ver- 
wandten, da es zu der Familie des Vaters gar keine 
rechtUche Beziehung hat und auch in der Familie der 
Mutter (§ 1 568 des Entw.) * meistens als ein Auswürf- 
ling betrachtet wird ? Dennoch wird aber von dem 
Entwurf (§ 1576)^ ein Vergleich zwischen dem Vater 
und dem unehelichen Kinde über die Unterhaltsver- 
pflichtun^ des ersteren ausdrücklich zugelassen. Der 
Grund dieser das Interesse des Kindes so sehr beein- 
trächtigenden Ausnahmsbestimmung kann nur darin 
liegen — und dieser Grund wird in den Motiven (IV, 
903, 904) verständlich genug angedeutet — ;- dass wohl- 
habende Männer sich gern durch eine' grössere Abfin- 
dungssumme von den Sünden ihrer Jugend ein für 
allemal loskaufen. Und so wird denn in den unzäh- 
ligen Fällen, wo das uneheliche Kind von einem wohl- 
habenden Manne crzeuj^t ist, das Schlimmste die Regel 
bilden, was von menschlichen Beziehungen überhaupt 
gesagt werden kann: die Mutter, durch ihre Nieder- 
kunft in Not gestürzt und durch die einseitigen Be- 



» § 1705 BGB. « § 1714 BGB. 



. • • . > 



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lOI 

Stimmungen des bürgerlichen Rechtes mürbe gemacht, 
wird sich allen Bedingungen fügen; der uneheliche 
Vater aber wird seinem Kinde ein Stück Geld hinwerfen 
und es für die Zukunft seinem Schicksal überlassen. 

xxm 

Indem ich nunmehr daran gehe, die in der obigen 
Darstellung gemachten Vorschlage kurz zusam- 
menzufassen, muss ich mir die Frage stellen, ob 
durch eine Verbesserung der Lage der unehelichen 
Mütter und Kinder nicht die Sittlichkeit geschädigt 
oder, wie sich die Motive geschmackvoll ausdrücken, 
»das Ueberhandnehmen der unehelichen Kinder« ge- 
fördert werden wird. Diese Frage ist entschieden zu 
verneinen. Privatrechtliche Gesetze werden bis zu einem 
gewissen Grade auf die besitzenden und gebildeten 
Stände einwirken; auf das Handeln der besitzlosen 
Volksklassen, welchen dieselben meist vollständig un- 
bekannt bleiben und die im besten Falle von ihnen 
eine unbestimmte Kunde erhalten , sind sie fast ohne 
jeden bestimmenden Einfluss. Die in juristischen und 
legislativen Schriften immer wiederkehrende Behaup- 
tung, dass man durch strenge Gesetze (gegen die 
Frauen!) die Widerstandskraft des weibhchen Ge- 
schlechts stählen müsse, ist eine leere Redensart, die 
überall durch die Tatsachen widerlegt wird. 

Denn der Prozentsatz der unehelichen Geburten 
war in der Rheinprovinz und in der angrenzenden Pro- 
vinz Westphalen selbst in der Zeit wenig verschieden, 
als in der ersteren der Art. 340 des französischen Zi- 
vilgesetzbuchs , in der letzteren die den unehelichen 
Kindern so überaus günstigen Bestimmungen des Preus- 



I02 



sischen Landrechts galten. Für die Jahre 1827 bis 
1831 wird beispielsweise angegeben, dass in der Rhein- 

pi ovinz 4 uneheliche, in Westphalen 4.93, in der Pro- 
vinz Posen (wo gleichfalls das Landrecht galt) 4.56 
uneheliche Geburten auf 100 eheliche kamen In 
Oesterreich, wo überall das den unehelichen Kindern 
ziemlich günstige bürgerliche Gesetzbuch seit mehreren 
Menschenaltem in Wirksamkeit steht, zeigt der Prozent- 
satz der unehelichen Kinder sehr bedeutende Verschie- 
denheiten, indem derselbe in Tirol und Vorarlberg im 
Jahre 1886 nur 5.57, in dem angrenzenden Kärnten 
aber nicht weniger als 45.61 auf 100 Geburten beträgt. 
Ja die Verfasser des preussischen Gesetzes vom 24. 
April i$$4, welche in den Verhandlungen des Land- 
tags fortwährend die Förderung der Sittlichkeit im 
Munde geführt hatten, mussten es erleben, dahs wenige 
Jahre nach eing^etretener Wirksamkeit des Gesetzes die 
Zahl der unehelichen Kinder sich sehr beträchtlich er- 
höhte*. Der Grund dieser Erscheinung, welche üb- 
rigens jeder Einsichtige voraussehen musste, besteht 
ohne Zweifel darin, dass die Manner der besitzenden 
Volksklassen, nachdem die Schranken des allgemeinen 
Landrechts gefallen waren , nunmehr ihre Eingriffe in 
das Geschlechtsleben der unteren Volksklassen ver- 
mehrten. 

Bei Feststellung der Rechte der unehelichen Kin- 
der handelt es sich also keineswegs um eine Frage der 

^ S. V. KrihRrel, die Pflicbten des imehelichen Vaters ntch den 
in DevUcMand geltenden Gesetzen im Arcbiy für dvilistische Pnuüs 
Bd. 50 (1867), S. 351. 

* Vgl. V. Fircks in der Zeiucbrift des preussisdien statistischen 
Bnreaus» 1878, S. 367. 



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103 



Sittlichkeit, sondern um eine Interessenfrage, die vor- 
züglich zwischen den besitzenden und besitzlosen Volks- 
klassen streitig ist. Die besitzlosen Volksklassen wer- 
den im allgemeinen richtig handeln , wenn sie jenen 
Rechtszustand anstreben, welcher im Preussischen Land- 
recht für das Verhältnis der unehelichen Kinder und 
ihrer Mütter festgestellt erscheint. Denn so rückschritt- 
lich und volksfeindlich ist unsere Privatrechtswissen- 
schaft im neunzehnten Jahrhundert unter dem Einfluss 
der historischen Schule geworden, dass schon die Wie- 
derherstellung der Bestimmungen des Landrechts, welche 
von einem absoluten Monarchen gegeben wurden und 
bis zum Sturze des absoluten Königtums fast unver- 
ändert in Geltung blieben, in unserer Zeit als ein er- 
strebenswertes Ziel erscheint. In folgenden Haupt- 
punkten bedarf der Entwurf eines deutschen bürger- 
lichen Gesetzbuchs einer Abänderung, wobei bemerkt 
sein mag, dass ich nur die prinzipiellen Fragen in Betracht 
ziehe und alle juristischen Einzelheiten bei Seite lasse : 

i) Wenn der aussereheliche Beischlaf durch Not- 
zucht oder ein almliches Sittlichkeitsverbrechen (welche 
einzeln anzugeben wären) herbeigeführt wird, so sind, 
falls kein undispensierbares Ehehindemis vorliegt, der 
Frauensperson die Rechte einer ohne ihr Verschulden 
geschiedenen Ehefrau, dem etwa geborenen Kinde die 
Rechte eines ehelichen Kindes zuzuerkennen. Da der 
Entwurf im Falle einer Scheidung die Wiederverehe- 
lichung des geschiedenen Ehegatten gestattet*, so hat 
jene Bestimmung auch dann Anwendung zu finden^ 
wenn derjenige, welcher das Sittlichkeitsverbrechen be- 



1 § 1309 BGB« 



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104 



gangen hat» bereits verheiratet ist- Ist ein Ehehinder- 
nis vorhanden, von welchem keine Dispensation zu- 
lässig ist (z. B. Blutsverwandtschaft in auf- und abstei- 
gender Linie) so ist der Frauensperson wenigstens die 
vermögensrechtliche Stellung einer ohne ihr Verschul- 
den geschiedenen Ehefrau, dem von ihr geborenen 
Kinde jene eines ehelichen Kindes zu gewähren. — 
Dieselben Rechtsfolgen haben für Mutter und Kind 
auch in dem Falle einzutreten, wenn die aussereheliche 
Schwängerung unter der Zusage einer künftigen Ehe 
erfolgt ist. 

2) Wer eine unbescholtene Frauensperson verführt» 
ist schuldig, ihr eine Abfindung zu bezahlen. 

3) Wer einer Frauensperson innerhalb der Em- 

pfangniszeit beiwohnt, hat der Geschwängerten die Ent- 
bindungskosten zu ersetzen und nach Massgabe seines 
Einkommens dem Kinde den Unterhalt zu gewähren. Die 
Einrede der Untreue (die sog. exceptio plurium concum- 
bentium) findet nicht statt. Mehrere Männer, die der 
Geschwängerten innerhalb der Empfängniszeit beige- 
wohnt haben, haften als Gesamtschuldner. 

4) Ist der uneheliche Vater ledigen Standes und 
hat er bei Erzeugung des Kindes das vierzigste Lebens- 
jahr bereits überschritten, so hat er dem Kinde den 
seinem eigenen Stande entsprechenden Unterhalt zu 
gewähren. 

5) Steht die Schwangerschaft fest und wird die 

Vollziehung des Beischlafs innerhalb der Empföngnis- 
zeit bescheinigt, so kann die Geschwängerte bei dem 
Gericht auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung 
antragen, durch welche der Schwängerer verpflichtet 
wird, sofort nach der Geburt des Kindes an die Mutter 



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I05 

die Entbtndimgskosten und den Unterhaltsbeitrag für 
drei Monate zu bezahlen. 



Das deutsche bürgerliche Gesetzbuch hat die i ück- 
ständigen und parteiischen ßcstimmunj^cn des Entwurfs 
in allen wesentlichen Punkten festgehalten. Nur kann 
jetzt eine geschwächte Frauensperson nicht bloss im 
Falle der Notzucht und anderer schweren Sittlichkeits- 
Yerbrechen(S. 91, 92), sondern auch in allen Fällen eine 
billige Entschädigung in Geld verlanr^cn, wo gegen sie 
ein Verbrechen oder ein VcigclK n i^c^cn die Sittlich- 
keit begangen oder sie durch Hinterlist, Drohung oder 
unter Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses zur 
Gestattung der ausserehelichen Beiwohnung bestimmt 
worden ist. Femer gebührt dem Kinde nicht bloss 
der notdürftige Unterhalt bis zum zurückgelegten vier- 
zehnten Jahr (S. 92), sondern der der Lebensstellung 
der Mutter entsprechende Unterhalt bis zum sechs- 
zehnten Lebensjahr. Endlich braucht die Mutter mit 
dem Anspruch auf Zahlung der Entbindungskosten und 
der Alimente nicht bis zur Geburt des Kindes zu warten 
(S. 95 folg.), sondern kann diese Forderungen schon 
früher durch eine einstweilige Verfügung des Richters 
durchsetzen 847 Abs. 2, 1708, 1716 BGB.). 

Dagegen hat der Vorentwurf eines Zivilgesetzbuchs 
für die Schweiz, wie von einem so demokratischen Ge- 
meinwesen nicht anders zu erwarten war, sich die hier 
dargelegten Grundsätze im wesentlichen angeeignet. Ich 
hebe nur die folgenden drei Punkte w^en ihrer be- 
sonderen Wichtigkeit hervor: 

i) Wenn der uneheliche Vater der Mutter die Ehe 
versprochen oder sich mit der Beiwohnung an ihr eines 



io6 



Verbrechens oder eines Missbrauchs der ihm über^sie 
zustehenden Gewalt schuldig gemacht hat, so kann ihm 
das uneheliche Kind vom Gericht mit Standesfolge 
zugesprochen werden. Dies hat die Wirkung, dass 
das Kind den Familiennamen und die Heimatsange- 
hörigkeit des unehelichen Vaters erhält und dass ihm 
im P'alle der gesetzlichen Erbfolge näch dem Vater und 
den väterlichen Verwandten die Hälfte des den ehe- 
lichen Kindern zufallenden Nachlasses gebührt. (Vgl. 
den Vorentwurf Art. 347, 351, 488 und oben S. 75, 76.) 

2) Die Einrede der Untreue ist von dem Schwei- 
zer Vorentwurf nicht aufgenommen, vielmehr ist die 
Unterhaltsklage des Kindes nur dann abzuweisen, wenn 
die uneheliche Mutter zur Zeit der Empfängnis einen 
unzüchtigen Lebenswandel geführt hat. Dieser Vor- 
wurf wird aber gegen die Mutter durch die Bei- 
wohnnng mehrerer Männer während der Empfängnis- 
zeit an sich noch nicht begründet. (Vgl. den Vor- 
entwurf Art. 349 und dazu die Mot I, 250, femer oben 
S. 8o» 81 folg.) 

3) Der Unterhaltsanspruch des unehelichen Kindes 
ist nicht bloss nach den Verhältnissen der Mutter, son- 
dern auch unter Berücksichtigung des Vermögens und 
der Anwartschaften des Vaters festzusetzen. (Vgl. 
Vorentw. Art. 345 und oben S. 94. 95). 

Auch manche andere Bestimmungen des Schwei- 
zer Vorentwiirfs zeigen deutlich, das seine Verfasser 
das Geschlechtsleben der unteren Volksklassen keines- 
wegs als einen Tummelplatz für die Gelüste der Reichen 
und Vornehmen betrachten, sondern seüie Reinheit und 
Unantastbarkeit mit allen privatrechtlichen Mitteln zu 
schützen suchen. 




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107 



xxvm. 

Das letzte Rechtsinstitut, welches in dem Familien- 
recht des deutschen Entwurfs seine Normierung erhält, 
ist die Vormundschaft. Die Sorge für minder- 
jährige Kinder — denn auf diesen wichtigsten Fall 
kann ich mich hier beschränken — liegt in erster Reihe 
den Eltern und in deren Ermangelung dem Vormunde 
ob. Sowohl die Eltern als auch der Vormund werden 
aber bei dieser Tätigkeit durch den Staat geleitet und 
beaufsichtigt, der sich hierbei der Gerichte als seiner 
Organe bedient. 

Fragen wir aber nach dem allgemeinen Charakter 
dieser staatlichen Fürsorge für die minderjährigen Kin- 
der, so lässt sich diese Frage einfach dahin beant- 
worten, dass die obervormundschaftliche Tätigkeit der 
Gerichte im wesentlichen nur den Angehörigen der 
besitzenden Klassen zu gute kommt. Die minderjäh- 
rigen Kinder der Armen, obgleich sie des staatlichen 
Schutzes naturgemäss am meisten bedürfen, sind von 
demselben durch Gesetz und Praxis fast vollständig 
ausgeschlossen. Auch nach dem Entwurf soll das Vor- 
mundschaftsgericht das bleiben, was es bisher gewesen 
ist! eine Behörde, die vorherrschend die Bestimmung 
hat, die Verwaltung des Vermögens der wohlhabenden 
Kinder zu beaufsichtigen und in einzelnen Ausnahms- 
fällen (z. B. § 1683 d. Entw.)^ sogar selbst zu führen. 

In dieser Richtung hat nun freilich der Entwurf 
die grösste Sorgfalt entwickelt. Im allgemeinen sollen 
zwar die Eltern und die Vormünder das Recht haben, 
die Verwaltung des Vermögens der minderjährigen 



' § 1S4Ö BGB. 



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loS 

Kinder selbständig zu führen ; die übermässige Bevor- 
mundung beider durch das Gericht, die wir in manchen 
Rechtssystemen wahrnehmen können, soll nach dem 
deutschen Gesetzbuch nicht mehr stattfinden. Aber 
selbst die Ehern müssen bei allen wichtigeren Ver- 
fügungen über das Vermögen des Kindes die Genehmi- 
gung des Vormiindschaftsgcriclits einholen, und dieses 
hat die Verpflichtung, wenn die Eltern bei der Ver- 
mögensverwaltung ihre Pflichten verletzen und dadurch 
die Rechte des Kindes erheblich gefährden, die zur 
Abwendung der Gefahr erforderlichen Massregeln nach 
seinem freien Ermessen zu treffen (§ 1544, 1547 d. 
Entw.) ^. Noch viel weiter £^cht, wie auch ganz natür- 
lich ist, die staathche Fürsorge bei einem blossen Vor- 
munde, welchen der Entwurf — trotz der grundsätzlich 
anerkannten Selbständigkeit seiner Verwaltung — einer 
Unzahl von KontroUmassregeln unterwirft, deren Dar- 
legung hier zu weit fuhren würde (vgl. § 1687 u. ff. 
d. Entw.) ®. Sind bei der Verwaltung des Vermögcuis 
Pflichtverletzungen vorgekommen, so haften die Eltern, 
der Vormund und sogar das Vormundschaftsgericht dem 
Kinde fiir den dadurch entstandenen Schaden (§ 1503, 
1696, 1702)*. 

Gegen diese Sorgfalt, mit welcher die Vermögens- 
interessen der wohlhabenden Kinder wahrgenommen 
werden, ist natürlich an sich nichts einzuwenden. Wie 
verhält sich aber der Entwurf zu den Interessen jener 
minderjährigen Kinder, welche den besitzlosen Volks- 
klassen angehören? Das einzige Besitztum diuftiger 
Kinder ist ihre Arbeitskraft, deren richtige Verwendung 

« § 1665. 1667 BGB. 2 § 1840 flF. BGB. » § 1664, ii>33, 
1848 BGB. 



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109 



nicht nur für ihre wirtschaftliche Zukunit, sondern auch 
für ihre körperliche und sittliche Entwicklung von 
entscheidender Bedeutung ist. MissgrifTc in dieser Rich- 
tung beeinträchtigen das Wohl des dürftigen Kindes 
ungleich mehr als bei wohlhabenden Kindern jemals 
durch eine mangelhafte Verwaltung ihres Vermögens 
geschehen kann. Man sollte deshalb erwarten, dass 
der Entwurf Bestimmungen enthalten wird, durch welche 
die Dienst- und Arbeitsverträge minderjähriger Per- 
sonen , welche vorzüglich bei den besitzlosen Volks- 
klassen vorkommen, der schärfsten Kontrolle der Eltern, 
des Vormundes und namentlich des Vormundschafts- 
gerichtes unterstellt werden. 

In Wirklichkeit ist aber das gerade Gegenteil der 
Fall. Nach dem Entwurf (§ 68) ^ bedarf nämlich ein 
Minderjähriger, welchem die Eltern oder der Vormund 
gestattet haben, in Dienst oder Arbeit zu treten, nicht 
ihrer Einwilligung, um Dienst- oder Arbeitsverhältnisse 
der gestatteteji Art einzugehen oder dieselben wieder 
aufzulösen, und die für einen einzelnen Fall gegebene 
Ermächtigung gilt im Zweifel als allgemeine Ermächti- 
gung zur Eingehung eines Verhältnisses derselben Art. 
Ja selbst wenn das Dienst- oder Arbeitsverhältnis, wel- 
ches der Minderjährige kraft dieser gesetzlichen Be- 
stimmungen eingegangen ist, die Gesundheit, die Sitt- 
lichkeit oder den guten Ruf desselben gefährdet, dürfen 
die Eltern oder der Vormund die sofortige Auflösung 
nicht verlangen, sofern der Arbeitgeber die Fortsetzung 
des Verhältnisses beansprucht (Mot. I, 145). 

Der Rechtszustand, welchen der Entvnirf im An- 



> § U3 BGB. 



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110 



scbluss an die bisherige Gesetzgebung und Praxis an- 
strebt, ist somit sehr klar. Das Vormundschaftsgericht 
soll mit den Dienst- und Arbeitsverträgen Minderjäh- 
riger (welche Kategorie nach dem Entwurf alle jugend- 
lichen Personen vom zurückgelegten siebenten bis zum 
zurückgelegten einundzwanzigsten Lebensjahr umfasst) 
überhaupt nichts zu schaffen haben*. Da Dienstverhält- 
nisse in so jugendlichem Alter als Massenerschetnung 
nur bei den besitzlosen Volksklassen vorkommen, hier 
aber das wichtigste ökonomische Interesse der Minder- 
jährigen repräsentieren, so ist eine obervormundschaft- 
liche Fürsorge für die dürftigen Minderjäiurigen eigent- 
lich überhaupt nicht vorhanden. Aber auch die Ver- 
antwortlichkeit der Eltern und Vormünder ist im ge- 
wöhnlichen Lauf der Dinge auf das äusserste einge- 
schränkt, da sie den Minderjährigen, wenn sie ihm ein- 
mal ihre Einwilligung zur Emgehung eines Dienstver- 
hältnisses gegeben haben, ohne Pflichtverletzung seinem 
Schicksal überlassen können. Kurz, nach dem Entwurf, 
welcher im wesentlichen der bisherigen Praxis folgt 
(Mot. I, 144), ist für das körperliche und sittliche Wohl 
der IM 11:1 ü erjährigen aus den besitzlosen Volksklassen 
gerade in den wichtigsten Beziehungen eigentlich nie- 
mand verantwortlich. 

Diese Darstellung gibt uns nun den Schlüssel zu 
manchen wichtigen Erscheinungen, die man sonst nie- 
mals würde begreifen können. Als die Fabrikindustrie 
in den europäischen Kulturländern eingeführt wurde, 
schickten gewissenlose Eltern und Vormünder überall 
Hunderttausende von jugendlichen Personen, zum Teü 



' Vgl. § 1833 Z. 6. 7 BGB. 



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III 

im zartesten Alter, in die Fabriken, wo dieselben durch 

Ueberarbeitung, durch Mangel an Licht und Luft und 
durch andere Schädlichkeiten dem physischen Verder- 
ben pn. i>i;egcben wurden. Es handelte sich bei diesen 
Tatsachen, weiche jedenfalls eines der schwärzesten 
Blätter in der Geschichte menschlicher Selbstsucht bil- 
den, nicht um vereinzelte Ausnahmsfälle, sondern um 
Massenerscheinungen, die der Aufmerksamkeit der 
staatlichen Organe unmöglich entgehen konnten. Tat- 
sächlich hat auch die Gesetzgebung der meisten Kul- 
turstaaten , darunter auch die deutsche Gewerbeord- 
nung, Massregehi getroffen, durch welche dem Miss- 
brauch der jugendlichen Personen in den fabrilcmässi- 
gen Betrieben gesteuert wird, während die land- und 
forstwirtschaftlichen, femer die nicht fabrikmässigen 
Gewerbebetriebe dermalen auch dieser Fürsorge noch 
entbehren. 

Gewöhnlich pflegt man diese traurigen Erschei- 
nungen bloss vom wirtscliaitUchen und sozialen Stand- 
punkte aus zu betrachten. Aber der Jurist muss un- 
willkürlich fragen: Wo waren die Vormundschaftsge- 
richte, als ganze Generationen von jugendlichen Per- 
sonen, welche unter ihrem besonderen Schutze standen, 
in den Fabriken dem Ruin entgegengeführt wurden? 
Und was tun die Gerichte noch gegenwärtig, wenn 
solche jugendliche Personen in den nicht fabrikmässigen 
Betrieben ähnlichen Gctahren ausgesetzt werden? Die 
obige Darstellung gibt die Antwort auf alle diese Fra- 
gen: Die Kinder der Armen waren seit jeher von der 
obervormundschaftlichen Fürsorge des Staates gerade 
in den entscheidenden Richtungen fast vollständig aus- 
geschlossen. 



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112 



Freilich finden sich in dem Entwürfe (vs^l. z. B. 
§§ 1504, 1655, 1725)^ und in zahlreichen Verwaltungs- 
gesetssen Bestimmungen, welche die staatlichen Organe 
ermahnen» über das persönliche Wohl der jugendlichen 
Arbeiter zu wachen. Aber es ist klar, dass solche 
allgemeine Redensarten dem Minderjährigen angesichts 
der klaren und präzisen Bestimmungen des § 68^ des 
Entwurfs nur wenig nützen können. Soll den Kindern 
der Armen wirklich geholfen werden, so bedarf es einer 
individuellen Kontrolle, einer individuellen Verantwort- 
lichkeit Eine solche kann aber nur dadurch geschaffen 
werden, dass man die wichtigsten wirtschaftlichen In- 
teressen der dürftigen Minderjährigen gerade so unter 
den unmittelbaren Schutz der Vormundschaftsgerichte 
stellt, wie dies in Ansehung der Kinder aus den be- 
sitzenden Volksklasscn seit jeher der Fall gewesen ist. 
Allerdings wird dadurch die freie ökonomische Bewe^ 
gung der jt^endlichen Arbeiter einige Einschränkungen 
erleiden ; dafür aber werden wohlwollende und umsich- 
tige Vormund Schaftsrichter, die ja doch in grosser Zahl 
vorhanden sind, die Gelegenheit erhalten, für die kör- 
perliche und sittliche Wohlfahrt der Armen m der ent- 
scheidendsten Epoche ihres Lebens einzutreten. Und 
wenn die Arbeitslast der Vormundschaftsgerichte durch 
diese Massregeln beträchtlich gesteigert wird, so mögen 
die besitzenden Volksklassen nicht vergessen, dass eine 
solche väterhche Sorge für die Aermsten und Schwäch- 
sten der bürgerlichen Gesellschaft wie kaum eine an- 
dere Einrichtung geeignet ist, den furchtbaren Gegen- 
satz zwischen Reich und Arm zu mildem. 



> % 1631, 1800, 1850 BGB. * § 113 BGB. 



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113 



Vor allem wäre also der § 68 des Entwurfs * ein- 
fach zu streichen. Gerade so wie der vorhergehende 

Paragraph (§ 67)* im Interesse der besitzenden Klassen 
vorschreibt, dass ein Minderjähriger zum Betriebe eines 
Erwerbsgeschäfts der Genehmigung des gesetzlichen 
Vertreters (der Eltern oder des Vormundes) sowie auch 
des Vormundschaftsgericbtes bedarf, so sollten die 
Dienstverhältnisse der dürftigen Minderjährigen gleich- 
falls nicht ohne Zustimmung beider abgeschlossen wer- 
den*. Ja, wenn in unserem Rechtssystem nicht die 
gesellschaftlichen Machtverhältnisse unter den einzelnen 
Bevölkerungsklassen, sondern wirkHch die Zweckmäs- 
sigkeit entscheiden würde, so mii stc diese Verantwort- 
lichkeit, gerade weil es sich um die ärmsten und hilf- 
losesten Mitglieder der Gesellschaft handelt, juristisch 
so hoch als möglich gesteigert werden. 

Mit diesen Bemerkungen mag meine Bes|M^chung 
des Familienrechts des deutschen Entwurfs geschlossen 
werden. Ich habe mich dabei auf eine Kritik jener 
Rechtsregeln und Rechtsinstitutc beschränkt , durch 
welche weite Kreise innerhalb der besitzlosen Volks- 
klassen in ihren wichtigsten Lebensinteressen benach- 
teiligt werden; eine Kritik aller einseitigen Detailbe- 
stimmungen des Entwurfs würde Bände füllen. Aber 
auch so glaube ich erwiesen zu haben, dass das Fa- 
milienrecht des Entwurfs, obgleich dieser Teil des 
Privatrechts mit der Eigentumsordnung in gar keinem 
unmittelbaren Zusamnu nhange steht, doch überall vom 
Standpunkt der besitzenden Volksklassen aus gedacht 
und ausgebildet ist. 

1 I 113 BGB. * § 112 BGB. » Vgl, § 1822 Z. 6, 7 BGB. 
Menger, Das bllzgerL Re<Jit. 4. Aufl. 8 



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114 



Dritte Abteilung. 

Das Sachenrecht des Entwurfs eines bürgerlichen 
Gesetzbuchs für das deutsche Reich« 

XXIX. 

Indem ich nunmehr dazu übergehe, das Sachen- 
recht des Entwurfs eines deutschen bürgerlichen Ge- 
setzbuchs der Kritik zu unterziehen, sei zuvörderst dar- 
an erinnert, dass ich oben (T. und IL) die Geltung des 
Privateigentums in seiner überHcferten Gestalt als eine 
unanfechtbare Voraussetzung hingestellt und dadurch 
meiner Aufgabe selbst die engsten Grenzen gesteckt 
habe. In Wirklichkeit ist nämlich das Sachenrecht, 
wie es uns der deutsche Entwurf nach dem Muster 
anderer Gesetzbücher bietet, nichts als eine vollstän- 
dige Entfaltung des Privateigentums. Denn der Be- 
sitz und die Inhabung verfolgen lediglich den Zweck, 
das Eigentum in seiner praktischen Wirksamkeit zu 
ergänzen, und durch die Dienstbarkeiten und das Pfand- 
recht sollen aus dem Inhalt des Privateigentums ein- 
zelne Bestandteile losgelöst und zu besonderen Rech- 
ten gestaltet werden. Durch die Gegensätze, welche 
gleichwohl auch auf dem Gebiete des Sachenrechts 
vorkommen, werden daher im wesentlichen nur die Be- 
sitzenden berührt, nicht die besitzlosen Voikskiassen, 




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"5 



die durch jedes auf dem Privateigentum beruhende 
Sachenrecht von dem Besitze gleichmässig ausge- 
schlossen werden. Es kann deshalb meine Absicht 

nicht S6in, eine umfassende Kritik des im Entwurf ge- 
botenen Sachenrechts zu liefern; nur wenige fragmen- 
tarische Bemerkungen über einzelne vom sozialen Stand- 
punkt besonders wichtige Fragen können an dieser 
Stelle Raum finden. 

Fragen wir nun noch zuvor nach dem allge- 
meinen Charakter des Sachenrechts, wie es uns 
das dritte Buch des Entwurfs darbietet, so können wir 
überall eine innere Abschwächung und Zersetzung der 
Eigentumsordnung wahrnehmen. Diese zeigt sich zu- 
nächst in der den ganzen Entwurf beherrschenden 
Tendenz, die Eigentumsordnung von ihren wirtschaft- 
lichen Grundlagen loszureissen und als eine blosse 
Machtfrage zu behandeln (XXX). Freilich war das 
Sachenrecht im wesentlichen niemals etwas anderes als 
ein Inbegriff von Machtverhältnissen, und die Bestre- 
bungen der Juristen und der Rcchtsphilosophen , das 
Eigentum auf die Arbeit oder andere wirtschaftliche 
Vorgänge zu gründen, waren deshalb von vornherein 
zur Unfruchtbarkeit verurteilt. Aber niemals ist ein 
Gesetzbuch erschienen, in welchem die besitzenden 
Klassen so unumwunden, wie jetzt im deutschen Ent- 
wurf geschehen ist, auf jeden Zusammenhang des Pri- 
vateigentums mit dem wirtschaftlichen Leben der Na- 
tion Verzicht leisten und sich damit begnügen, das 
Schwert der Gewalt in die Wa^schale zu werfen. Je 
mehr aber die Wurzeln, welche die Eigentumsordnung 
mit dem gesamten Volksleben verbinden, von dem Ge- 
setzgeber zerschnitten werden, desto sicherer muss die 

8* 



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ii6 

Geltung des Eigentums in dem Rechtsbewusstsein der 
Nation erschüttert werden. 

Aber auch was die nähere .\usgestaltung des 
Sachenrechts betrifft — und dirs ist der zweite Punkt 
— so ist eine Schwächung der Eigentumsordnung nicht 
zu verkennen. Der Grundsatz der Unverletzlichkeit 
und der Unbescfaränktheit des Privateigentums ist heute 
kaum mehr als eine Fiktion, die innerhalb des Kreises 
der Besitzenden nur auf eine sehr beschränkte Geltung 
Anspruch machen kann und überall von den weitest- 
gehenden Zweckmässigkeitsgründen durchkreuzt und 
zurückgedrängt wird. Eine vollständige Ausführung 
dieses Gedankens würde freilich eine umfassende Kritik 
des gesamten Sachenrechts notwendig machen ; an die- 
ser Stelle will ich bloss zwei der wichtigsten Punkte 
(XXXI. und XXXII.) hervorheben. Nur dort, wo sich 
die Eigentumsordnung vorherrschend gegen die besitz- 
losen Volksklassen richtet, nämlich bei dem Besitz und 
der Inhabung, ist in dem Entwurf sogar eine Zuspitzung 
und Verschärfung des Eigentumsbegriffes wahrzuneh- 
men (XXXUI.). 

Es wäre eine Ungerechtigkeit, diese innere Ab- 
schwächung und Z( rsctzung der Eigentumsordnung le- 
diglich den Vei lassern des Entwurfs zur Last zu legen. 
Vielmehr sind manche Gedanken, welche diesem Pro- 
zess zu Grunde liegen, uralt und fast alle haben sich 
lange Zeit vor der Verfassung des bürgerlichen Gesetz- 
buchs in der Gesetzgebung und in der Rechtswissen- 
schaft entwickelt. Aber statt der fortschreitenden Selbst- 
verneinung des Privateigentums entgegenzutreten, wie 
es in der Konsequenz ihres rein privatrechtlichen Stand- 
punktes lag, haben die Verfasser jene Gedanken in 



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Ii; 

ihrem Entwürfe bis zur äussersten Schärfe und Schroff- 
heit ausgebildet, wobei überall die Sicheriuig des 
Rechtsverkehrs und die leichte Handhabung des Ge- 
setzbuchs in der Praxis ihr leitender Gesichtspunkt war. 
Man kann deshalb mit gutem Grunde behaupten, dass 
die Verfasser des Entwurfs zu einer Zeit, wo die ge- 
samte Eigentumsordnung schwankt und erzittert wie 
ein Schiff in der sturmbewegten See, gleichwohl bei 
der Entwerfiin<^ des Sachenrechts kaum ein höheres 
Ziel verfolgt haben als die Erleichterung des Güter- 
umlaufes und die Bequemlichkeit des juristischen Hand- 
werks. 

XXX. 

Die ungeheure Mehrzahl aller Vermögensobjekte 
befindet sich gegenwärtig in dem Eigentum einzelner 
Personen und kann regelmässig nur durch Vertrag mit 
dem bisherigen Eigentümer erworben werden. Vom 
Standpunkt der sozialen Massenwirkungen kommt fast 
ausschliesslich diese vertragsmässige Erwerbung des 
Eigentums in Betracht, während die anderen Erwerbs- 
arten gar sehr in den Hintergrund treten. Auch die 
übrigen dinglichen Rechte werden in der überwiegen- 
den Anzahl von Fällen durch Vertrag begründet und 
aufgehoben. 

Diese vertragsmässige Uebertragung des 1 Eigen- 
tums — denn nur von diesem wichtigsten aller Rechte 
will ich der Kürze wegen hier sprechen — kann aber 
auf eine doppelte Weise gestaltet werden. Zuvörderst 
so, dass zur Eigentumsübertragut^ nicht nur ein dar- 
auf gerichteter Vertrag des Eigentümers und des Er- 
werbers (Uebergabc, Auflassung), sondern auch ein 



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IIS 

wirtschaftlicher oder juristischer Grund vorhanden sein 

muss, welcher diese Uebcrtiagung des Eigentums recht- 
fertigt. Hier genügt es also nicht, dass mir der Eigen- 
tümer eine bewegliche Sache in mein Eigentum über- 
gibt, sondern er muss sie mir auch verkauft, vertauscht, 
geschenkt oder an Zahlungsstatt überlassen haben. Die 
Juristen pflegen diese Auffassung so auszudrücken, 
dass zur Erwerbung des Eigentums einerseits ein Titel 
(eben jener wirtschaftliche oder juristische Grund) und 
andererseits eine Erwerbungsart (z. B. die Uebergabe 
der beweghchen Sache) erforderlich ist. Nach dieser 
Ansicht, welche vielfach weit über die Grenzen des 
vertragsmässigen Eigentumserwerbs au^edehnt wurde, 
steht das wirtschaftliche Leben mit dem Eigentum in 
einem engen Zusammenhang. Die Gütervcrtcilung, 
wie sie durch das Privateigentum und die übrigen 
dinglichen Rechte hervorgebracht wird, ist darnach nur 
das letzte Resultat, welches das freie Spiel der wirt- 
schaftlichen Kräfte hervorbringt 

Die Lehre, dass zum Erwerbe des Eigentums neben 
der Erwerbungsart auch noch ein Titel notwendig sei, 
lässt sich in eine sehr frühe Zeit verfolgen. Von den 
neueren Gesetzbüchern ist namentlich das Ailgememe 
Preussische Landrecht und das österreichische bürger- 
Uche Gesetzbuch zu erwähnen, welche diese Auffas- 
sung in dem Sachenrecht durchgeführt haben. 

Seit dem Anfang des l u Jahrhunderts wurde aber 
die Ansicht, dass der Titel zum vertragsmässigen Eigen- 
tumserwerbe notwendig sei, immer mehr in der deut- 
schen Rechtswissenschaft verdrängt. Das Resultat die- 
ser Bewegung liegt in dem Entwurf eines deutschen 
bürgerlichen Gesetzbuches vor, welcher jeden Zusam- 



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119 

menhang zwischen der Eigentumsordnung und 
dem wirtschaftlichen Leben mit Absicht und 

Bcvvusstsein gelöst hat. 

Nach dem Entwurf ist nämlich zur Uebcrtragung 
des Eigentums an Grundstücken bloss ein zwischen 
dem bisherigen Eigentümer und dem Erwerber vor 
dem Gfundbuchsamte geschlossener Vertrag notwen- 
dig, in welchem der erstere erklärt, dass er die Ein- 
tragung des Eigentums für den Erwerber bewillige und 
dieser letztere die Bewilligung der Eintragung annimmt 
(die Aullassung). Zur Wirksamkeit dieses Vertrages 
ist die Angabe des Kechtsgrundes (des Titels) nicht 
erforderlich. Die Wirksamkeit des Vertrages wird auch 
dadurch nicht ausgeschlossen, dass die Vertragschlies- 
senden verschiedene Rechtsgründe vorausgesetzt haben 
oder dass der von ihnen vorausgesetzte Rechtsgrund 
nicht vorhanden oder ungültig war (§ 828, 829, 868 d. 
Entw.) K 

Zum vertragsmässigen Erwerb einer bewegli- 
chen Sache ist gleichfalls nur ein zwischen dem bis- 
herigen Eigentümer und dem Erwerber unter Ueber- 
gabe der Sache zu schliessender Vertrag erforderlich, 
welcher die Willenserklärung der Vertragschliessenden 
enthält, dass das Eigentum auf den Erwerber über- 
gehen soll Der Rechtsgrund der Uebergabe (der Ti- 
tel) ist auch bei dem Eigentumserwerb beweglicher 
Sachen vollständig gleichgültig (i:; <S74 des Entwurfs) *. 

Achniiche Bestimmungen sollen auch bei der Be- 
gründung und Aufhebung der übrigen dinglichen Rechte 
gelten (Mot. II, 3, 830; III. 6 ff.j. 



' § 875 BGB. * % 939 BGB. 



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« 



I20 



Gar mancher wird in diesen Gegensätzen nur leere 
Spitzfindigkeiten der Schule erblicken. In Wirklichkeit 

handelt es sich aber hier um Fragen, welche für das 
ganze Leben der Gesellschaft von grosser Bedeutung 
sind. Die Sicherheit der Kigentumsordnung beruht 
hauptsächlich darauf, dass sie mit dem Leben und 
Treiben des Volkes im engsten Zusammenhang steht 
und dass sie sich im Bewusstsein der Massen als der 
letzte Ausläufer aller wirtschaftlichen Bestrebungen 
darstellt. Freilich sind wir noch sehr weit von einem 
Zustand entfernt, in welchem das wirtschafthche Ver- 
dienst und die durch das Privateigentum geschaffene 
Güterverteilung in einem richtigen Verhältnis stehen; 
aber wer diese verfehlten Tendenzen unseres Privat- 
rechts auf die Spitze treibt, wer das Eigentum von 
seinen wirtschaftlichen Grundlagen vollständig losreisst 
und dasselbe als eine reine Machtfrage hinstellt, er- 
schüttert geradezu die ganze Ligentumsordnung. Und 
doch muss jedermann, auch wenn er eine vollständige 
Umbildung des überlieferten Rechtssystems für uner- 
lässlich hält, den Wunsch hegen, dass die Eigentums- 
ordnung nicht durch den Gesetzgeber selbst diskreditiert 
wird, solang die neuen Formen noch nicht gefunden 
und anerkannt sind. 

Wenige Einrichtungen haben den Glauben an imser 
Privatrecht in weiten Kreisen so sehr erschüttert, als 
jene Rechtsgeschäfte, bei welchen eine bestinunte 
Willenserklärung schon an und für sich eine Verbind- 
liclikeit begründet, ohne Rücksicht, ob diese in den 
rechtlichen und wirtschaftlichen Grundlagen des Falles 
ihre Rechtfertigung findet oder nicht (abstrakte Rechts- 
geschäfte, abstrakte Verträge). Denn bei. diesen ab- 



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121 



strakten Rechtsgeschäften, unter welchen der Wechsel 

das bekannteste Beispiel bietet^, tritt der Gegensatz 
zwischen wirtschaftlicher und juristischer Gerechtigkeit, 
der auch sonst gioss genug ist, besonders grell und 
deutlich in den Vordergrund. Wenn ich deshalb, weil 
ich ein gedrucktes Wechselformular unterzeichnet habe, 
die Wechselsumme, wenigstens in der Regel der Fälle, 
an den Wechselinhaber bezahlen muss, gleichviel ob 
ich nach den dem Wechsel zu Grunde lies^enden Ver- 
hältnissen dazu verpflichtet bin oder nicht, so muss 
dem Unwissendsten einleuchten, wie einseitig unser Pri- 
vatrecht ist und wie es immer nur den Mächtigen und 
Vorsichtigen zu schützen weiss. Freilich wird die Auf- 
gabe des urteilenden Gerichts sehr erheblich erleichtert, 
wenn eine gesprochene oder geschriebene Formel wenig- 
stens in der Regel zur Verurteilung des Schuldners ge- 
nügt, ohne dass der Richter in die juristischen oder 
wirtschaftlichen Grundlagen des Vorganges einzudringen 
braucht; aber es ist klar, dass dadurch die Rechts- 
streite in unzähligen Fällen mit Unrecht zum Nachteil 
der Schwachen entschieden werden, die in ihrer gei- 
stigen, wn tschat tlichen und sozialen Abhängigkeit den 
Abschluss solcher abstrakten Rechtsgeschäfte nicht ab- 
lehnen können. 

Und nun soll nach dem Entwurf auch die gesamte 
Eigentumsordnung, die wichtigste Einrichtung der 
menschlichen Gesellschaft, auf einem ähnlichen For- 
malismus aufgebaut werden. Die bew^ende Kraft für 
die Begründung und die Uebertragung aller Sachen- 
rechte soll fortan ausschliesslich in gewissen Wiiicns- 

1 Vgl. audi § 683 des Entwurfs (§ 780, 781 BGB.) und dazu 
die Motive III, 687 ff. 



122 



erldärungeti des Berechtigten liegen ; jeder Zusammen- 
hang dieser Veränderungen mit ihren wirtschaftlichen 
Grundlagen soll aiilhorcn. Mit einer schroftcn Kon- 
sequenz, die deutlich den Oelgeruch der Studierstube 
verrät, wird dieser Gedanke in dem ganzen Gebiete 
des Sachenrechts durchgeführt, ohne Rücksicht, ob es 
sich um bewegliche oder unbewegliche Sachen handelt. 
So werden, um nur den wichtigsten Fall zu erwähnen, 
die dinglichen Rechte an Grundstücken : das Eigentum, 
die Dienstbarkeiten, das Pfandrecht nicht deshalb be- 
gründet und übertragen, weil es die juristischen und 
wirtschaftlichen Beziehungen des Falles erheischen, 
sondern aus dem Grunde, weil der Berechtigte vor 
dem Grundbucfasamte oder in einer Urkunde bestinunte 
Formeln ausgesprochen hat ^ Welches Missverhältnis 
zwischen Ursache und Wirkung ! Dies bedeutet denn 
doch nichts anderes, als das gewaltige Werk unserer 
Eigentumsordnung vollständig in die Luft bauen und 
den Pelion und den Ossa an den Faden einer Spinne 
hängen! 

Ich verkenne nicht, dass dieses Resultat durch 

die bisherige Entwicklung der Gesetzgebung und der 
Rechtswissenschaft bis zu einem gewissen Grade vor- 
bereitet worden ist, wenngleich jeder Kundige zugeben 
wird, dass eine so schroffe Loslösung der Eigentums- 
ordnung von ihren wirtschaftlichen Grundlagen noch 
in keinem Rechtssystem versucht worden ist. Es mag 
auch richtig sein, dass die Erhaltung des Zusammen- 
hanges zwischen Wirtschaft und Eigentumserwerb den 
Juristen manche technischen Schwierigkeiten bietet, wie 



» § 873 BGB. 



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123 



denn auch die Motive (m, 7) den Standpunlct des 
Entwurfs durch die Rücksicht auf die Sicherheit des 

Rechtsverkehrs zu begründen versuchen. Aber höher 
als die Sicherheit des Rechtsverkehrs steht in einer 
Zeit, wie die unsere, die Sicherheit des ganzen Rechts- 
systems. Mit demselben Recht, mit welchem der deut- 
sche Entwurf heute die Eigentumsordnung von ihren 
wirtschafdichen Grundlagen losreisst und an einen will- 
kürlichen Formalismus knüpft, kann diese ein künftiger 
Gesetzgeber auf den Beschluss des Volkes oder seiner 
Regierungsorgane begründen. Für denjenigen, der sich 
gegen die innere Triebkraft der Dinge nicht verschliesst, 
bleibt eben karnn eine andere Wahl fibri^ : Entweder 
spriesst die Eigentumsordnung aus dem wirtschaftlichen 
Leben des Volkes wie aus ihrem mütterlichen Boden 
hervor oder der Gesetzgeber kann die tatsächlichen 
Voraussetzungen des Eigentums innerhalb sehr weiter 
Grenzen nach freier Willkür bestimmen. Und alle diese 
Bedenken (wie zum Schlüsse noch bemerkt werden 
mag) werden dadurch nicht gehoben, dass der Ent- 
wurf (§ 829, 874 u. s. f.) ^ persönliche Klagen gewährt, 
durch welche in manchen Fällen jene Mängel einer 
rein formalistischen Gestaltung der Eigentumsordnung 
bis zu einem gewissen Grade wieder beseitigt werden. 

Während das deutsche Gesetzbuch in Uebereinr 
Stimmung mit dem Entwurf die gesamte Eigentums- 
ordnung im wesentlichen aus ein paar Formeln hervor- 
gehen lässt, hat der Schweizer Vorentwurf wenigstens 
bei dem Grundeigentum den Zusammenhang zwischen 



^ Gestrichen. 



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124 



der Eigentumsordfiungf und dem wirtschaftlichen Leben 

festg-eh alten, indem das Eigentum an Grundstücken nur 
durch die Eintragung in das Grundbuch erworben wer- 
den kann, diese aber an den Nachweis eines Rechts- 
grunds der Eigentumserwerbung geknüpft ist (Art. 659, 
1008). Bei den beweglichen Sachen begründet aller- 
dings der blosse Besitz die Vermutung des Eigentums, 
aber diese Vermutung kann jederzeit durch Zurück- 
greifen auf die zugrunde liegenden Verhältnisse wider- 
legt werden (Art. 707, 972). 

XXXI. 

Kein Grundsatz ist in dem Staatsrecht aller Kultur- 
völker so zweifellos anerkannt, wie die Unverletzlich- 
keit des Eigentums. Die meisten Verfassungen spre- 
chen von der Unantastbarkeit des Fi ivateigentums, unter 
dem sie alle Vermögensrechte verstehen, in ähnlichen 
Ausdrücken, wie von der Unverletzlichkeit der Person 
des Monarchen. So bestimmt die Freussische Ver- 
fassung (Art. 9), dass das Eigentum imverletzlich ist 
und dass es nur aus Gründen des öffentlichen Wohls 
gegen vorgängige , in dringenden Fällen w'enigstens 
vorläufig festzustellende Entschädigung nach Massgabe 
des Gesetzes entzogen oder beschränkt werden kann. 
Aehnliche Bestimmungen Hessen sich fast aus jeder 
Verfassung mit sogenannten Grundrechten anführen. 

In Wirklichkeit ist es aber mit der Unverletzlich- 
keit des Privateigentums in der Gesetzgebung der mo- 
dernen Kulturstaaten sehr übel bestellt. Soweit sich 
freilich die Eigentumsordnung gegen die besitzlosen 
Volkskiassen richtet, wird dieselbe überall mit allen 



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125 



Mitteln des Zivil- und namentlich des Strafrechts aul- 
recht erhalten. Dagegen wird sich später (XXXII.) 
zeigen, wie das Privateigentum durch die steigende 
Tätigkeit der Regierungen immer mehr seines Inhalts 
entleert wird, obgleich doch leicht ersichtlich ist, dass 
der Grundsatz der Unverletzlichkeit des Privateigentums 
in die europäischen Verfassungen vorzüglich zum Schutze 
gegen die Regierungsgewalt aufgenommen wurde. Wie 
wenig aber die Unverletzlichkeit des Privateigentums 
innerhalb des Kreises der Besitzenden die Geltung eines 
unantastbaren Grundsatzes beansprucht, wie sehr sich 
vielmehr das bürgerliche Recht in dieser Beziehung 
von den weitestgehenden Zweckmässigkeitsrücksichten 
leiten lässt, soll nunmehr an der Hand des deutschen 
Entwurfes bewiesen werden. 

Schwerlich wird es ein Interesse geben, welches 
ein auf privatrechtlichen Grundlagen aufgebautes Rechts- 
system so sehr zu beachten hat, wie die Unverletzlich- 
keit des Grundeigentums. Denn hier handelt es sich 
um Vermögensobjekte von grösster sozialer Bedeutung, 
und andererseits bewegt sich der Verkehr mit Grund- 
stücken naturgemäss in gemessenen Formen, welche 
eine genaue Erforschung aller massgebenden Rechts- 
verhältnisse gestatten. Dennoch wird die Sicherheit 
des Grundeigentums von dem Entwurf durchgreifend 
dem öffentlichen Gkuibcn des Grundbachs geopfert. 
Wer in dem Grundbucii als Eigentümer eines Grund- 
stücks oder sonst als Berechtigter eingetragen ist, kann 
das Recht, auch wenn es ihm tatsächUch nicht zusteht, 
mit voller Rechtswirksamkeit an einen dritten über- 
tragen, vorausgesetzt, dass der dritte sich bei dem 
Erwerbe des Rechts in gutem Glauben befindet (§ 837 



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126 



d. Kntw.)*. Ja dieser Erfolg kann auch ohne den Willen 
des zu Unrecht Eingetragenen in dem Falle eintreten, 
weim die Uebertragung des Rechtes im Wege der 
Zwangsvollstreckung bewirkt wird. Eine Person also, 
für welche auf Grund eines betrügerischen Aufiassungs- 
aktes das Eigentum oder auf Grund einer gefälschten 
Urkunde ein dinghches Recht eingetragen wurde, kann 
dieses Recht« ohne weiteres auf jeden redlichen Er- 
werber übertragen. 

Noch weiter geht der Entwurf in der Gefährdung 
des Eigentums an beweglichen Sachen. Wenn nämlich 
der Verausserer einer beweglichen Sache nicht deren 
E^entümer war, der Bewerber aber diesen Umstand 
nicht gekannt, auch seine Unkenntnis nicht auf yrober 
Fahrlässigkeit beruht hat, so erlangt der Erwerber 
durch die Uebergabe der Sache gleichwohl das Eigen- 
tum. Nur wenn die veräusserte Sache gestohlen oder 
verloren oder in anderer Weise ohne den Willen des 
bisherigen Eigentümers aus seiner Inhabung gekommen 
ist, so wird das Eigentum an derselben trotz der er- 
folgten Uebergabe nicht erworben (§ 877. 879 d.Entw.)^. 
Aber auch in diesem letzteren Falle kann der Eigen- 
tümer die ihm ohne seinen Willen abhanden gekom- 
mene Sache von dem redlichen Erwerber nur gegen 
Ersatz des Kaufpreises zurückverlangen, welchen dieser 
fUr die Sache hat bezahlen müssen (§ 939 d. Entw.)^. 

Diese Bestimmungen , welche ich der leichteren 
Verständlichkeit wegen nur in ihren äussersten Um- 
rissen dargestellt habe, stammen aus dem deutschen 
Recht, sie sind aber erst in den neueren Gesetzgebungen 



» § 892 BGB. « § 932, 935 BGB. » Gestrichen. 



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127 



genauer ausgebildet und dann in dem deutschen Ent- 
wurf, wie gewöhnlich, bis zu ihren äussersten Kon- 
sequenzen gesteigert worden. Das römische Recht, 
welches wirklich auf privatrechtlichen Grundlagen be- 
ruht, hat sich wohl gehütet, ähnliche Rechtssätze auf- 
zustellen, welche naluigemäss den Keim des Wider- 
spruchs und der Zersetzung in die Eigentumsordnung 
tragen müssen. 

Denn jene Bestimmungen enthalten, wenn man die 
Sache bei ihrem rechten Namen benennen will, eine 
umfassende und dauernde Konfiskation des Privateigen- 
tums zu gunsten der Sicherheit des Verkehrs. Dar- 
nach wird der Eigentümer einer Sache, dem gar kein 
oder doch ein geringes Verschulden zur Last fällt, 
seines Eigentums in unzähligen Fällen zu gunsten des 
neuen Erwerbers beraubt, mag dieser sich auch in 
gleichem oder gar in einem grösseren Verschulden be- 
finden. Und doch sollte man glauben , dass für ein 
ivcchtssystcni, wt^lchcs sich wiiklicli innerhalb des pri- 
vatrechtlichen Getlankenkreises halten will, der sichere 
Genuss eines rechtmässig erworbenen Privatrechts ein 
Interesse ist, welches die Rücksicht auf die Sicherheit 
des Verkehrs und des Güterumlaufes weit überwiegt. 

Ich erblicke in diesen Bestimmungen einen Sieg 
des Handelsgeistes über die Eigentumsordnung, des 
Verkehrsrechts über das Sachenrecht (vgl. oben XII 1). 
Schwerlich werden die Verfasser des Entwurfs, als sie 
die Gedanken des deutschen Rechts bis zu ihren 
schroffsten Konsequenzen trieben, sich die sozialen 
Folgewirkungen ihrer Anschauungen zum Bevmsstsein 
gebracht haben. Dem Proletarier, welcher durch seine 
Armut dem Alangel preisgegeben ist , hält man die 



128 



Heiligkeit des Eigentums entgegen. Hier aber, in der 
Mitte des bürgerlichen Gesetzbuchs, sollen Bestimmun- 
gen ihren Platz ünden, durch welche das redlich er- 
worbene Eigentum eine schwerere Beeinträchtigung 
erleiden muss, als jemals durch die verrufensten Kon- 
fiskationen geschehen ist. Denn die Gütereinziehungen, 
welche gewalttätige Monarchen und Parlamente zu ver- 
schiedenen Zeiten verfügt haben , waren doch immer 
vorübergehende Akte, weiche sich nur auf bestinunte 
Gattungen von Gütern bezogen. Durch die Bestim- 
mungen des bürgerlichen Gesetzbuchs wird aber das • 
gesamte Nationalvermögen einer beschränkt, aber stetig 
wirkenden Enteignung zu gunsten der Sicherheit des 
Verkehrs preisgegeben. 

xxxn. 

Kichts hat die Umbildung des Sachenrechts in der 
staatssozialistischen Richtung so sehr verdeckt, als die 

Trennung der Justiz von der Verwaltung, welche überall 
auch eine Scheidung des Rechtsstoffes in der Gesetz- 
gebung und in der Wissenschaft zur Folge gehabt hat. 
Etwa seit der Mitte des i8. Jahrhunderts haben die 
europäischen Kulturstaaten ihre verwaltende Tätigkeit 
ins Ungemessene gesteigert, und da diese innerhalb der 
Eigentumsordnung auszuüben war, so mussten das 
Eigentum und die übrigen dinglichen Rechte ihres In- 
halts immer mehr entleert werden. An die Stelle der 
Willkür, mit welcher vormals der Eigentümer über die 
Sache verfügte, trat überall die Aufsicht und die Mit- 
wirkung des Staates. Da jedoch das Zivil- und Ver- 
waltungsrecht in getrennten Disziplinen behandelt wer- 



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129 



den, so hat die Privatrechtswissenschaft in ihrer kon- 
servativen Weise die alten Begriffsbestimmungen des 
Eigentums bis in die Gegenwart fes^ehalten. 

Der Entwurf eines deutschen bürgerlichen Gesetz- 
buches vermeidet zwar eine förmliche Bestimmung des 
Eigentumsbegriffes; vielmehr sagt derselbe (i> S48)' nur, 
dass der Eigentümer das Recht hat, mit Ausschliessung 
anderer nach Willkür mit der Sache zu verfahren und 
über dieselbe zu verfügen, soweit nicht Beschränkungen 
dieses Rechtes durch Gesetz oder durch Rechte dritter 
b^ründet sind. Unter diesen beschränkenden Gesetzen 
ist , wie aus dem Entwurf eines Einführungsgesetzes 
zum bürgerlichen Gesetzbuch (Art 66 und Mot. S. 192)* 
zu entnehmen ist , namentlich auch die umfangreiche 
Verwaltungsgesetzgebung zu verstehen, die nach der 
Verfassung des deutschen Reichs vorherrschend der 
Kompetenz der einzelnen Bundesstaaten anheimfällt. 

Nach jener Begriffsbestimmung des Entwurfs könnte 
man nun glauben , dass auch noch gegenwärtig die 
willkürliche Herrschait des Eigentümers über 
die Sache die weit überwiegende Regel, die Einwirkung 
des Staates und der Gesetzgebung eine verhältnismässig 
seltene Ausnahme bildet In Wirklichkeit ist dies aber 
seit geraumer Zeit nicht mehr der Fall. Längst ist 
der Kulturstaat infolge der Entwicklung des öffentlichen 
Rechts aus einem uneigennützigen Freund und Be- 
schützer zu einem unbequemen Genossen des Eigen- 
tümers geworden, der in hochfahrendem Tone Mitherr- 
schaft und Mitbenützung des Eigentums heischt Diese 
Teilnahme des Staates hat teils einen wirtschaftlichen, 
tei ls einen juristischen Charakter. 

» § 903 BGB. • Art. III Eiiü.ücs. 

Menger, Das bürgerl. Recht. 4. Aufl. Q 



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I30 

In wirtschaftlicher Beziehung wird die Mitherrschaft 
des Staates durch die Finani^esetzgebung ausgeübt. 

Von dem arbeitslosen Einkommen, welches gerade die 
wichtigsten Vermöp^ensobjekte dem Eigentümer ab- 
werfen, erhebt der Staat überall einen Löwenanteil. So 
betragen die Steuern, weiche in den grösseren Städten 
Oesterreichs dem Staat und den staatlichen Verbänden 
zufallen, fast die Hälfte des Mietsbetrages; auch die 
übrigen Liegenschaften sind in entsprechender Weise 
besteuert. In Deutschland ist zwar das Privateigentum 
durch die staatlichen Abgaben vorläufig noch entfernt 
mcht so belastet wie in Oesterreich; allein die fort- 
schreitende Entwicklung der militärischen imd sozialen 
Gesetzgebung wird auch in den deutschen Staaten zu 
ähnlichen Zuständen fuhren. 

Ebenso wie die staatliche Besteuerung heute schon 
vielfach den Charakter einer Mitbenützung des Natio- 
nalvermögens an sich trägt, so erlangt der moderne 
Staat durch seine Verwaltung immer mehr eine Mit- 
herrschaft an dem Privateigentum. Das Souveränetäts- 
gefuhl, welches der römische Dominus mit Recht em- 
pfinden konnte , ist dem heutigen Eigentümer natur- 
gemäss vollständig fremd. Gerade die Eigentümer der 
ländlichen und noch mehr der städtischen Liegenschaf- 
ten, welche überall den Grundstock des Nationalver- 
mögens bilden, sind bei Benützung ihres Eigentums 
auf Schritt und Tritt an die Kontrolle und Zustimmung 
der Verwaltungsbehörden gebunden. Es wäre unmög- 
lich, hier alle Zweige der Wohlfahrtspolizei besonders 
anzuführen , welche einen mehr oder weniger tiefen 
Eingriff in die willkürUche Verfügung des Eigentümers 
über sein Eigentum bedingen; ich erwähne nur die 



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131 

Flur-, Forst-, Berg-, Wasser-, Strassen-, Gewerbe-, Feuer-, 
Bau- und Gesundheitspolizei und das Enteignungsrecht. 
Kaum verj^eht in den Kulturstaaten ein Jahr, welches 
dem überlieferten Schatz von Polizeimassregeln, wo- 
durch die Herrschaft des Eigentümers eingeschränkt 
wird, nicht noch ein Namhaftes hinzufügt. 

Alle diese Einschränkungen des Privateigentums 
werden allerdings in andern Handbtlchem als in den 
Kompendien des Zivilrechts dargestellt, und es ist be- 
kannt ^enug, dass dieser Umstand die Gelehrten oft 
schärfer als Länder und Meere voneinander scheidet. 
Aber wäre es nicht an der Zeit, diese immerhin dünne 
Scheidewand endlich zu durchbrechen und die künuner- 
liche Stellung des heutigen Eigentümers schon in der 
Definition des bürgerlichen Gesetzbuchs zu kennzeich- 
nen ? Dies könnte durch eine leichte Abänderung des 
§ 848 d. Entw. ^ geschehen, welche auf den ersten Blick 
mehr formeller Natur erscheint, gleichwohl aber für 
die ganze Auffassung des modernen Eigentums von 
grösster prinzipieller Bedeutung ist. Es müsste näm- 
lich statt der oben mitgeteilten Fassung des § 848 be- 
stimmt werden, Uass der Eigentümer einer ^ache das 
Recht hat, innerhalb der Schranken des Ge- 
setzes mit Ausschliessung anderer nach Willkür mit 
der Sache zu verfahren und über dieselbe zu verfügen, 
soweit nicht Einschränkungen durch Rechte dritter 
begründet sind. Dadurch würde, dem heutigen Rechts- 
zustand entsprechend, sofort durch die Begriffsbestim- 
mung des Eigentums angedeutet, dass der Eigentümer 
seine willkürliche Herrschaft über die Sache nur inner- 



* I 903 BGB. 

9* 



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132 



halb der engen und täglich sich mehr verengenden 
Schranken des Gesetzes ausüben darf, ähnlich einem 
Verwaltungsbeamten, der seine Aufgabe gleichfalls 
innerhalb der Schranken des Gesetzes nach freiem Er- 
messen zu erfüllen hat. 

Entspricht jene Begriffsbestimmung schon dem heu- 
tigen Rechtszustand, so wird sie sich in der Zukunft 
desto sicherer bewähren. Die heutige Aushöhlung und 
Entleerung des Eigentumsbegnttes ist das Ergebnis 
einer Gesetzgebungsarbeit von weniger als zweihundert 
Jahren, und es lässt sich mit Sicherheit voraussagen, 
dass der Strom der künftigen Rechtsentwicklung sich 
in derselben Richtung mit beschleunigter Geschwindig- 
keit bewegen wird. Das Ende dieses geschichtlichen 
Prozesses wird allerdings darin bestehen, dass das Ei- 
gentum und damit das ganze l^rivatrecht vollständig 
von dem öffentlichen Recht überllutet wird, ähnlich 
der Insel Helgoland, von welcher jährüch ein Stück 
abbröckelt und die schliesslich in den Wellen des 
Ozeans untergehen muss. 



Während das deutsche bürgerliche Gesetzbuch im 

§ 903 die hier bekämpfte Begriffsbestimmung des Pri- 
vateigentums festgehalten hat, ist der Schweizer Vor- 
entwurf (Art. 644) den von mir entwickelten Ansichten 
im WesentUchen beigetreten. 

xxxm. 

Mit der inneren Abschwächung des Eigentums 
läuft in dem Entwurf eine schroffe Abschliesstmg der 

Eigentumsordnung gegen die besitzlosen Volksklassen 
einher. Das Eigentum, welches naturgemäss nur mit 



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133 



Schwierigkeiten erwiesen werden kann und deshalb für 
die grossen Volksmassen nicht leicht erkennbar ist, 
wird in keinem Rechtszustand genügen, um die ent- 
scheidende Linie zwischen Besitz und Armut mit ge- 
nügender Deutlichkeit zu ziehen. Hierzu bedarf es einer 
äusserlich sichthai en Tatsache, die den Massen für sich 
und ohne Rücksicht auf vergangene Handlungen und 
Zustände den grossen Gegensatz verkündet Diese 
Tatsache ist der Besitz. Mit grosser Feinheit unter- 
scheidet deshalb der deutsche Sprachgebrauch zwischen 
den besitzenden und den besitzlosen Volksklassen, ob- 
gleich doch der Gegensatz zwischen beiden eigentlich 
durch das Pri\ at< igentum hervorgebracht wird. 

Seit Jahrhunderten ist es zwischen Juristen und 
Rechtsphilosophen eine beliebte Streitfrage, ob der Be- 
sitz eine Tatsache oder ein Recht ist. Von dem Stand- 
punkt, der in der vorliegenden Schrift vertreten wird 
(III und IV), ist jene Schulfrage leicht zu beantworten. 
Der Besitz und das Eiq-entum ^ind gleichmässig rein 
tatsächliche Machtverhältnisse, nur dass im Falle des 
Streites der erstere dem letzteren wenigstens in letzter 
Auflösimg weichen muss. Dies kann aber niemand 
befremden, weil auch auf anderen Gebieten im Falle 
des Zusammenstosses die geringere Macht von der 
grösseren überwunden wird. 

Nach den geltenden Rechtssystemen wird mei^itens 
der Besitzschutz an den Besitz in der technischen Be- 
deutung dieses Wortes geknüpft. Der Besitz in diesem 
Sinne ist auch dem Entwurf bekannt. Der Besitz einer 
Sache — sagt § 797 des Entwurfs* — wird erworben 



> Vcrgl. § 854, 872 BCiB. 



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134 



durch die Erlangung der tatsächlichen Gewalt über 
die Sache (Inhabunij) in Verbindung mit dem Willen 
des Inhabers, die Sache als die seinige zu haben (Be- 
sitzwille). Doch gibt der Entwurf diese Begriifsbe- 
stiinmung des Besitzes xiicht zu dem Ende, um diesen 
ab Voraussetzung des Besitzschutzes hinzustellen. Viel- 
mehr ist der Besitz nach dem Entwurf lediglich für den 
Eigentumserwerb von Bedeuliing, wo er namentlich 
bei der Ersitzung, der Uebergabe und der Zueignung 
von Sachen eine wichtige Rolle spielt. 

Der ganze Besitzschutz ist in dem Entwurf viel- 
mehr an die blosse Inhabung geknüpft, d. h. an 
jene tatsächliche Gewalt über die Sache, mit welcher 
der Besitzwille nicht notwendig verbunden zu sein 
braucht. Der Besitzschutz steht also auch dem Mieter, 
dem Pächter, dem Entleiher zu, obgleich diese die 
Sache gar nicht als die ihrige haben wollen (§ Si4if. 
d. Entw.)*. 

Zu dem Besitzschutz im weitesten Sinne gehört 
vor allem das Recht des Inhabers einer Sache, wenn 

ein dritter ihm dieselbe ohne seinen Willen entziehen 
will, sich einer solchen verbotenen Eigenmacht mit Ge- 
walt zu erwehren (§ 815 d. Entw.) ^. Vom sozialen 
Standpunkt ist diese Selbstverteidigung die weitaus 
wichtigste Garantie für die Aufrechterhaitung der Be- 
Sitzordnung. Ist aber die Selbstverteidigung gar nicht 
oder ohne Erfolg versucht worden, so wird der In- 
haber durch zivil- und namentHch auch durch blraf- 
rechtÜche Klagen in seiner tatsächlichen Gewalt ge- 
schützt (§ 819 fg. des Entwurfs und § 123 fg., 34^; 



> Vgl. I 858 ff. BGB. > § 859 BGB. 



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135 



242 fg. ; 249 fg. StGB.)^ Ja der Entwurf gestattet 
(§ 815) dem Inhaber das Recht der Selbstverteidigung 
auch gegenüber demjenigen, für welchen er die Sache 
innehat. »Das Gewaltverbot begründet für den Inhaber 

eine absolut geschützte Rechtsstellung <- (Mot. III, 1 10). 
So wird also zum Beispiel der Mieter, der Pächter, der 
Entleiher emer Sache, auch wenn die Zeit seiner Nut- 
zung bereits verstrichen ist» den Eigentümer und Be- 
sitzer mit Gewalt zurückweisen dürfen, wenn dieser 
seine Sache nach geendigtem Gebrauche nunmehr zu- 
rücknehmen will. 

Gestehen wir offen, dass durch diese Bestimmun- 
gen, wenn sie einmal vollständig in das Yolksbewusst- 
sein eindringen, eine Art gelinden Faustrechts geschaften 
wird. Allerdings hat das Strafrecht seit jeher durch 
die Strafbestimmungen über den Land- und Hausfrie- 
densbruch, den Diebstahl, den Raub und ähnliche Ver- 
brechen weniger das Eigentum, als die tatsächlichen 
Gewaltverhältnisse: die Inhabung geschirmt. Allein der 
zivilrechtliche Besitzschutz behielt in den meisten Kechts- 
systemen dadurch eine nahe Beziehung zur Eigentums- 
ordnung, dass derselbe nur dem Inhaber mit Besitz- 
willen gewährt wurde. Um die Vorteile des Besitzschutzes 
zu erlangen, musste der Inhaber zwar nicht Eigentümer 
sein, aber er musste es zum mindesten sein wollen. 

Diese Verbindung des Besitzschutzes mit der Ei- 
gentumsordnung hat nun der Entwurf im Anschluss an 
ähnliche Tendenzen in der bisherigen Praxis und Gesetz- 
gebung volbtändig gelöst. In Zukunft soll das tatsäch- 
liche Gewaltsverhältnis zu der Sache als solches, also 



i § 861 ff. BGB. 



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136 



die Inhabung in ihrer brutalen Nacktheit, als Grundlage 
für die Gewährung des Besitzschutzes dienen. Wie in 
so vielen Fragen» so hat der Entwurf auch hier alles 
auf die Spitze getrieben und auf diese Weise unab- 
sichtlich die letzten Gedanken des Privatrechtssystems 
verraten. Denn die Besitzordnung ist die den besitz- 
losen Klassen zugewendete Seite der Eigentumsordnung; 
sie bildet in Verbindung mit den strafrechtlichen Be- 
stimmungen über die Eigentumsverbrechen gleichsam 
die Vortruppen, welche die besitzlosen Klassen ver- 
hindern sollen, an die Hauptmacht, nämlich an die 
Eigentumsordnung, zu gelangen. Und je handgreiflicher 
die Tatsachen und Zustände i>ind, an welche die Rechts- 
ordnung den Besitzschutz knüpft, desto sicherer kann 
der Gesetzgeber erwarten, dass jene Grenzlinie zwi- 
schen den Besitzenden und den Besitzlosen, auf deren 
Aufrechterhaltung im Frivatrecht alles ankommt, nicht 
übersprungen wird. 



Die blosse tatsächliche Gewalt über eine Sache, 
die der Entwurf Inhabung nannte, heisst jetzt in dem 
geltenden Gesetzbuch Besitz, die Inhabung mit dem 
Besitzwillen, für die der Entwwf das Wort Besitz vor- 
behalten hatte, tauft das Gesetzbuch Eigenbesitz (§ 854, 
872 BGB,). Der Besitzschutz ist übrigens trotz dieser 
Namensänderung an die blosse tatsächliche Gewalt über 
die Sache geknüpft. Der Schweizer Vorentwurf (Art. 961, 
962, 968 fF.) folgt sowohl in Betreff der Bezeichnung 
als auch der Zulässigkeit des Besitzschutzes dem deut- 
schen Gesetzbuch. 



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137 



XXXIV. 

Die nQtzlichen Dinge, deren wir zur Erhaltung und 
Förderung unseres individuellen Daseins bedürfen, wer- 
den durch die Tätigkeit der arbeitenden Klassen her- 
vorgebracht, und diese haben einen Anspruch auf das 
gesamte Produkt ihrer Arbeit, gleichviel, ob die Rechts- 
ordnung diesen Anspruch dem einzelnen in der Form 
des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag oder des Rechts 
auf Existenz zuerkennen mag K Auf dieser Arbeits- 
organisation lastet aber die Eigentumsordnung, durch 
welche bewirkt, wird, dass zahlreichen Gruppen von be- 
günstigten Personen (den Besitzenden) ein arbeitsloses 
Einkommen zugewendet wird. Das arbeitslose Ein- 
kommen der besitzenden Volksklassen, welches in Grund- 
rente und Kapitalgewinn zerfallt, wird freilich von vielen 
als eine gerechte Belohnung für die Leitung der ge- 
samten Arbeitsorganisation angesehen. Aber einesteils 
steht das arbeitslose Einkommen der Besitzenden, 
auch wenn diese überhaupt als Leiter des Arbeitspro- 
zesses auftreten, mit ihrem wirtschaftlichen Verdienst 
fast niemals in einem richtigen Verhältnis, und anderer- 
seits erlangen die arbeitenden Klassen inuner mehr die 
Fähigkeit, die Führung der Arbeitsorganisation selbst 
zu übernehmen. 

Diese Entwicklung des privaten und öftentlichen 
Rechts hat nun die Aufgabe, die Arbeitsorganisation 
im Wege einer langsamen Reform von der Eigentums- 
ordnung zu entlasten, wobei die Beseitigung des Feu- 

* Vcrgl. Menge r, Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag in 
geschichtlicher Darstellung. 2. Aufl. (1&91) S. 6 — II und Neue Staats- 
lehre (1903) II, 7. 



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138 



dalsystems als Muster dienen kann. Auch die Arbeits- 
organisation des Mittelalters war von dem Feudalismus 
bis in ihre letzten Auslaufer umklammert und um- 
sponnen; dennoch hat die Gesetzgebung das Feudal- 
system immer mehr zurückgedrängt, bis in dem 19. Jahr- 
hundert dessen letzte Reste durch die Grundentlastung 
und andere Massregeln, beseitigt wurden. In ähnlicher 
Weise sehen wir die wirtschaftliche und soziale Gesetz- 
gebung unserer Zeit, allerdings in gemessenen Schritten 
sich gegen das Ziel einer allgemeinen Eigentumsent- 
lastung bewegen. 

Aber auch das Ijürgerliche Recht könnte die Eigen- 
tumsentlastung dadurch in wirksamer Weise vorbe- 
reiten, dass es Vermögensobjekte, welche aus der Eigen- 
tumsordnung hinausgefallensind, den arbeitendenKlassen 
zuweist. Der wichtigste Fall dieser Art ist die erblose 
Verlassenschaft, von welcher später in der Besprech- 
ung des Erbrechts (EVII) die Rede sein wird. In dem 
Sachenrecht kommen nur die herrenlosen Sachen 
in Betracht, sei es, dass die Sache sich noch niemals im 
Privateigentum befunden hat, sei es, dass dieses von 
dem Eigentümer wieder aufgegeben worden ist Zu 
den herrenlosen Sachen kann man in Beziehung auf un- 
sere Frage auch gefundene Sachen und Schätze rechnen. 

Nach dem Entwurf soll ein Grundstück, wenn 
es dadurch herrenlos wird, dass der bisherige Eigen- 
tümer sein Eigentum in gehöriger Form aufgibt, von 
demjenigen erworben werden, der nach den Landes- 
gesetzen zu der Zueignung von Grundstücken befugt 
ist (§ 872 d. Entw.) K Wie aus den Motiven (III, 326) 



^ Vgl. § 928 BGB. 



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139 

hervorgeht, ist nach den Gesetzen der wichtigsten deut- 
schen Bundesländer teils der Staat, teils die Gemeinde 
zur Aneignung solcher Liegenschaften berechtigt. In 
den Motiven wird dieses Zueignungsrecht, wie ich glaube 
mit Unrecht, als ein Teil des öffentlichen Rechtes der 
deutschen Bundesstaaten angesehen und demgemäss 
von der Regelung im bürgerlichen Gesetzbuch ausge- 
schlossen. 

Was die Zueignung von herrenlosen beweg- 
lichen Sachen betrifft, so steht der Entwurf vollstän- 
dig auf dem extrem individualistischen Standpunkt des 
Römischen Rechts, welches kein Vermögensobjekt für 
wohlgeborgen hält, wenn es sich nicht in den Händen 
einer Privatperson befindet Der Entwurf gestattet also 
in der Regel jedermann die Zueignung einer herren- 
losen bewegUchen Sache; doch macht derselbe eine 
Ausnahme gerade in Ansehung jener Sachen, deren 
Okkupation für die unteren Volksklassen von beson- 
derer Wichtigkeit wäre, indem die Zueignung dann 
ausgeschlossen erscheint, wenn sie (z. B. durch die 
Normen über das Bernsteinregal) gesetzlich verboten 
ist» oder wenn sie das Zueignungsrecht eines anderen, 
z. B. sein Jagdrecht verletzt (§ 903 des Entwurfs und 
Mot. m, 370) K Auch bei der Auffindung eines Schatzes 
soll dem Staat nach dem Entwurf kein Anteil zustehen 
und zwar selbst in jenen Fällen nicht, in welchen 
manche Partikularrechte (z. B. das Allg. Preussische 
L.R. I, 9, § 85 fg.) dem Fiskus emen solchen zuer- 
kennen; vielmehr soll der Schatz zur Hälfte dem Fin- 
der und zur andern Hälfte dem Eigentümer der Sache 



' § 95S BOB. 



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140 

zufallen, in welcher der Schatz verborgen war (§ 928 
des Entwurfs und die Mot. III, 391) ^. Nur bei gefun- 
denen Sachen erlangt das Reich, das Land, die Ge* 

meinde unter Umständen das Eigentum der Sache oder 
des Erlöses, wenn der Finder seinen Anspruch nicht 
geltend macht oder die Sache in den Geschäftsräumen 
oder in den Transportmitteln einer öffentlichen Be- 
hörde oder einer öffentlichen Verkehrsanstalt gefunden 
worden ist (§923, 924; vgl. auch §927 des Entwurfs)*. 

Diese Bestimmungen über die Zueignung herren- 
loser Sachen ragen als der letzte Rest einer langst ent- 
schwundenen wirtschaftlichen und politischen Verfas- 
sung in unsere Zeit herein und bedürfen gewiss einer 
gründlichen Umbildung in der Richtung, dass die Rechte 
der Gemeinschaft gegenüber den Okkupanten erheb- 
lich vermehrt werden. Aber mit Unrecht würde man 
in unserem Falle den Staat und die staatlichen Ver- 
bände als die Vertreter der Gemeinschaft ansehen, so 
oft auch dieser Standpunkt in älteren und neueren Ge- 
setzgebungen vertreten worden ist. Unser heutiger 
Staat erblickt seine wichtigste Aufgabe in der Auf- 
rechterhaltung der bestehenden Machtverhältnisse und 
er ist weit davon entfernt, ein Arbeits- und Wirtschafts* 
Staat zu sein ; er hat deshalb auch kein Recht, die Pro- 
dukte der Arbeit, wenn sie aus der Eigentumsordnung 
hinausfallen, an sich zu ziehen. 

Die natürlichen Berechtigten sind vielmehr in die- 
sem Falle die arbeitenden Volksklassen. Lange man- 
gelte es ihnen an einer ökonomischen Vertretung, und 
es musste deshalb der Anteil an den herrenlosen Sachen 



i § 984 BGB. ^ § 976 ff. BGB. 



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1 



141 

dem Staate und den staatlichen Verbänden zugewiesen 
werden. Heute (1889) aber besteht eine solche Ver- 
tretung in den Kassen und Anstalten, welche zur Ver- 
sicherung der arbeitenden Volksklassen gegen Krank- 
heiten, Unfälle, Alter und Invalidital teils bereits er- 
richtet worden sind, teils demnächst errichtet werden 
sollen. Diesen, nicht dem Staate, sollten deshalb die 
Vorteile aus der Zueignung herrenloser Sachen (sowie 
auch die erblosen Verlassenschaften) zugewiesen werden. 

Ich begnüge mich hier mit dieser prinzipiellen An- 
deutung; ins einzelne gehende Vorschläge können heute 
nicht gemacht werden, wo jene Versicherungsanstalten 
noch in einer raschen Aus- und Umbildung begriffen 
sind. Insbesondere halte ich es für wahrscheinlich, dass 
die verschiedenen Organisationen, welche zur Erreich- 
ung ganz ähnlicher Zwecke nebeneinander bestehen, 
schliesslich in einen Körper verschmolzen werden. Zu 
der Zeit aber, wo die deutsche Gesetzgebung die letzte 
Hand an das bürgerliche Gesetzbuch legen wird, dürfte 
die Versicherung der arbeitenden Volksklassen auch 
schon eine abgeschlossene Organisation erlangt liaben. 

XXXV. 

Es wäre leicht, den Grundgedanken der obigen 

Darstellung, dass die Eigentumsordnung des Entwurfs 
nach aussen schroff, nach innen schwach und willkür- 
lich ist, durch eine Fülle von Emzelbestimmungen näher 
zu begründen. Eine solche Ausführung würde jedoch 
die Mitteilung eines umfassenden juristischen Details 
notwendig machen und sich dadurch von vornherein 
dem allgemeinen Verständnis entziehen. Nur dies mag 
bemerkt werden, dass das Eigentum, wie es der deutsche 



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142 



Entwurf im Anscliluss an die bisherige Rechtsentwick- 
lung darbietet, sich als ein Rechtsinstitut darstellt, wel- 
ches den Höhepunkt seiner Geltung schon überschritten 
hat und den Keim der grössten Veränderungen in sich 
birgt. 

Fragt man aber nun, wie unsere Rechtsentwick- 
lung, obgleich sie zweifellos von rein pnvatrcchtlichen 
Ideen gelenkt war, zu einem solchen Ergebnis gelangen 
konntCi so darf man nicht vergessen, dass der Gegen- 
satz zwischen den besitasenden und den besitzlosen 
Volksklassen auf dem Gebiete des Sachenrechts zwar ein 
sehr scharfer, aber doch auch ein sehr begrenzter ist. 
Hier kann es den besitzenden Volksklassen nur darauf 
ankommen, die besitzlosen Massen von Eingriffen in 
die Eigentumsordnung überhaupt zurückzuhalten, was 
namentlich durch die Strafandrohungen gegen die 
Eigentumsverbrechen und durch den Besitzschutz ge- 
schieht. Dagegen befinden sich die besitzenden Klas- 
sen, wenn ich mich so ausdrücken darf, in Beziehung 
aui die Ausbildung des Sachenrechts im einzelnen ganz 
unter sich und sie können sich in dieser Richtung von 
den weitestgehenden Zweckmässigkeitsgründen leiten 
lassen. £s ist gewiss charakteristisch, dass diese Sach- 
lage nicht zu einer Stärkung, sondern zu einer fort- 
schreitenden Selbstvemeinung und Zersetzung des Ei- 
gentums geführt hat. 

Der Zusammenstoss zwischen den vermögens- 
rechtlichen Interessen der besitzenden und der besitzlosen 
Volksklassen findet vorherrschend auf dem Gebiete des 
Obligationenrechts statt. Freilich enthält dieses 
Rechtsgebiet manche Institute, welche die Interessen 
der besitzlosen Volksklassen gar nicht berühren und 



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143 



die nur bei den Besitzenden vorzukommen pflegen. 
Dagegen normiert das Obligationenrecht auch jene Ver- 
träge, durch welche die wohlhabenden Bevöllcerungs- 
schichten das arbeitslose Einkommen von Seite der 

besitzlosen Volksklassen erheben und durch die sie die 
Eigentumsordnung erst für sich vollständig nutzbar 
machen können. 

£s ist in dieser Richtung zu unterscheiden, ob der 
Eigentümer selbst wirtschaftet, oder ob er die Be- 
nützung der ihm gehörigen Vermögensobjekte anderen 
überlässt. Im erstercn Falle verschafft sich der Eigen- 
tümer regelmässig durch den Kauf- und Lohnvertrag 
die Elemente der Produktion, deren Ergebnisse dann 
wieder durch den Kaufkontrakt veräussert werden. Die 
DiiTerenz zwischen Ausgabe und Einnahme nach Ab- 
rechnung des Betrags , welcher dem Eigentümer für 
seine Tätigkeit gebührt, bildet das arbeitslose Ein- 
kommen (Grundrente, Kapitalgewinn). Verrichtet der 
Eigentümer selbst die erforderliche Arbeit, so entfällt 
natürlich der Lohnvertrag. 

Ueberlässt dagegen der Eigentümer die ihm ge- 
hörigen Vermögensobjekte einem andern zur Nutzui^^, 
so kann dies namentlich durch den Darlehens-, Miet- 
und Pachtvertrag geschehen. In dem Darlehens-, Miet- 
und Pachtzins erscheint das arbeitslose Einkommen in 
seiner reinsten Gestalt. Damit derjenige, weichem die 
Nutzung der Sache überlassen wird, das arbeitslose 
Einkommen an den Eigentümer entrichten kann, muss 
er selbst die Wirtschaft in der oben angegebenen 
Weise fuhren. Natürlich können alle diese wirtschaft- 
lichen und juiistLschcn Operationen aucli iii den mannig- 
faltigsten Kombinationen und ümbiidungen vorkommen. 



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144 

An den dargestellten Mechanismus ist in unserer 
Zeit der vorherrschenden Geldwirtschalt, welcher die 
Sklaverei, die Leibeigenschaft und ähnliche Herrschafts- 
verhältnisse fremd sind, die Erhebung des arbeitslosen 
Einkommens und damit auch die ganze soziale Stel- 
lung der besitzenden Klassen geknüpft. Vom sozialen 
Standpunkt ist deshalb der Lohn-, Kauf-, Miet-, Pacht- 
und bis zu einem gewissen Grade auch der Darlehens- 
vertrag von entscheidender Bedeutung. Freilich wer- 
den diese Verträge oft genug auch zwischen Ange- 
hörigen der besitzenden Volksklassen abgeschlossen; 
allein der entscheidende sozialpolitische Gedanke, wel- 
cher das i jbli^aüüncnrechl unserer bürgerlichen Gesetz^ 
bücher beherrscht, i^t doch kein anderer, als den Be- 
sitzenden in der Erhebung des arbeitslosen Emkommens 
vollständig freie Hand zu gewähren. Daher fehlt in 
dem deutschen Entwurf, wie in den übrigen Privat- 
rechtssystemen, auf dem Gebiete der Schuldverhält- 
nisse jene tiefe Einwirkung, welche der Staat innerhalb 
des Sachenrechts (namentlich durch das Grundbuchs- 
wesen) in so umfassendem Masse ausübt; hier mag 
vielmehr jedermann seine Interessen selbst wahrnehmen, 
hier wird fingiert, dass der Reiche und der Arme sich 
als ebenbürtige Vertragsteile gegenüberstehen, hier 
herrscht mit einem Wort das rein privatrechtliche Sy- 
stem der Vertragsfreiheit. Wie sich das vom rnnzip 
der Vertragsfreiheit beherrschte Obligationenrecht im 
einzelnen gestaltet, soll in der folgenden Abhandlung 
dargestellt werden. 



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145 



Vierte Abteilung. 

Das Obligationenrecht des Entwurfs eines bürger- 
lichen Gesetzbuchs für das deutsche Reich. (Das 
Recht der Schuldverhaltnisse.) 

XXXVI. 

Der Entwurf regelt in seinem zweiten Buch (Recht 
der Schuldverhältnisse) jene Obügationen, welche aus 
Rechtsgeschäften unter Lebenden, namentlich auch aus 
Verträgen, femer aus unerlaubten Handlun- 
gen, endlich drittens »aus anderen Gründen« ent- 
springen. Nach der Absicht der Verfasser hat das zweite 
Buch ihres Entwurfs keineswegs die 13estimmung, alle im 
bürgerUchen Rechte vorkommenden Schuldverhältnisse 
ZU behandeln. Vielmehr sind die Obligationen, welche 
aus Sachen-, familien- und erbrechtlichen Verhältnissen 
entstehen, in den betreffenden Büchern geregelt, und 
es sollen nach den Motiven (II, 4) nur die allgemeinen 
T.eht en , welche das zweite Buch über die Schuldver- 
hältni^se überhaupt aufstellt, auch auf diese Fälle An- 
wendung finden. 

Tatsächlich ist das Obligationenrecht, wie es uns 
der Entwurf und so zahlreiche wissenschaftliche und 
gesetzgeberische Arbeiten bieten, ein rein geschicht- 
licher Sammelbegrifif, der noch heute im wesentlichen auf 

M e n g e r , Das bürgerl. Recht. 4. Auti. I O 



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146 



dem römischen Satze beruht, dass jedes Schuldverhältnis 

entweder aus einem VertraLj oder aus einer unerlaubten 
Handlung entspringt. Hieran hat sicli allerdings schon 
bei den Römern, noch mehr aber in der neueren Rechts- 
bildung eine dritte Gruppe angeschlossen, welche jene 
Schuldverhäitnisse umfasst, die »aus anderen Gründen«, 
z. 5. aus einer ungerechtfertigten Bereicherung, aus 
einer Geschäftsführung ohne Auftrag entstehen. Allein 
einesteils sind diese Obligationen sehr leicht im Ver- 
tra^^srecht unterzubringen, wenn man die Verträge nicht 
bloss nach juristischen, sondern auch nach wirtschaft- 
lichen Rücksichten gruppiert, und dann ist diese dritte 
Gruppe — eine blosse Verlegenheitskategorie — vom 
Standpunkt der sozialen Massenwirkungen ohne grosse 
Bedeutung. 

Alle wichtigeren Schuldverhältnisse entspringen 
also entweder aus einem Vertrag oder aus einer uner- 
laubten Handlung. Aber hat auch diese uralte Zusam- 
menstellung mehr als historische Bedeutung? Diese 
Frage ist nach meiner Auffassung zu verneinen. In 
dem Obligationenrecht eines bürgerlichen Gesetzbuchs 
ist vielmehr nur das Vertragsrecht m WTbindung mit 
jenen Obligationen zu regeln, welche -^aus anderen 
Gründen« entstehen; die Darstellung der Schadenersatz- 
Verpflichtungen, die aus unerlaubten Handlungen ent- 
springen, wird richtiger aus dem System des bürger- 
lichen Rechtes volbtand^ ausgeschieden. 

Die richtigste Stellung würde die Schadenersatzver- * 
pflichtung in einem allgemeinen Gesetzbuch über die 
unerlaubten Handlungen finden , welches neben den 
Straf bestimmungcn des allgemeinen, sowie des Polizei- 
und Verwaltungsstrafrechts auch noch die privatrecht- 



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147 



liehen Normen über den Schadenersatz aus unerlaubten 
Handlungen zu umfassen hätte. Nur die Bestimmungen 
über die Schadenersatzverpflichtung, weiche daraus 
entsteht, dass der Schuldner eine vertragsmassige Ob- 
ligation entweder £^ar nicht oder doch nicht gehörig 
ertüUt , wäicn Ucni bürgerlichen Gesetzbuch vorzube- 
halten. 

Nur in einem solchen allgemeinen Gesetzbuch über 
die unerlaubten Handlungen könnte der Gesetzgeber 
die zivil- und strafrechtlichen Folgen der einzelnen Ver- 
gehen in das richtige Verhältnis bringen, um einerseits 

die von dem Schuldigen bey ani^ene Interessenverletzung 
nach Möglichkeit wieder gulzuinachcn und anderer- 
seits der Wiederholung ähnlicher Handlungen wirksam 
vorzubeugen. Gegenwärtig fehlt es in der Wissenschaft 
wie in der Gesetzgebung an einem solchen Zusammen- 
wirken des Zivil- und Strafrechts. Und zwar sind es 
naturgemäss die Interessen der besitzlosen Volksklassen, 
welche bei diesem Zwiespalt zwischen der Zivil- und 
Strafgesetzgebung ihre gerechte Befriedigung nicht er- 
langen können. 

Jede unerlaubte Handlung richtet sich entweder 
gegen die Person des Verletzten oder gegen sein Ver- 
mögen. Die Vermögensschäden, welche etwa den be- 
sitzlosen Volksklassen zugefügt werden können , sind 
natürlich ohne grosse soziale Bedeutung. Desto wich- 
tiger sind für sie die persönlichen Güter, die ja regel- 
mässig ihr einziges Besitztum sind : das Leben , die 
körperliche Unverletztheit, die Gesundheit, die Freiheit, 
die Ehre mit Einschluss der Frauenehre , die Arbeits- 
kraft, die Sittlichkeit. Von diesen persönlichen Gütern 
sind namentlich jcuc, welche (wie die Arbeitskraft und 

10* 



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148 



die Frauenehre) den Gegenstand grosser Interessenkon- 
fiikte zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen 
bilden, weder im Zivil- noch auch im Strafrecht, weder 
gegen die Schädigung in Vertragsverhältnissen, noch 

auch gegen unerlaubte Handlungen hinreichend ge- 
schützt. Hier ist deshalb das Gebiet, wo die bcbitz- 
losen Volksklassen die gerechtesten Rückforderungs- 
ansprüche erheben können 

Freilich wird dieser unbefriedigende Rechtszustand 
in erster Reihe durch die einseitige Vorliebe unserer 
bürgerlichen Gesetzgebung für die Interessen der be- 
sitzenden Volksklasscn herbci^ctührt. Schon oben 
(XX und folg.) habe ich gezeigt, wie wenig die Ehre 
der ärmeren Frauenspersonen durch die geltende Ge- 
setzgebung geschützt ist und ähnUche Beweise in an- 
derer Richtung sollen im weiteren Laufe dieser Dar- 
stellung noch geliefert werden. Schwerlich wäre aber 
diese schroffe Einseitigkeit in einem allgemeinen Ge- 
setzbuch über die unerlaubten Handlungen möglich 
gewesen , wo der erste Blick die Zurücksetzung der 
persönlichen Güter der Besitzlosen im Vergleiche mit 
den Vermögensinteressen der Reichen zeigen würde. 
Werden dagegen die zivilrechtlichen Folgen der uner- 
laubten Handlungen in einem Abschnitt des privatrecht- 
lichen Vcrmü,L;cnsrechls behandelt, so ist es ganz na- 
türlich, dass in den Bestimmungen über den Schaden- 
ersatz vorzüglich die Verletzungen der Vermögensin- 
teressen ins Auge gefasst werden. 

Tatsächlich stellt denn auch der Entwurf (§221)^ 
den wichtigen Grundsatz auf, dass eine Entschädigung 



» § 253 BGB. 



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149 



wegen eines andern als eines Vermögensschadens nur 
in den vom Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden 
kann. Eine dieser Ausnahmen haben wir schon früher 
(XXV) kennen gelernt, indem der Richter, wenn der 

uneheliche Beischlaf durch eine Notzucht oder bestimmte 
schwere Sittlichkeits verbrechen herbeigeführt worden 
ist, der geschwächten Frauensperson auch ohne Nach- 
weis eines Vermögensschadens eine billige Gcldcnt- 
schädigung zusprechen kann (§ 728 d. Entw.)^. Die- 
selbe Befugnis wird dem Richter nach dem Entwurf 
auch im Falle einer vorsätzlichen oder fahrlässigen 
Körper- und Gesundheits- Verletzung, einer vorsätzlichen 
oder fahrlässigen hVeiheitsent/Jehung und in einigen 
anderen Fällen zustehen (§ 726, 727 des Entw. u. s. f.) 
Aber immer bleibt die Regel bestehen, dass im Scha- 
denersatzrecht nur die Vermögensinteressen der be- 
sitzenden Bevolkerungsschichten vollen Schutz finden, 
und so natürlich dieser Rechtssatz in einem Schaden- 
ersatzrecht erscheint, welches einen Bestandteil des 
privatrechtlichen Vermögensrechts bildet, so wird doch 
das Obligationenrecht dadurch von vornherein zu Un- 
gunsten der besitzlosen Volksklassen in dem entschei- 
dendsten Punkte beeinflusst 

Wie unzweckmässig es ist, zwei so verschieden- 
artige Rechtsgebiete, wie das Y( itrags- und das Scha- 
denersatzrecht in dem ^gemeinsamen Rahmen des Obli- 
gationcnrcchts zusammenzufassen, mag auch noch fol- 
gende Erwägung beweisen. Unser heut^es Vertrags- 
recht ist nichts als die privatrechtliche Organisation 
der Arbeit; in die grosse Arbeitsgemeinschaft, welche 



* Vgl, § 847 Abs. 2 BGB. « § 847 Abs. i BGB. 



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ISO 

die Arbeitenden aller Länder verbindet, wird nach der 
privatrechtlichen Aiiffa'-sung dadurch Ordnung und Zu- 
sammenhang gebracht, dass die einzelnen Mitgheder 
jener Gemeinschaft sich durch formell freie Verträge 
gegenseitig unterwerfen. Diese Gesellschaftsform trägt 
einen rein positiven Charakter; in dem sozialistischen 
Staate würde an ihre Stelle die völlig verschiedene 
Arbeitsorganisation durch Befehl des Staates, der Ge- 
meinden, der Arbeitergruppen treten, von welchen Or- 
^anisationsfornien wir in dem Militär- und Beamten- 
wesen unserer Zeit schon deutliche Spuren wahrnehmen 
können. Dagegen könnte ein Gesetzbuch über die un- 
erlaubten Handlungen, so grosse Aenderungen sich 
auch beim Uebergang von dem Rechts- und Polizei- 
staat zu dem Arbeits- und Wirtschaftsstaat in Betreff 
des Tatbestandes der Vergehen und ihrer Folgewirkungen 
ergeben würden, doch in seinem Wesen unverändert 
fortbestehen — einfach aus dem Grunde, weil die Nor- 
men über die unerlaubten Handlungen zu dem Privat- 
recht in keinem inneren Zusammenhang stehen und 
weil namentlich auch das Schadenersatzrecht ohne jede 
Berechtigung in den Körper des Obligationenrechts 
eingefügt worden ist'. 

xxxvn. 

Dem gesamten Obligationenrecht, namentlich aber 
dem Vertragsrecht, liegt das Prinzip der Vertrags- 
freiheit zu Grund. »Vermöge des Prinzips der Ver- 
«tragsfreiheit, von welchem das Recht der Schuldver- 
»hältnisse beherrscht wird, können die Parteien ihre 

» Vgl. M enger, Neue Suatslehre (1903) II, 9- 



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15» 



^Rechts- und Verkehrsbczichiin<^cn nach ihrem Kr- 
^ messen mit obligatorischer Wirkung unter sich be- 
»stimmen, soweit nicht allgemeine oder bestimmte ein> 
»zelne Gesetzesvorschriften en^egenstehen« (Mot. II, 2). 

Die Verfasser des Entwurfs haben es unterlassen, 
eine Begründung dieses Prinzips zu versuchen, offenbar 
weil sie sich bewusst waren, dass eine solche sie m 
gefährliche Tiefen führen wurde. Der wahre Gnmd 
der Vertragsfreiheit ist ohne Zweifel (wie bereits oben 
gezeigt wurde), dass vorzüglich auf dem Gebiete der 
Schuidverhäitnisse der Zusammenstoss der wirtschaft- 
lichen Interessen zwischen den besitzenden und den 
besitzlosen Klassen erfolgt und dass den ersteren durch 
jenen Grundsatz bei der Erhebung des arbeitslosen 
Einkommens freie Hand gelassen werden soll. 

Wir sehen denn auch, dass in jenen Rechtsge- 
bieten, wo ein ähnlicher Interessengegensatz der beiden 
grossen Volkskreise fehlt, nicht das Prinzip der Ver- 
tragsfreiheit, sondern dessen Gegenteil gilt. So vor 
allem auf dem Gebiet des Sachenrechts, wo sich die 
besitzenden Volksklassen gewissermassen unter sich 
befinden. Hier sind deshalb die einzelnen dinglichen 
Rechte von dem Gesetz nach Zahl und Inhalt genau 
bestimmt, obgleich keinem Zweifel unterliegt, dass da- 
durch den mannigfachsten individuellen Bedürfnissen 
die Befriedigung verweigert wird. »Es kann den Be- 
»teiligten nicht freistehen, sagen die Motive, jedem be- 
> liebigen Rechte, welches sich auf eine Sache bezieht, 
»den Charakter des dinglichen Rechtes zu verleihen. 
»Der Grundsatz der Vertragsfreiheit, welcher das Obli- 
»gationenrecht beherrscht, hat für das Sachenrecht keine 
»Geltung. Hier gilt der uiiigckchrie Grundsatz : die Be- 



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152 



»teiligten können nur solche Rechte begründen, deren 
»Begründungen das Gesetz zulässt. Die Zahl der ding- 
»Hchen Rechte ist daher notwendig (?) eine geschlossene « 
(Mot. III, 3). 

Nicht anders verhält es sich auf dem Gebiete des 
Familienrechts, wo sich gleichfalls in der weit über- 
wiegenden Zahl von Fällen Personen von gleicher 

Lebensstellung gegenüberstehen. Auf die drei Haupt- 
t im ichtungen des Familienrechts : die Ehe, das Rechts- 
verhältnis zwischen den Eltern und ihren ehelichen 
Kindern, endlich auf die Vormundschaft findet das 
Prinzip der Vertragsfreiheit keine Anwendung. Die Ehe 
wird zwar durch einen Vertrag begründet; ist aber 
dieser einmal geschlossen, so werden die persönlichen 
Rechte der Ehegatten durch das Gesetz bestimmt Die 
beiden anderen Hauptinstitute des Familienrechts! das 
Kindesverhältnis und die Vormundschaft sind der Will- 
kür der Beteiligten fast vollständig entzogen. Ja selbst 
bei jenen vermögensrechtlichen Ansprüchen, welche 
unmittelbar aus dem Familienverhältnis entspringen, 
nämlich bei dem Unterhaltsanspruch der Ehegattin und 
der ehelichen Kinder, kann das Prinzip der Vertrags- 
freiheit keine Geltung beanspruchen, indem beide kraft 
des Gesetzes (§ 1495 d. Entw.)^ auf ihren Unterhalts- 
anspruch für die ZukuiilL i cchtswirksam nicht verzichten 
können. 

Dort aber, wo auf dem Gebiete des I'^amilienrcchts 
ein Zusammenstoss der Interessen zwischen den be- 
sitzenden und besitzlosen Voiksklassen stattfindet, näm- 
lich bei den unehelichen Kindern, kommt freilich auch 



* § 1614 BGB. 



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153 



der Grundsatz der Vertragsfreiheit sofort zum Vorschein. 
Denn ein Vertrag und insbesondere ein Vergleich zwi- 
schen dem Vater und seinem unehelichen Kinde über 
den Unterhaltsanspruch des letzteren ist nach dem 
Entwurf (§ 1576)^ vollständig gültig. Hievon ist schon 
oben (XXVI) ausführlich die Rede gewesen. 

Aus dieser Richtung der Privatrechtsgeset^ebung, 
welche sich bisher ausschliesslich in den Händen der 
wohlhabenden und gebildeten Bevölkerungsschichten 
befand, können die besitzlosen Volksklassen für ihr 
eipjencs Verhalten ungemein viel lernen. Denn wenn 
die Besitzenden, welchen man ein feines Gefühl für ihre 
Privatinteressen gewiss nicht absprechen kann, dem 
Prinzip der Vertragsfreiheit auf dem Gebiete des Sachen- 
und des Familienrechts eine so beschränkte Deutung 
unterlegen, so müssen die besitzlosen Volksklassen auf 
dem sie vorzüglich interessierenden Rechtsgebiet : dem 
Obligationenrecht eine ähnliche Richtung verfolgen. 
Zwar müssen die Schuldverhältnisse, solange die Or- 
ganisation der Arbeit ihren heutigen privatrechtlichen 
Charakter festhält, regehnässig durch Vereinbarung der 
Parteien begründet werden; allein die Gesetzgebung 
hat auch für die wichtigeren Vertragsverhältnisse (ge- 
rade so wie im Sachen- und Familienrecht) einen typi- 
schen Inhalt festzusetzen, innerhalb dessen sich die freie 
Willkür der BeteiUgten zu bewegen hat Diese Be- 
stimmung eines festen und unantastbaren Bestandes, 
gleichsam eines Minimum von Wohlwollen und Mensch- 
lichkeit in den Verkehrsbeziehungen der Staatsbürger, 
ist namentlich bei jenen Vertragsverhältnissen uner- 

' § 17 14 BGB. 



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154 



]ässlich, welche, wie der Lohnvertrag, regelmässig zwi- 
schen wirtschaftlich sehr starken und sehr schwachen 

Personen abgeschlossen werden. Längst ist in dieser 
Richtung die Gewerbe- und Fabrikgesetzgebung der 
europäischen Kulturstaaten vorangegangen (vgl. z. B. 
die deutsche Gew.-Ord. von 1883 § 105 und es 
wäre hoch an der Zeit, wenn auch das Privatrecht seinen 
trägen Konservatismus überwinden und dem vom öffent- 
lichen Recht gegebenen Beispiel folgen würde. 

Freilich wird man dagegen einwenden, dass die 
Verkehrsbedürfnisse so individueller Natur sind, dass 
sie nur durch die volle Vertragsfreiheit gehörig befriedigt 
werden können. In Wirklichkeit haben jedoch die Ver- 
kehrsbedürfnisse in unserer Zeit der Massenproduktion 
und der Nivellierung aller Lebensverhältnisse einen noch 
schablonenhafteren Charakter als die individuellen Le- 
benszwecke, welchen das Sachen- und das Familien- 
recht zu dienen bestimmt ist. Wenn nun diese Rechts- 
gebiete eine so einschneidende Beschränkung des Prin- 
zips der Vertragsfreiheit gestatten, so kann uns die 
Anwendung dieses Grundsatzes auch innerhalb des 
Obligationenrechts nicht als ein unabweisbares Bedürfnis 
der Rechtsordnung erscheinen. 

XXXVIil. 

Aber ist das Prinzip der Vertragsfreiheit auf dem 

Gebiet des Obligationenrcchts wirklich in unbeschränkter 
Anwendung? Diese I'>age ist zu verneinen, vielmehr 
hnden sich in unseren modernen Gesetzgebungen zahl- 
reiche Rechtssätze, welche einzelne Verträge oder Ver- 

> § 105 ff. GO. V. 1900. 



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155 



tragsbestimmungen zu Gunsten gewisser Volksklassen 
verbieten und für nichtig erklären. Ich will hier nur 
diejenige Einrichtung, welche vom Standpunkt der so- 
zialen Massenwirkunt^en allein von Bedeutung ist, nämlich 
die Strafgesetze über den Wuch er in Betracht ziehen. 

Nach dem Entwurf (§ 3 58) * können Zinsen in jeder 
Höhe durch Vertrag bedungen werden, soweit nicht 
reichsgesetzliche Vorschriften über den Wucher ent- 
gegenstehen. Das Gesetz betreffend die vertragsmäs- 
sigen Zinsen vom 14. Nov. 1867, welches den Zinssatz 
völlig freigab, aber eine mit mehr als sechs Prozent 
verzinsliche Schuld auf seiten des Schuldners als ab- 
solut kündbar erklärt, wird durch das Einführungsge- 
setz (Art. 21)' aufgehoben. Dagegen soll nach einer 
Bestimmui^ dieses Gesetzes (Art. 9 und Mot. S. 134)^ 
das Strafgesetz über den Wucher vom 24, Mai 1880 
auch nach eingetretener Wirksamkeit des bürgerlichen 
Gesetzbuchs fortbestehen. Danach wird derjenige, wel- 
cher »unter Ausbeutung der Notlage, des Leichtsinns 
3 oder der Unerfahrenheit eines anderen für ein Dar- 
liehen oder im Falle der Stundung einer Geldforderung 
>sich oder einem dritten VermögensvorteUe versprechen 
>oder gewähren lässt, welche den üblichen Zinsfuss 
•»dergestalt uberschreiten, dass nach den Umständen 
'des Falles die Vermögensvorteile in auffälligem Miss- 
»verhältnisse zu der Leistung stehen«, — eine solche 
Person wird nach jenem Gesetze mit vergleichsweise 
sehr schweren Geld- und Ge&ngnisstrafen bedroht, und 
es werden die Verträge, welche unter die angeführten 
Merkmale fallen, für ungültig erklärt. Nach dem bür- 



' Vgl. § 247 BGB. a Vgl. § 347 BGB. » ArU 32 EG. 



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156 

gerlichen Gesetzbuch wird sich also bei dem Darlehen 
und bei der Stundung von Geldforderungen jedermann 
beliebige Zinsen bedingen können, nur muss er die 
dehnbaren Strafbestimmungen des Wuchergesetzes zu 
vermeiden wissen ; es wird in Beziehung auf die Zinsen 
die Vertragsfreiheit herrschen, aber, um das alte Wort 
zu gebrauchen, eine Freiheit mit dem Galf^en daneben. 

Bekanntlich hat das kanonische Recht auf Grund 
einer missverstandenen Bibelstelle das Zinsnehmen bei 
Darlehensverträgen vollständig verboten. An die Stelle 
des kanonisdien Zinsverbots traten später, etwa seit 
dem sechzehnten Jahrhundert» genaue Zinstaxen und 
diese sind jetzt, nachdem in Deutscliland und Oester- 
reich geraume Zeit volle Zinsfreiheit bestanden hatte, 
durch das Strafgesetz gegen den Darlehens wucher er- 
setzt worden. 

Aeltere und neuere Volkswirtschaftslehrer \ ersi ehern 
uns, dass das kanonische Zinsverbot in der Gebunden- 
heit des Grundbesitzes und in der vorherrschenden 
Naturalwirtschaft des Mittelalters seine Rechtfertigung 
findet (weil unter solchen Verhältnissen die meisten 
Darlehen eben Notstandsdarlehen sind), und man könnte 
versucht sein zu glauben, dass auch die heutige Wucher- 
gesetzgebung noch immer lediglich auf dieser geschicht- 
lichen Grundlage beruht. Die Tatsache indessen, dass 
Deutschland imd Oesterreich die bereits bestehende 
Zinsfreiheit wieder beseitigt und die Strafgesetze gegen 
den Wucher neuerdings eingeführt haben, lässt deutlich 
erkennen, dass die Wuchergesetzgebung nicht auf jenen 
längst entschwundenen wirtschaftlichen Zuständen, son- 
dern auf sehr reellen Machtverhältnissen der Gegenwart 
gegründet ist 



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157 



Denn tatsächlich hat die Strafgesetzgebung gegen 
den Wucher v »iherrschend den Zweck, gewisse sozial 
hervorragende Gruppen, namentlich die Grund- und 
Hausbesitzer, die Staatsdiener und Offiziere gegen die 
Folgen ihres Leichtsinns zu schützen. Diese Bevöi^ 
keningsschichten zählen vorzüglich zu den sogenannten 
gebildeten Klassen und empfangen teils einen hohen 
Arbeitslohn, teils ein oft erhebliches arbeitsloses Ein- 
kommen; wenn sie daher aus Leichtsinn, Unerfahren- 
heit oder Notlage verderbliche Darlehensverträge ab- 
schliessen, so fehlt es fast niemals an einer individuellen 
Verschuldung. Dagegen können die Strafgesetze gegen 
den Wucher den besitzlosen Volksklassen, bei welchen 
Unerfahrenheit, Notlage und auch Leichtsinn naturge- 
mäss den gewöhnlichen Zustand bilden» nur in den 
seltensten Fällen nützen, weil die ärmeren Bevölkerungs- 
schichten eben wegen ihrer Dürftigkeit regelmässig das 
zum Abscliluss von Kreditvcrträo-en notwendige Ver- 
trauen nicht einflössen. Bei dem Pfandleihgeschäft aber, 
an welchem sich allerdings auch die besitzlosen Volks- 
klassen beteiligen, müssen wegen der mit dem Em- 
pfang, der Aufbewahrung und der Rückstellung des 
Pfandes verbundenen Kosten so hohe Zinssätze be- 
willigt werden, dass die Anwendung des Wucherbe- 
griffs hier praktisch fast ausgeschlossen erscheint. Ich 
erwähne nur das preussische Gesetz vom 17. März 1881 
über das Pfandleihgewerbe, welches dem Pfandleiher 
bei kleineren Darlehen (bis 30 Mark) nicht weniger als 
24 Prozent jährlich und dazu noch eine sehr günstige 
Berechnung der Darlehenszeit (§ i, 2 Z. 3 d. Ges.) ge- 
stattet und das gleichwohl nach dem Einführungsge- 



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IS« 

setz (Art. 47)* aufrecht erhalten werden soll. 

])icse Lagerung der sozialen Interessen lässt uns 
nun deutlich erkennen, weshalb die Wuchergesetzgebung 
seit jeher sich gerade den Darlehensvertrag als das 
Feld ihrer Wirksamkeit erkoren hat. Es sollte dadurch 
eben ein FrivUegium für gewisse Kreise der höheren 
und mittleren Volksschichten geschaffen werden. Da- 
gegen wurde die neuere Wuchergesetzgebung auf jene 
Verträge, an welchen auch die besitzlosen Volksklassen 
ein bedeutendes Interesse nehmen, nauieiitlich auf den 
Lohn-, Kauf-, Miet- und Pachtvertrag niemals ausge- 
dehnt, obgleich hier der Tatbestand des Wuchers 
naturgemäss viel häufiger vorkommt, als bei dem Dar- 
lehensvertrag ^. 

Dass die besitzlosen Volksklassen diese Verträge 
sehr oft in einer Notlage, aus Leichtsinn und Uner- 
fahrenheit abschliessen, wud gewiss niemand bestreiten. 
Aber auch eine Ausbeutune^ dieser Sachlage, welche 
den schlimmsten Fällen des Darlchenswuchers gleich- 
kommt oder sie übertrifft, wird hier in zahllosen Fällen 
vorkommen. Ich erinnere nur an die schweren Be- 
drängnisse, welche grosse Proletariermassen in den 
Städten bei vorhandener Wohnungsnot leiden; an die 
Ausnützung der kleinen Leute, welche durch die Pach- 
tung von Grundparzellen eine ständif^e Arbeitsgelegen- 
heit suchen; an die furchtbare Benachteilung der be- 
sitzlosen Volksklassen durch einen gewissenlosen Klein- 
handel. Am krassesten sind natürlich die Fälle der 
Ausbeutung beim Lohnvertrag, wo die Nötigung zu 
schnellem Vertragsabschluss beim Proletarier, welcher 



^ Art. 94 EG. • Vgl. § 302 6 StGB. 



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159 



keine Subsistenzmittel besitzt, eine besonders dringende 

ist. Dennoch ist die Gesetzgebung weit davon entfernt, 
diese dem Armen verderblichen Verträge unter die 
Strafandrohungen geg^en den \\'iichcr zu steilen. Erst 
der neueste Entwurf eines österreichischen Straf<;c- 
setzes vom Jahre 1889 317, 318) hat es versucht, 
den Wucherbegriff auf einzelne Vertragsverhältnisse 
anzuwenden, weiche auch für die ärmeren Bevölkerungs- 
schichten von Bedeutung sind. 

Die besitzlosen Volksklassen haben nach meiner 
Auffassung einen begründeten Anspruch, die Ausdeh- 
nung der Wuchergesetzt auf den Lohn-, Kauf-, Miet- 
und Pachtvertrag zu verhuigen^ Freilich gehörmi die 
Straf bestimmungen gegen den Wucher überall zu jenen 
Gesetzen, welche viel mehr verletzt als befolgt werden, 
und wenn dieselben auch den kiteressen der Armen 
zu dienen hätten, so würde sich diese Sachlage gewiss 
noch eher verschlimmern. Dennoch würde aber eine 
solche Ausdehnung der Wuchergesetese die Stellung 
jedes Besitzlosen jurfetisch und moralisch erheblich ver- 
bessern und zwar gerade bei jenen Anlässen, wo seine 
wirtschaftliche Lage unter das Niveau der gewöhnlichen 
Bedrängnis zu sinken droht. 



In Uebereinstimmung mit diesen Erörterungen hat 
der § 138 BGB. alle wucherischen Rechtsgeschäfte 
(nicht bloss die Kreditverträge) für nichtig erklärt. 

Ebenso hat das Gesetz vom 26. März 1893 die Wucher- 
strafen auch auf den Lohn-, Kauf-, Miet- und Pacht- 
wucher {den sogenannten Sachwucher) ausgedehnt 302 



^ Vgl. § 138 BGB., § 302 e StGB. 



i€o 

lit. e StGB,). Doch hat diese Strafbestixnmung nur 
einen geringen praktischen Wert, weil die Bestrafung 
des Sachwuchers, im Gegensatz zum Kreditwucher bloss 
dann eintreten soll, wenn er ge werbe- oder gewohn- 
heitsmässio; betrieben wird. Der soziale Hinter- 
grund dieser seltsamen Unterscheidung ist ohne Zweifel 
die Tatsache, dass höhergestellte Personen gar oft 
einzelne Akte des Sachwuchers b^ehen» dass ihnen 
aber fast niemals eine gewerbe- oder gewohnheitsmäs- 
sige Handlungsweise dieser Art nachgewiesen werden 
kann. 

XXXIX. 

Der wichtigste Vertrag für den Standpunkt, dem 
diese Blätter gewidmet sind, ist der Lohnvertrag, 
welcher in dem Entwurf, der naturgemäss mehr die dem 

Lohnherrn zugewendete Seite des Rechtsverhältnisses 
ins Auge fasst, überall als I^ienstvertrag bezeichnet 
wird^ Ich habe schon in einem früheren Abschnitt 

* Die in dtn folgenden Abschnitten Yertretenen Ansichten aber 
die Refonn des Lohnverttags worden bei ihrem ersten Erscheinen (1889) 
vielfach als zu radikal angefochten. Schwerlich wird jemand noch 
heute diesen Vorwurf erheben, nachdem unterdessen Kaiser Wilhelm XI, 
ganz ähnliche Gedanken in sein soxiales Reformprogramra aufgenom- 
men hat. Die kaiserlichen Erlasse vom 4. Februar 1890 erklären aus- 
drücklich, >da5is es eine Aufgabe der Staatsgewalt ist, die Zeit, 
»die Dauer und die An der Arbeit so zu regeln, dass die Er- 
»haltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit, die 
>wi r t s c h a f 1 1 i c h e n Bedürfnisse der Arbeiter und ihr An- 
»sprueh auf gesetzliclie (Gleichberechtigung gewahrt 
>bleiben«. So wahr ist es, dass in Zeiten rasclier gc-isiigcr Bewegung, 
wie die uusrige, der Radikale von gestern der Konservative von 
heute ist. Ich hoffe auch in betreff der ttbrigen Refoimvoiscfalige 
dieser Schrift, welche noch jetzt gar manchem als zn weit gehend 
cf scheinen, einen ähnlichen Umschwung der Ansichten an erleben. 



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i6i 

(XiX) gezeigt, dass der Entwurf das Lohn- oder Dienst- 
verhältnis, obgleich die ungeheure Mehrheit der Besitz- 
losen, ja die grosse Mehrheit der ganzen Nation darauf 
ihre Existenz gründet, in acht nach Umfang und Inhalt 
höchst dürftigen Paragraphen abgetan hat K Kerne der 
grossen Streitfragen, die sich an das Lohnverhältnis 
knüpfen, ist in dem Abschnitte des Entwurfs über den 
Dienstvertrag gelöst oder auch nur in den Motiven 
(II, 455 ff.) erwähnt, welche letzteren geradezu als ein 
abschreckendes Beispiel für die Begrenztheit des rem 
juristischen Standpunktes dienen können. 

Freilich soll der Dienstvertrag auch in Zukunft 
nicht bloss durch jene acht Paragraphen des Entwurfs 
geregelt werden. Die Bestimmungen, welche das Han- 
delsgesetzbuch und die Gewerbeordnung über die han- 
dels- und gewerberechtlichen Dienstverhältnisse treffen, 
sollen nach dem Einfühningsgesetz mit einigen Aen- 
dcrungen fortbestehen (Art. 9 und dazu die Anni., 
ferner Art. 18 des Einführungsgesetzes und die Mot. 
S. 6y)^. Ebenso werden die landesgesetzlichen Vor- 
schriften über das Gesinderecht mit einigen gering- 
fügigen Ausnahmen durch das bürgerl. Gesetzbuch 
nicht berührt und es können von den einzelnen Bundes- 
staaten über dieses wichtige Rechtsverhältnis jederzeit 
neue Gesindeordnungen erlassen werden (Art. 46 des 
Emf.-Ges. und Mot. S. 148)». 

Wer noch daran zweifelt, dass die Rechtsordnung 
nichts als eine Summe von dauernd anerkannten Macht- 
verhältnissen ist, kann sich aus dieser Darstellung von 
der Wahrheit des Satzes überzeugen. Die gewerblichen 



> § 611-630 BGB. * Art. 33, 36 EG. * Art 95 EG. 
Meiiger, Das büirgerL Recht 4. Aufl. 1 1 



l62 



Arbeiter, welche durch ihre Organisation und Bildung 
eine gewaltige Macht im Staate darstellen, haben sich 
durch ihren Kinfluss eine Regelung ihrer Dienstverhält- 
nisse errungen, welche zwar noch entfernt nicht genü- 
gend ist, aber doch schon einen ganz modernen Gia- 
rakter an sich trägt. Hier werden deshalb auch die 
Keime einer neuen rechtlichen Gestaltung des Dienst- 
vertrags zu suchen sein. 

Dagegen weiss der Kntwui t dem Gesinde, welches 
zum überwiegenden Teile aus gedrückten und gedul- 
digen Frauenspersonen besteht, nichts als das Fortbc- 
stehen der Gesindeordnungen mit einigen erschwerenden 
Abweichungen zu bieten. Nun kann man aber mit 
gutem Grunde behaupten, dass kein Teil unseres Pri- 
vatrechtssystems so zurückgeblieben bt und so sehr 
an die Leibeigenschaft und an ähnliche gewalttätige 
Herrschaftsverhältnissc der feudalen Gesellschaftsord- 
nung erinnert, wie das Gesinderecht. Ja, was noch 
mehr ist, selbst die Volkssitte hat im Anschluss an eine 
überlebte Gesetzgebung den Geist vergangener Epochen 
festgehalten, da auch die Besten unter uns im häus- 
lichen Verkehr mit dem Gesinde nur zu häufig ver- 
gessen, dass ein Mensch niemals bloss als ein Mittel 
für die Zwecke anderer behandelt werden darf. 

Um die Wahrheit dieser Sätze zu erproben, brauche 
ich nur an die preussische Gesindeordnung vom 8. Nov. 
i8io zu erinnern, welche wohl von allen ähnlichen Ge- 
setzen das grösste Geltungsgebiet besitzt. Diese Ge- 
sindeordnung erschien am Vorabend jenes Martinstages 
(11. Nov. i8io), an welchem kraft des Edikts vom 9. 
Oktober 1807 die Erbuntertänigkeit, die von manchen 
mit der Leibeigenschaft für gleichbedeutend gehalten 



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i63 



wird, für den ganzen Umfang der preussischen Monar- 
chie erlosch. Das Gesetz sollte also auch für »Herr- 
schaften« gelten » welche soeben noch das Recht ge- 
habt hatten , ihren »Untertanen« die Kinder wegzu- 
nehmen und dieselben zum Hofdienst zu nötigen (A. 
Pr. LR. II, 7. 185 ff.). Dass die preiissischc Gesinde- 
ordnung den Geist einer vergangenen Zeit atmet, kann 
unter solchen Umständen niemand befremden. Aber 
soweit ich das Gesinderecht überblicke, kann man auch 
von den übrigen deutschen und österreichischen Ge- 
sindeordnungen, obgleich dieselben zum TeÜ aus einer 
viel späteren Zeit stammen, mit gutem Grunde behaup- 
ten, dass keine der heutigen Entwicklung des Verhält- 
nisses zwischen den besitzenden und den besitzlosen 
Volksklassen genügend Rechnung getragen hat. 

XL. 

Obgleich der Dienstvertrag in allen privatrecht- 
lichen Gesetzbüchern geregelt wird, so ist doch das 
Dienstverhältnis nicht wie bei anderen Vertragen der 
Willkür der Beteiligten vollständig überlassen, sondern 
es nimmt der Staat überall auf die Entwicklung des 
Rechtsverhältnisses durch seine Verwaltungsbehörden 
einen mehr oder weniger bestimmenden Einfluss. Nur 
die Dienstverhältnisse der höhergebildeten Arbeiter, 
z. B. der Privatsekietäre, Hofmeister, Gouvernanten be- 
halten meistens ihren rein privatrechtlichen Charakter, 
weÜ sich hier die VertragsteUe durch Bildung und Le- 
bensstellung näherstehen. Desto energischer wird die 
privatrechtliche Seite des Rechtsverhältnisses bei jenen 
Dienstverträgen durch die Tätigkeit des Staates ver- 
deckt und zurückgedrängt, bei welchen die mechanische 

II* 



i64 

Arbeit das vorherrschende Element bildet und die des- 
halb auch meistens nur von Angehörigen der besitz- 
losen Volksklassen abgeschlossen werden. Auch der 
deutsche Entwurf steht auf diesem Standpunkt, indem 
er neben den Bestimmungen des bürgerlichen Gesetz- 
buchs die fortdauernde Geltung des Gewerbe- und Ge- 
sinderechts festgesetzt hat. 

Gegen dieses Eingreifen des Staates in das Lohn- 
Verhältnis ist nun auch an und fQr sich nichts einzu- 
wenden. Durch die meisten Dienstverträge wird der 
Lohnarbeiter der Gewalt des Lohnherrn nicht nur nach 
einer bestimmten Richtunt>, sondern mit seiner ganzen 
Persönlichkeit unterworfen. Der gewerbliche Hilfsar- 
beiter, welcher 12 — 13 Stunden nach der Anordnung 
seines Dienstherrn zu arbeiten hat und kaum die nötige 
Zeit für den Schlaf und andere natürliche Verrichtungen 
erübrigt , kann doch kaum als ein freier , sich selbst 
bestimmender Staatsbürger gelten. Vollends das Ge- 
sinde, bei welchem das Mass der zu leistenden Arbeit 
regelmässig gar nicht bestimmt wird, ist der Herrschaft 
des Dienstherm mit Leib und Seele unterworfen. 

Hier zeigt es sich in voller Deutlichkeit, mit wel- 
chem Unrecht zahlreiche Juristen den Hauptunterschied 
zwischen den Verhältnissen des Familien- und des 
Obligationenrechts darin erblicken , dass der Mensch 
durch die ersteren mit seiner ganzen Persönlichkeit, 
durch die letzteren nur in bestimmten, aus seiner all- 
gemeinen Freiheit losgelösten Richtungen einem an- 
dern unterworfen wird. Denn kein unbefangener Be- 
urteiler wird in Abrede stellen, dass die Herrschaft, 
welche der Dienstherr über den Lohnarbeiter ausübt, 
nach Inhalt und Umfang viel strenger ist als jene» 



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165 



welche in unserer Zeit dem FamilieiAaupt über die 
Gattin und die Kinder, dem Vormund über das Mündel 
zusteht. 

Ueberau aber, wo cm privatiechtlichcr Vertrag ein 
solches Herrschaftsverhältnis in sich schliesst, ist ein 
Aiüass zum selbsttätigen Eingreifen des Staates ge- 
boten. Unsere Zeit, welche die letzten Reste des 
Patrimonialstaates abstreifen will, duldet nicht, dass 
ein Staatsbürger über den andern eine dauernde Herr- 
schaft ohne die Aufsicht und Lciuing des Staates ausübt. 
Von diesem Standpunkt aus hat sich die moderne Ge- 
setzgebung nicht i^cscheut, sogar in die Familienver- 
hältnisse der Staatsbürger in entscheidender Weise ein- 
zugreifen. Umsoweniger kann es befremden, dass der 
Staat auch das Herrschaftsverhältnis des Dienstherm 
über den Lohnarbeiter, die sich fremd, ja oft feindlich 
gegenüberstehen, seinem Einiluss in immer steigendem 
Masse unterworfen hat. 

Aber darüber können sich die besitzlosen Volks- 
klassen mit gutem Grunde beschweren , dass das Ein- 
greifen des Staates in das Dienstverhältnis, namentlich 
auf dem Gebiete des Gesinderechts, die einseitige Be- 
günstigung der besitzenden Klassen bezweckt. Der 
Lohnarbeiter muss sich seinen Dienstherm ohne Hilfe 
des Staates aufsuchen und mit ihm den Dienstvertrag 
abschliessen; hier, wo der Staat oder die staatlichen 
Verbände dem Arbeiter ungeheure Dienste leisten könn- 
ten, wird der privatrechtliche Standpunkt festgehalten. 
Sobald aber der Dienstvertrag abgeschlossen ist, setzt 
der Staat sofort seinen Polizeiapparat in Bewegung, 
um den Dienstpflichtigen in Gehorsam und Unter- 
würfigkeit zu erhalten. Ich erinnere nur an das Dienst- 



i66 



botenbuch, an die polizeiliche Bestrafung des Gesindes 
wegen Nichterfüllung oder nicht gehöriger Erfüllung 
des Dienstvertrags , an die Straflosigkeit der gering- 
^gigeren Beleidigungen, welche der Dienstherr dem 
Dienstboten zugefügt hat*. 

Die wichtigste dieser polizeilichen Massregeln ist 
jedenfalls das Dienstboten- und das Arbeitsbuch, wel- 
ches letztere in manchen Ländern (z. B. in Oesterreich) 
auch für grossjährige gewerbliche Arbeiter vorgeschrie- 
ben ist Das Dienstboten- und Arbeitsbuch ist der 
einzige Fall, wo über die Erfüllung privatrechtlicher 
Verträge unter öffentlicher Autorität ein Register ge- 
führt wird und wo die einfache Verletzung einer Ver- 
tragspflicht für das Fortkommen des Arbeit^] s kaum 
geringere Folgen nach sich zieht, als bei anderen Be- 
völkerungsschichten eine kriminelle Bestrafung. Dazu 
kommt noch, dass die Eintragungen in das Buch auf 
Grundlage der Aussagen des anderen Vertragsteils, 
wenngleich unter polizeilicher Kontrolle, erfolgen. 
SchwerHch würde ein Geschäftsmann aus den wohl- 
habenden Schichten der Gesellschaft bestehen können, 
wenn alle Personen , mit welchen er Verträge abge- 
schlössen hat, ihre Meinung über seine Vertragstreue 
in ein ähnliches Buch einzuzeichnen hätten. Ausnahms- 
einrichtungen dieser Art sind eben nur dann zu recht- 
fertigen, wenn man annimmt, dass die besitzlosen Volks- 
klassen den höheren Bevölkerungsschichten von vorn- 
herein zu Gehorsam und Unterwürfigkeit verpflichtet 
sind ; hält man dagegen die Arbeiter für einen gleicli- 
berechtigten Stand der Gesellschaft, so sind sie schlech- 

1 Vgl. die Preuss. Vcrordnmig vom 29. Sept. 1846; Preuss. Ges. ▼om 
24. April 1854; § 77 ff. der Fietiss. Gesindeordnang vom 8. Nov. 1810. 



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167 

I 

terdings zu verwerfen. 

Für die verwaltende Tätigkeit des Staates wäre 
auf dem Gebiet der Dienstverhältnisse ein rühmlicheres 
Ziel vorhanden, als jene in Unterwürfigkeit zu erhalten, 
welche schon durch ihre soziale Lage zum Gehorsam 
aufgefordert sind. Unsere gegenwärtige Arbeitsorgani- 
sation hat einen vorherrschend privatrechtlichen Cha- 
rakter, und es können deshalb die Dienstverhältnisse 
nur durch formell freie Verträge der Dienstherm und 
der Arbeiter begründet werden. Da jedoch der Staat 
kaum eine wichtigere wirtschaftliche Aufgabe hat, als 
die Arbeitsordnung des Volkes vor Störungen durch 
Arbeitslosigkeit und andere Verhältnisse zu bewahren, 
so hat er nach meiner Ansicht die Verpflichtung, die 
Mängel der privatrechtlichen Arbeitsorganisation da- 
durch zu mildem, dass er die Dienstherm und die Ar- 
beiter einander zuführt und an dem Abschluss des 
Lohnvertrages mitwirkt. Zu dieser vermittelnden Tätig- 
keit muss der moderne Staat, der das Transport- und 
Nachrichtenwesen zum grössten Teil in seiner Hand 
vereinigt, als besonders geeignet erscheinen. Zur Dar- 
legung der Einzelheiten dieses Planes ist hier, in der 
Kritik des bürgerlichen Gesetzbuchs, nicht der richtige 
Ort. Nur das mag bemerkt werden, dass jene ver- 
mittelnde Tätigkeit entweder autonomen Organen der 
Arbeiterschaft (etwa nach Art der französischen Ar- 
beitsbörsen) oder auch Staatsbeamten, jedoch mit voller 
Unabhängigkeit von den Dienstherrn, zu überlassen ist, 
da sonst eine weitere Steigerung des an sich schon 
übermässigen Einflusses dieser letzteren zu besorgen 
wäre (vgj^§ 97, Z. 2 Gew.-Ürdn. von 1883)^ 
' § 81 a Z. 3 GO. von 1900. 



i6S 
XLL 

Die ganze Einseitigkeit der rein juristischen Auf- 
fassung, welche der deutsclic Entwurf in Ansehung des 
Dienst- oder Lohnverhältnisses vertritt, geht aus der 
Begriffsbestimmung des Dienstvertrags im § 559 > hervor. 
Durch den Dienstvertrag — sagt die angeführte Ge- 
setzesstelle — wird derjenige, welcher die Dienste zu- 
sagt (Dienstverpflichteter), verpflichtet, dem anderen 
Vertragschliessenden (Dienstberechtigter) die verein- 
barten Dienste zu leisten, der Dienstberechtigte ver- 
pflichtet, dem Dienstverptiichteten die vereinbarte Ver- 
gütung zu entrichten. Die Verfasser des Entwurfs be- 
handeln also den Dienstvertrag gerade so wie etwa 
den Kauf kontrakt oder einen anderen Vertrag auf Lei- 
stung einer Sache. Sowie der Verkäufer nichts als 
das verkaufte Paar Schuhe, der Käufer nichts als den 
bedungenen Kaufpreis zu gewähren hat , so soll sich 
die Verpflichtung des Dienstherrn auf den Lohn , die 
des Arbeiters auf die vereinbarten Dienste beschränken. 

Diese Auffassung ist aber gewiss vollständig un- 
genügend. Schon bei Verträgen über einzelne, vorüber- 
gehende Dienstleistungen können diese von der Per- 
sönlichkeit des Arbeiters, die doch einen absoluten 
Wert besitzt, füglich nicht losgelöst werden. Vollends 
bei den Dienstverliältnissen , welche die Tätigkeit des 
Verpflichteten vollständig oder doch zum grössten Teil 
in Anspruch nehmen, wie namentlich bei den Verhält- 
nissen des städtischen und ländlichen Gesindes und der 
gewerblichen Lohnarbeiter, werden diese dem Lohn- 
herm nicht nur in Beziehung auf die einzelnen Dienst- 

^ § 611 BGB. 



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169 



leistunj^en, sondern mit ihrer ganzen Persönlichkeit 
unterworfen. Sie müssen nicht nur ilire ganze Arbeits- 
kraft nach den Anordnungen des Lohnherm verwenden, 
sondern sie müssen für seine Interessen oft genug auch 
ihre kostbarsten persönlichen Güter: das Leben, 
die Gesundheit, die Arbeitskraft, ja ihre Ehre und Sitt- 
lichkeit in Gefahr bringen. 

Für diese persönlichen Güter muss deshalb auch 
der Dienstherr innerhalb der Grenzen juristischer Ver- 
antwortlichkeit (Vgl. unten LH) dem Arbeiter haftbar 
erklärt werden. Der Dienstherr hat, soweit dies von 
ihm abhängt, dafür Sorge zu tragen, dass im Dienst- 
verhältnisse das Leben, der Körper, die Gesundheit, 
die Arbeitskraft, die Ehre und die Sittlichkeit des Ar- 
beiters nicht verletzt werden. Nach dem Entwürfe 
scheint es mir dagegen unzweifelhaft, dass der Dienst- 
herr, soweit nicht Spezialgesetze eintreten, ohne jede 
nachteilige Folge seinen Arbeiter vorsätzlich oder aus 
Fahriäss^keit in Krankheit und in den Tod treiben 
kann, wenn er nur die Grenzen der ihm durch den 
Dienstvertrag eingeräumten Rechte nicht überschreitet 
(S. auch § 124, Z. 5 Gew.-Ordn. von 1883)*. Denn 
die Bestimmungen des Entwurfs über den Dienstvertrag 
(S 559 bis 566) legen dem Dlen^-therrn in diesem Falle 
nicht einmal eine Schadenersatzpflicht auf, und die 
Anwendung der allgemeinen Normen über die Verbind- 
lichkeit zum Schadenersatz aus unerlaubten Handlungen 
ist gleichfalls ausgeschlossen, weil weder die Vertrs^- 
verhältnisse überhaupt, noch auch die schikanöse Aus- 
übung eines einzelnen Vertragsrechts diesen Bestim- 



^ Vgl. § 617—619 BGB.; § 133 d Z. 3 GO, v. 1900. 



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I/o 

mungen unterliegen (§ 224, 559, 704, 705 des Entw. 
und Mot. II, 726, 727)". 

Erst dadurch, dass die Rechte des Lohnherrn durch 
die Rücksicht auf die höchsten persönlichen Güter des 
Arbeiters begrenzt werden, streift der Lohnvertrag die 
letzte Erinnerung an die Sklaverei ab und erhält einen 
wahrhaft humanen Charakter, im Gegensatz zur Ver- 
mietung oder Verpachtung einer Sache, an welcher 
jeder vertragsmässige Gebrauch gestattet ist. In den 
Gewerbe- und Gesindegesetzen der modernen Kultur- 
Staaten finden sich schon manche Spuren jenes Rechts- 
satzes, aber zu einem dauernden Besitz kann derselbe 
erst durch seine Aufnahme in die bürgerlichen Gesetz- 
bücher werden. Und wenn eine solche Bestimmui^, 
welche gleichmässig durch die Gerechtigkeit, wie durch 
die fortschreitende jMacht der besitzlosen Volksklassen 
geboten ist, der Rechtfertigung durch eine juristische 
Formel bedürfte, so könnte man sagen : Treue und 
Glauben erheischen es bei Abschliessung des Dienst- 
vertrages, dass die persönlichen Güter des Arbeiters 
geschützt und dass im Falle des Schweigens der Dienst- 
verträge eine solche Vertragsbestimmung unterstellt 
wird. 

Eine solche Reform des Dienstverhältnisses ist 
gerade jetzt von der grössten Bedeutung. Die Kranken-, 
die Unfall- und die in der Ausfülirung begriffene Alters- 
imd Invaliditäts Versicherung, welchen bald auch die 
Witwen- und Waisenversicherung folgen soll, sind zwar 
Massregeln von der grössten Bedeutung, deren wohl- 
tätige Wirkungen in den Arbeiterkreisen bisher viel- 



» § 276 BGB. 



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171 



leicht noch unterschätzt werden. Aber es ist anderer- 
seits keinem Zweifel unterworfen, dass durch jene an 
sich wohltätigen Einrichtuiigen, wenn man bei einem 
Teil der Lohnherm eine selbstsüchtige Denkweise vor- 
aussetzt, die persönlichen Güter des Arbeiters erheblich 
gefährdet werden, weil die juristischen und moralischen 
Verpflichtungen, welche der Dienstherr früher 'gegen- 
über dem in seiner Arbeitskraft, seiner Gesundheit oder 
anderen persönlichen Gütern beschädigten Arbeiter zu 
erfüllen hatte, nunmehr durch die Zwangsversicherung 
zum grossen Teile auf die Krankenkassen, die Benifs- 
genossenschaften und die Landesversicherungsanstalten 
übertragen erscheinen. 

Hand in Hand mit der Ausbildung der öffentiichen 
Versicherung muss deshalb auch eine Verschailung der 
zivilreclitlichen Haftung für die persönlichen Güter des 
Arbeiters einhergehen. Könnten wir einen Augenblick 
vergessen, dass diejenigen, welche in Dienstverhältnissen 
stehen, unsere Brüder sind, so müsste uns zu einer 
solchen Umbildung des Zivilrechts schon die Erwägung 
bestinmien, dass das Arbeitskapital einer Nation ihr 
sachHches Vermögen an Bedeutung noch überwiegt 
und dass es deshalb m erster Reihe von dem öffent- 
lichen und dem Privatrecht geschützt werden muss. 

XLU. 

Der Dienstherr hat also, soweit dies von ihm ab- 
hängt, dafür Sorge zu tragen, dass im Dienstverhält- 
nisse das Leben, der Körper, die Gesundheit, die Ar- 
beitskraft, die Ehre und die Siulichkeit des Arbeiters 
nicht verletzt werden. Dieser Satz schliesst eine Reihe 
de^ wichtigsten Konsequenzen in sich. Ich beschränke 



1/2 



mich hier darauf, die Priimpten darzustellen und ent- 
halte mich, einen ins einzelne gehenden Gesetzesvor- 
schlag zu formulieren, weil dies eine Weitläufigkeit be- 

din^an würde, die ich an dieser Stelle vermeiden will. 

Vor allem darf also der Dienstherr die Arbeits- 
kraft, welche ihm durch den Dienstvertra«^ zur Ver- 
fügung gestellt wird, nur in dem Umfang und in der 
Weise gebrauchen, dass dadurch jene persönlichen 
Guter des Arbeiters nicht verletzt werden. Dieser Rechts- 
satz ist gleichsam das letzte Ziel, welchem jede volks- 
freundliche Reform des Lohnvertrages entgegenstreben 
muss. Bei höher qualifizierten Dienstpersonen (Sekre- 
tären, Hofmeistern, Ingenieuren u. s. f.), welche dem 
Dienstherrn sozial näherstehen, wird diese Rücksicht 
auf die persönlichen Güter des Arbeiters in der Volks- 
sitte längst beobachtet. Krst durch die Ausdehnung 
jenes Rechtssatzes auf alle Dienstverträge würde sich 
auch der gewöhnliche Lohnarbeiter aus einer blossen 
Arbeitsmaschine in eine gleichberechtigte Individualität 
verwandeln, die für ihre höchsten persönlichen Interes- 
sen Achtung und Rücksicht beanspruchen kann. 

In den modernen Gesetzgebungen ist eine Strö- 
mung wahrzunehmen, welche unzweifelhaft jenem Rt chts- 
satz entgegentreibt. Die Gesetzgebungen Oesterreichs 
und der Schweiz haben für bestimmte Gattungen von 
Arbeitern ein Maximum der Arbeitsdauer (Normalar- 
beitstag) festgestellt. Einschränkungen der Frauen^ und 
Kinderarbeit bestehen überall. Aber es ist klar, dass 
solche Rechtssätze, welche sich durch ihren mechanischen 
Giarakter der Verwaltungsroutine empfehlen, jenen zivil- 
rechtlichenGrundsatz niemals entbehrlich machen können. 

Eine zweite Konsequenz jenes obersten Grund- 



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173 



Satzes würde darin bestehen, dass der Dienstherr nach 
dem jeweiligen Stand der Erfahrung alle äusseren Vor- 
kehrungen zu treffen hat, um eine Verletzung der pcr- 
sönUchen Güter des Arbeiters zu verhindern. Hin ähn- 
licher Rechtssatz, wenngleich in geringerer Ausdehnung, 
findet sich schon in der deutschen Gewerbeordnung (§ 1 20 
Gew.-Ordn. v. 1883) ^ Daraach sind die Gewerbeunter- 
nehmer verpflichtet, alle diejenigen Einrichtungen her- 
zustellen und zu unterhalten, welche mit Rücksicht auf 
die besondere Beschaffenheit des Gewerbebetriebs und 
der Betriebsstätte zu tunlichster Sicherheit gegen Ge- 
fahr für Leben und Gesundheit notwendig sind. Eine 
einfache Erweiterung dieser in der Gewerbeordnung 
enthaltenen Bestimmung würde den obigen Kechtssatz 
ergeben. Denn es ist nicht abzusehen, warum die Ver- 
pflichtung zur Herstellung der notwendigen äusseren 
Vorkehrungen nur die Gewerbeunteraehmer und nicht 
auch andere Dienstgeber treffen- soll; femer warum 
nur das Leben und die Gesundheit und nicht auch 
andere persönliche Güter des Arbeiters, z. B. seine 
Arbeitskraft und Sittlichkeit (vgl. jetzt § I20b Gew.- 
Ordn. von 1900) geschützt werden. 

Endlich müsste drittens dem Dienstherra die 
Verpflichtung auferlegt werden, Wohnung, Kost und 
Bekleidung, wenn dieselben nach dem Dienstvertrage 
zu gewähren sind, dem Arbeiter in einer Weise zu 
leisten, dass dadurch die persönlichen Güter, nament- 
lich die Gesundheit, die Arbeitskraft und die Sittlich- 
keit, nicht gefährdet werden. Dies sollte sich zwar 
nach der Natur der Sache von selbst verstehen ; doch 
machen die den Lohnarbeitern vielfach ungünstigen 
1 § laoft— e GO. V. 1900. 



1/4 

Machtverhältnisse eine ausdrückliche Bestimmung jeden- 
falls erforderlich (vgl. § 83 der Preuss. Gesinde-Ord.). 

Ein bülchcr Rechtssatz würde, wenn für dessen gehö- 
rige Durchführung gesorgt wäre, zunächst vielleicht die 
grösste praktische Bedeutung haben. Denn namentlich 
die dem Gesinde und den gewerblichen Arbeitern zu- 
gewiesenen Wohnstellen haben nur zu häufig einen 
gesundheitsschädlichen Charakter und dieser Zustand 
hat fiberall nicht wenig zur Erbitterung der arbeitenden 
Volksklassen gegen die höheren Stände beigetragen. 

Natürlich müsste der Dienstgeber für die Erfül- 
lung dieser drei Verbindlichkeiten nur so weit einstehen, 
als die juristische VerantwortHchkeit für Handlungen 
im Gesetze überhaupt anerkannt ist. Da nach dem 
Entwürfe jedermann in der Regel für vorsätzliche und 
fahrlässige Handlungen haftet, so wäre der Dienstherr 
dann verantwortlich zu machen, wenn er jenen Ver- 
pflichtungen vorsätzlich oder aus Fahrlässigkeit ent- 
gegenhandelt. Ich werde jedoch weiter unten (vgl. LH) 
zeigen, dass die juristische Verantwortlichkeit bei dem 
Lohnvertrage jedenfalls auch auf den sogenannten Ei- 
gennutz ausgedehnt werden muss. Legt man diese 
A 11.^1 eilt zu Grund, sü würde den Dienstherrn auch dann 
eine Haftung treffen, wenn er die persönlichen Güter 
des Dienstnehmers zwar nicht aus Vorsatz oder Fahr- 
lässigkeit, sondern bloss aus Eigennutz verletzt hat. 

XLin. 

Es sind nun noch die Bestimmungen darzulegen, 

durch welche diese Grundsätze, welche einen Sieg des 
Menschen über die Sache, der sittlichen über die wirt- 
schaftlichen Interessen bedeuten, in der praktischen 



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175 



Durchführung gesichert werden können. Auch hier 
handelt es sich nicht um formulierte Gesetzesparagra- 
phen, welche der juristischen Technik leicht gelingen, 
wenn nur die Grundsätze einmal feststehen. Folgende 
Punkte wären etwa als besonders wichtig hervorzuheben. 

Vor allem müssten Vereinbarungen zwischen dem 
Lohnarbeiter und dem Dienstherm, durch welche die 
Haftung dieses letzteren fOr die persönlichen Güter des 
Dienstverpflichteten ausgeschlossen oder vermindert 
wird, für rechtsunwirksam erklärt werden. Der Arbeiter 
darf weder ausdrücklich, noch stillschweigend (etwa 
durch Unterwerfung unter eine Fabriksordnung) auf 
seine höchsten persönlichen Güter, auf die Wahrung 
von Leben, Körper, Gesundheit, Arbeitskraft, Ehre und 
Sittlichkeit Verzicht leisten. Längst würde die Rechts- 
ordnung solche Vereinbarungen über persönliche Güter, 
die einen absoluten Wert besitzen und im Falle des 
Verlustes fast niemals wiederhergestellt werden können, 
wegen Verletzung der <jruten Sitten für nichti^:^ erklärt 
haben (§ 106, 344 d. Üntw.) ^ wenn dieser Bestimmung 
nicht so gewaltige Interessen der besitzenden Klassen 
en^egenstehen würden. Ohne ein zwingendes Gesetz, 
welches jede WUlkür der Beteiligten aussdiliesst, könnte 
aber die Haftung des Dienstherm nur in sehr engen 
Schranken zur Wirksamkeit gelangen, da dieser, als der 
wirtschaftlich Stärkere, sie regelmässig durch vertrags- 
mässige Bestimmung ausschliessen würde. Hier aber, 
wo es sich um die wichtigsten persönlichen Interessen 
der arbeitenden Klassen handelt, können diese mit 
vollem Recht eine ähnliche Einschränkung der Vertrags- 
freiheit verlangen, wie sie den besitzenden Klassen von 

M *3S, 306 BGB. 



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1/6 



der Gesetzgebung seit jeher für ihre Interessenkreise 
zugestanden worden ist (XXXVH, XXXVHI). 

Dann aber müsste zweitens dem Dienstherrn, 
welcher eine Verletzung der persönlichen Güter des 
Arbeiters im Dienstverhältnisse verursacht hat, in allen 
Fällen eine Entschädigungspflicht auferlegt werden. Wir 
haben schon oben (XXXVI) gesehen, dass der § 221' 
des Entwurfs, welcher sich sowohl auf die Schuldver- 
hältnisse aus Verträgen als auch aus unerlaubten Hand* 
lungen bezieht, gerade auf dem entgegengesetzten Stand- 
punkt steht, indem er bestimmt, dass regelmässig nur 
eine Verletzung der Vermögensinteressen gutzumachen 
ist. An die Stelle dieses Paragraphen müsste die ent- 
gegengesetzte Bestimmung treten, dass jeder Vermö- 
gensschaden, wie auch jede Verletzung der persönlichen 
Güter eines Menschen, möge diese innerhalb eines 
Vertragsverhältnisses oder durch eine unerlaubte Hand- 
lung eintreten, den Verletzenden zu einer Entschädi- 
gung verpflichtet. Es ist gleichgültig und mehr eine 
Frage der Schule und der Technik, ob man die Ver- 
gütung, welche der in seinen persönlichen Gütern Ver- 
letzte zu fordern hat, als einen Schadenersatz oder als 
eine »billige Geldentschädigung« oder endlich als eine 
»Busse« bezeichnen wül. (Vgl. § 721, 728 des Ent- 
wurfs, § 188, 231 des Strafgesetzb. u. s. f.)*. 

Freilich wnd man dagegen einwenden, dass die 
persönlichen Güter vorherrschend einen idealen Cha- 
rakter haben und dass sie sich deshalb einer Schätzung 
durch eine Geldsunune entziehen. Aber man darf nicht 
vergessen, dass der Entwurf in zahlreichen Fällen einer 
Verletzun g persönlicher Güter tatsächlich die Zuer- 

» § 253 BGB. » Vgl. § 847 BGB. 



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177 



keimung einer billigen Geldentscfaädigung gestattet hat 
(XXXVI). Was hier möglich ist, kann sich bei der 

Verletzung anderer persönlicher Güter nicht als un- 
durchführbar erweisen. 

Dann aber kann man zweitens mit gutem Grunde 
behaupten, dass der Ersatz für Vermögensschäden, ge- 
gen welchen die Verfasser des Entwurfs gar kein Be- 
denken hegen, nur zu häufig keinen greifbareren Cha- 
rakter hat als die Vergütung für die Verletzui^ per- 
sönlicher Güter. Nach dem § 218 d. £ntw.^ umfasst 
der Schadenersatz sowohl die erlittene Vermögensein- 
busse als auch den entgangenen Gewinn. Als ent- 
gangener Gewinn kommt nur derjenige in Betracht, 
welcher nach dem gewöhnlichen Laufe der Dinge oder 
nach den besonderen Umständen, insbesondere nach 
getroffenen Anstalten und Vorkehrungen, mit Wahr- 
scheinlichkeit erwartet werden konnte. Ich kann jedem 
Juristen, der in Schadenersatzprozessen einige Erfah- 
rung besitzt, die Beantwortung der Frage überlassen, 
ob durch diese allgemeinen Redensarten für die Be- 
stimmung des entgangenen Gewinns irgend ein taug- 
licher Anhaltspunkt geboten wird und ob dieselben 
nicht vielmehr lediglich den Zweck haben, die bare 
Willkür des Richters und der Sachverständigen zu ver- 
decken (vgl. Mot. II, 18). 

Eine solche allgemeine Entschädigungspflicht für 
die Verletzung persönlicher Güter würde sich natür- 
lich weit über das Gebiet des Lohnvertrages auf alle 
Schuldverhältnisse aus Verträgen und unerlaubten Hand- 
lungen erstrecken. Innerhalb des Vertragsrechts wäre 



» I 2S2 BGB. 
Menger, Du bürgerl. Recht. 4. Aufl. 



12 



i;8 



aber diese Entschädigungspfiidit für das Dienstverhält- 
nis gewiss von der grössten Bedeutung, weil sich in 

unserer Zeit der Kampf zwischen den Dienstiiei i u und 
den Lohnaib itern zum grossen Teile um die persön- 
lichen Güter der letzteren bewegt. Es wäre deshalb 
uneriässlich, auch wenn der «5 221 des Entwurfs* in der 
vorgeschlagenen Weise abgeändert werden sollte, die 
Bestimmung über die Haftung des Dienstherm ftlr die 
Verletzung persönlicher Güter in dem Abschnitt über 
den Lohnvertrag mit aller Schärfe und Bestimmtheit 
zu wiederholen. 



Durch den Rechtssatz, dass der Dienstherr innerhalb 

des Dienstverhältnisses Im die persönlichen Güter des 
Arbeiters uni?;eachtet entgegenstehender Verabredungen 
bei Vermeidunj4 der Entschädigungspflicht zu sorgen habe, 
ist die Grundlage für eine neue Auffassung des Lohnver- 
hältnisses gewonnen. Dieser neue Gnmdsatz würde natür- 
lich bei der Anwendung auf die unzähligen Fälle, welche 
die Wirklichkeit bietet, auf die grössten Schwierigkeiten 
stossen und bei der den besitzlosen Volksklassen so 
ungünstigen Zusammensetzung der Gerichte nur sehr 
allmählich in die i'raxis des bürgerlichen Lebens ein- 
dringen. Aber ein bürgerliches Gesetzbuch kann in 
dieser Frage schwerlich viel tiefer in die Einzelheiten 
eingehen. Hier ist vielmehr ein weiter Spielraum für 
die verwaltende Tätigkeit des Staates ge- 
geben. 

In dieser Richtung haben wir nur bereits bestehende 
Tendenzen in unserer Gesetzgebung auszubilden und 

' § 253 BGB. 



XLIV. 





179 



zu entwickeln. So bestimmt die deutsche Gewerbeord- 
nung vom Jahre 1883 (§ i2o)\ dass der Bundesrat Vor- 
schriften darüber erlassen kann, welche Einrichtungen 

für alle Anlagen einer bestimmten Art zur tunlichsten 
Sicherung gegen Gefahr für Leben und Gesundheit her- 
zustellen sind. Ebenso kann femer (§ 139 a der Gew.- 
Ordn. von 1883}^ durch Beschluss des Bundesrats die 
Verwendung von jugendlichen Arbeitern sowie von Ar- 
beiterinnen für gewisse Fabrikationszweige, weiche mit 
besonderen Gefahren für Gesundheit oder Sittlichkeit 
verbunden sind, gänzlich untersagt oder von beson- 
deren Bedingungen abhängig gemacht werden. 

Aus diesen Bestimmungen geht hervor, dass der Bun- 
desrat schon jetzt — ■ allerdings nur bei den gewerblichen 
Arbeitern — den Dienstherrn durch allgemeine Vorschrif- 
ten einen Teil jener Verpflichtungen auflegen kann, wel- 
che ich oben (XLII) als die Sorge für die persönUchen 
Güter der Arbeiter bezeichnet habe. Auch die Berufs- 
genossenschaften können für bestimmte Industriezweige 
oder Betriebsarten oder bestinmite abzugrenzende Be- 
zirke ihre Mitglieder zur Herstellung der zur Verhütung 
von Untällcn erforderlichen äusseren Vorkehrungen ver- 
pflichten und haben das Recht, sie bei der Erfüllung 
dieser Verbindlichkeit zu überwachen ^. 

Auf Grund der dargestellten Bestimmungen hat 
der Bundesrat zu wiederholten Malen Verfügungen im 
Interesse der Gesundheit und der Sittliciüceit der ge- 

* Vgl. § i2oe GO. von 1900. « § 139a Z. I GO. von 1900. 

* § 78 des Unfallversicherungsgesetzes vom 6. JuU 1884 ; vgl. auch 
§81 Unf.-Vers.-Ges. ; § 9, 10 des Ausdehnungsgesetzes vom 28 Mai 
1885; § 44 des Bauunfallversicherungsgesetzes vom ii, Juli iSsj. 
Aehnlich das Gewerbe>Unf.-Vers.-Ges. v. 30. Juni 1900 § 112 — ii6. 



i8o 



werblichen Arbeiter erlassen. Ich erwähne hier nur die 
Bekanntmachung des Bundesrats vom 9. Mai 1888 

(8. Juli 1893), durch welche die Einrichtung und der 
Betrieb der zur Anfertigung von Zigarren bestimmten 
Anlagen normiert wurde In dieser Verordnunc^ wird 
die Anlage, die Reinigung und Lüftung der Betriebs- 
stätten, ferner der für jeden Arbeiter bestimmte Luft- 
raum und die Lagerung der Vorräte aus Gesundheits- 
rücksichten genau geregelt. Im Interesse der Sittlich- 
keit wird bestimmt, dass Arbeiterinnen und jugendliche 
Arbeiter in einem unmittelbaren Arbeitsverhältnis zu 
dem Betriebsuntemehmer stehen müssen, ferner dass 
für männliche und weibliche Arbeiter c^etrennte Aborte 
und Ankleideräume vorhanden sein müssen. Aehnliche 
Vorschriften sind seither für die verschiedensten Er- 
werbszweige in grosser Zahl ergangen. 

Gewiss kann niemand verkennen, dass diesen Be- 
stimmungen der Gewerbeordnung und des Unfallver- 
sicherungsgesetzes der Gedanke zu Grunde liegt, dass 
der Dienstherr für die persönlichen Güter des Arbeiters, 
namentlich auch für seine Gesundheit und Sittlichkeit, 
innerhalb des Dienstverhältnisses zu sorgen verpflichtet 
ist. Nur das muss befremden, dass so wohltätige Mass- 
regcin bloss für die gewerblichen Arbeiter gelten. Ist 
etwa die Gesundheit und Sittlichkeit grosser Gruppen 
von städtischen und ländlichen Dienstboten geringeren 
Gefahren ausgesetzt, als bei den in der Zigarrenindu- 
strie beschäftigten Arbeitern? Im Gegenteile kann man 
mit gutem Grunde behaupten, dass die gute Organi- 
sation und die höhere Ausbildung der gewerblichen 
Arbeiter sie in die Lage versetzen, sich von den Dienst- 
herrn auch in dieser Richtung bessere Arbeitsbeding- 





I8i 



ungen zu enwingen, dass aber dieselben Machtfaktoren 
gleichwohl auch die Bestinunungen der Gewerbeord* 
nung durchgesetzt haben. 

Die Vorteile, welche man den gewerblichen Ar- 
beitern längst gewährt hat, sollten nach meiner Auf- 
fassung auf alle in Dienstverhältnissen stehenden Per- 
sonen, namentlich aber auch auf das städtische und 
ländliche Gesinde, ausgedehnt werden, obgleich oder 
weil diese bisher an den Staat noch nicht mit unge* 
stümen Forderungen herangetreten sind. Wenn also 
das bürgerliche Gesetzbuch festsetzt, dass der Dienst- 
herr bei der Benützung der Arbeitskraft, bei der Her- 
stellung der äusseren Vorrichtungen und bei der Ver- 
pflegung für die persönUchen Güter des Arbeiters zu 
sorgen verpflichtet ist, so ist die weitere Bestimmung 
hinzuzufügen, dass die höheren Landesverwaltungsbehör- 
den zur Durchfuhrung dieser Verpflichtung allgemeine 
Vorschriften, sei es auch nur für einzelne Gattungen 
des Dienstverhältnisses oder für örtlich abgegrenzte Be- 
zirke erlassen können, soweit nicht die Zuständigkeit 
der Reichsbehörden begründet ist. Dies würde natür- 
lich nicht verhindern, dass einzelne besonders wichtige 
Fragen, z. B. die zeitliche Ausdehnung des Arbeitstages 
(Normalarbeitstag), die Sonntagsruhe, die Beschränkung 
der Frauen- und Kinderarbeit der Reichs- und Landes- 
gesetzgebung vorbehalten bleiben. 

Denkt man sich diese Tätigkeit der Gesetzgebung 
und der Verwaltung als abgeschlossen, so würde sich 
uns das Ganze als eine völlige Neuordnung des Lohn- 
verhältnisses auf privatrechtlichen Grundlagen darstellen. 
An die Stelle der einseitigen WÜlkür und der Gewohn- 
heit, welche gegenwärtig dieses wichtige Rechtsverhält- 



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I82 



nis beherrschen, würde eine umfassende Kodifikation 
der gesamten Arbeitsordnung treten, die aber anderer* 
seits hinreichend bi^am wäre, um allen örtlichen und 
geschichtlichen Besonderheiten gerecht zu werden und 

jede notwendige Abänderung zu gestatten. Zugleich 
wäre aber damit auch das V erhältnis zwischen den be- 
sitzenden und den besitzlosen Volksklassen so günstig 
gestaltet, als dies in den Schranken der privatrecht- 
lichen Ordnung überhaupt möglich erscheint 

XLV. 

Die dargestellte Ordnung der Dienstverhältnisse, 

welche auf einem Zusammenwirken der bürgerlichen 
Gesetzgebung und der Verwaltungstätigkeit des Staates 
beruht, wird wohl ün allgemeinen genügen, um das 
Verhältnis zwischen dem Lohnherm und dem Arbeiter 
allmählich gerechter und gunstiger zu gestalten. Nur 
in einer Richtung müsste das bürgerliche Gesetzbuch 
jedenfalls über jene prinzipiellen Bestimmungen pCLII) 
noch einen Schritt hinausgehen, uin ererbte selbstsüch- 
tige Gewohnheiten der höheren Stände zu brechen. 
Dies Gebiet ist das Gesindewesen. 

Keine Erscheinung in unserer bürgerlichen Gesell- 
schaft nähert sich so sehr der Sklaverei und der Leib- 
eigenschaft als das Gesindeverhältnis. Durch den Ge- 
sindevertrag wird nach der überlieferten Anschauung 
die ganze Arbeitskraft des Dienstboten zur Verfügung 
des Dienstherrn gestellt ; es ist regelmässig schon ein 
Zeichen humaner Gesinnung , wenn die sogenannte 
»Herrschaft« dem Gesinde in längeren Zeiträumen einen 
Spaziergang oder einen kurzen Zeitraum zur Besorgung 
der eigenen Angelegenheiten gestattet Mit welchem 



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183 

£ntsetzeii sehen die SozialpoUtiker der Gegenwart auf 
die »ungemessenen« Fronden früherer Jahrhunderte 
zurück, ohne zu bemerken, dass sie zu ihren Dienst- 
boten in einem ganz ähnlichen Rechtsverhältnis stehen. 
Denn wenn man das Wesen des Dienstvertrages darin 
erblickt, dass der Arbeiter dem iJiensthcrm seine Ar- 
beitskraft für eine bestimmte Zeit oder einen bestimmten 
Zweck zur Verfügung stellt, so haben unsere Dienst- 
boten in Wirklichkeit einen Normalarbeitstag von 24 
Stunden. 

Dass ein so unnatürliches Verhältnis nicht nur für 
das Gesinde, sondern auch fQr die »Herrschaften« sich 

meistens sehr unbefriedigend gestaltet, kann niemand 
befremden. Jeder Mensch kann mit Recht verlangen, 
dass er für seine persönlichen Zwecke einen bestimm- 
ten Zeitraum zur Verfügung hat, ohne auf die Gefällig- 
keit eines anderen angewiesen zu sein. Wer dieses 
Recht nicht besitzt, ist tatsächlich tmfrei, mag ihm auch 
die Befugnis zustehen, ein solches Verhältnis jederzeit 
durch Kündigung wieder aufzulösen, 

Aul die Geiahi hm, dass ein so volkstümhcher 
Paragraph in der vornehmen Umgebung des deutschen 
Entwurfs, welcher überall bloss die Interessen der ober- 
sten Zehntausend ins Auge fasst, sich etwas absonder- 
lich ausnehmen wird, möchte ich die Aufnahme fol- 
gender Bestimmung in den Abschnitt über den Dienst- 
vertrag vorschlagen. »Jedem Dienstboten ist ein be- 
»stimmter Zeitraum zum Schlaf, zu den Mahlzeiten und 
»zur Besorgung seiner persönlichen Angelegenheiten zu 
-»gewähren. Auf die Gewährung eines solchen freien 
^ Zeitraums kann von dem Dienstboten rechtswirksam 
»nicht verzichtet werden. Die höheren Landesverwal- 



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I84 



»tungsbehörden haben das Recht, zur Durchführung 
»dieser Bestimmung allgemeine Vorschriften zu erlassen, 
»welche für die einzelnen Gesindeklassen und für örtlich 
»abgegrenzte Bezirke verschieden sein können.« 

Die Bestimmung der freien Zeit für den Schlaf 
und die Mahlzeiten müsste natiirlich für alle Tage er- 
folgen. Dagegen würde sich die Gewihrung einer täg- 
lichen kurzen Arbeitspause zur Besorgung der persön- 
lichen Angelegenheiten für den Dienstboten als unnütz, 
für den Dienstherm aber als unbequem erweisen. Hier 
wäre es wohl am zweckmässigstcn, wenn die Verwaltimgs- 
behörde den Dienstherm verpflichten würde, dem Ge- 
sinde an einem oder zwei Werktagen den Nachmitts^ 
frei zu geben. 

Schon ältere Gesindeordnungen verpflichten den 
Dienstherrn, dem Gesinde für gewisse persönliche Zwecke, 
z. B. zum Besuche des Gottesdienstes, die nötige freie 
Zeit zu lassen (Preuss. Ges.-Ordn. § 84). Die obigen 
Recbtssätze sind nichts als eine zeitgemässe Erweite- 
rung dieser Verpflichtung. Freilich setzt die vollstän- 
dige Durchführung derselben eine UmbUdui^ unserer 
häuslichen Sitten voraus; insbesondere müssten die 
wohlhabenden Frauen mehr als bisher an den Arbeiten 
des Hauses teilnehmen. Für dieses Opfer würden sie 
jedoch reichlich durch eine bessere Entwicklung des 
Gesindeverhältnisses entschädigt werden, weiches sich 
desto ungünstiger gestalten muss, je mehr sich das 
Selbstbewusstsein und die freiheitlichen Instinkte der 
Massen beleben werden. 

XLVI. 

Diese Erörterung des Dienstvertrages vom Stand- 



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i8S 

punkt der besitzlosen Volksklasscn wurde unvollständig 
bleiben, wenn ich nicht derzahheichen Kolli s io n e n ge- 
dächte, welche aus dem Zusammenbestehen von Dienst- 
und Familienverhältnissen entstehen. Da diese beiden 
Rechtsverhältnisse regelmässig den Menschen in seiner 
ganzen Persönlichkeit ergreifen, so sind solche Zusam- 
menstösse in zahllosen Fällen unvermeidlich. Vom 
Standpunkte der sozialen Massenwirkungen sind weit- 
aus am wichtigsten die I'älle, wo verheiratete 
oder verwitwete Frauen in dauernden Lohnver- 
hältnissen stehen und dadurch genötigt sind, die Pflege 
und die Erziehung ihrer Kinder zu vernachlässigen. 

Die Bestimmungen des Entwurfs über diese so 
wichtige Frage sind äusserst dürftig. Nach dem § 1 506 ^ 
hat während des Bestehens der Ehe neben dem Vater 
auch die Mutter die Pflicht und das Recht, für die 
Person des Kindes zu sorgen. Nach einer weiteren 
Bestimmung (§ 1 277 d. Entw.) ^ bedarf die Ehefrau zur 
Abschliessung von Dienstverträgen regelmässig der Ein- 
willigung ihres Ehegatten. Aber nirgends wird gesagt, 
ob die Verpflichtungen aus dem Dienst- oder dem Fa- 
milienverhältnis in dem Falle vorangehen, wenn beide 
Ehegatten durch Arbeitsverträge dauernd an der Er- 
füllung ihrer elterlichen Pftichten gehindert sind. Die 
Verfasser gehen wohl stillschweigend von der Ansicht 
aus, dass der bisherige Zustand aufrecht erhalten blei- 
ben soll, dass also in Kollisionsfällen die Verpflichtungen 
aus dem Lohnvertragc unbedingt zu erfüllen sind, ob- 
gleich das F"amilienverhältnis meistens früher entstan- 
den ist und in der Volksanschauung als heiliger und 



t I 1634 BGB. 



* § I3S8 BGB. 



i86 



unantastbarer betrachtet wird, als ein blosser Lohn- 
vertrag. Darauf deutet auch die Bestimmung der Ge- 
werbeordnung aus dem Jahre 1885 (§ I55)S wonach 
die Beschäftigung von Wöchnerinnen nur drei Wochen 
nach ihrer Niederkunft und nur in den Fabriken ver- 
boten ist. 

Hier isl ultenbar einer der schärfsten Widersprüche 
in unserer auch sonst so widerspruchsvollen "Rechts- 
ordnung vorhanden. Der Staat legt den Eitern die 
Verpflichtung zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder 
auf, er gestattet aber offenen Auges» dass sie in zahl- 
losen Fällen in Rechtsverhältnisse eintreten, welche 
ihnen die gehörige Erfüllung dieser Pflicht unmöglich 
machen. Zwar wird das Bestehen eines Intern- imd 
Kindesverhältnisses, wenn diese Frage zwischen den 
Eltern und dem Kinde streitig ist, von dem Gericht 
bis zu einem gewissen Grade von Amts wegen unter- 
sucht und festgestellt (Art. 11, § 577, 627 c d. Einf.- 
Ges. und Mot. S. 90) '; aber die Verfasser des Entwurfs 
haben sich mit Rücksicht auf die ungeheuren sozialen 
Konsequenzen gehütet, auch die praktischen Folgen 
dieses Rechtsverhältnisses, insbesondere die Pflicht der 
Eltern zur Erziehung und Pflege der Kinder, der Ver- 
wirklichung von Amts wegen zu unterwerfen. 

Auf dem Gebiete des Privatrechts wird sich auch 
schwerlich ein Mittel finden lassen, um diesen schroffen 
Widerspruch in einer zweckmässigen Weise zu lösen. 
Freilich wäre ein Rechtssatz denkbar, welcher den Frauen 
die Eingehung von Dienstverträgen nur soweit gestatten 
würde, als dadurch die Pflicht zur Pflege und Erzieh- 



* Vgl. § 137 GO. V. 1900. * S 640 ZPO. V. 1898. 



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187 



ung ihrer Kinder nicht beeinträchtigt erscheint. Aber 
eine solche durchgreifende Bestimmung würde bei den 
heutigen sozialen Zuständen so zahlreiche Familien der 
besitzlosen Volksklassen dem wirtschaftlichen Verderben 
preisgeben, dass an deren Erlassung nicht zu denken ist. 

Hier ist vielmehr für die staatliche Sozialgesetz- 
gebung der dringendste Anlass gegeben, in einen un- 
haltbaren Zustand ordnend einzugreifen. Manches ist 
in dieser Richtung bereits von der privaten Wohltätig- 
keit durch Gründung von Kleinkinderbewahranstalten 
und ähnlichen Einrichtungen geschehen. Aber der 
Staat vor allen hat die Pflicht, diesen Widerspruch 
zwischen Recht und Wirklichkeit zu beseitigen, welcher 
einen betrachtlichen Teil der nachwachsenden Arbeiter- 
generation schon in seinem Entstehen gefährdet. 

Die arbeitenden Klassen selbst aber müssen, ge- 
rade aus dem angefühiLcn Grunde, diese Frage mit 
noch höherem Interesse verfolgen, als alles was ihre 
eigenen Wünsche und Bestrebungen betrifft. Das heutige 
Arbeitergeschlecht, vielfach in den ungünstigsten Ver- 
hältnissen aufgewachsen, wird das Ziel seiner Bestre- 
bungen mit eigenen Augen niemals erblicken. Wenn 
sich vielmehr die arbeitenden Klassen über die ver- 
gänglichen Interessen des Augenblicks zu erheben und 
ihre wahren Zwecke ins Auge zu fassen verstehen, so 
müssen sie weniger eine Verbesserung ihrer eigenen 
Lebenshaltung, als eine körperliche, geistiL^c unil sitt- 
liche Hebung ihrer Kinder anstreben. Dadurch werden 
diese erst die Eignung erlangen, die Umbildung des 
Rechts- und Polizeistaates in den Arbeits^ und Wirt- 
schaftsstaat tmd damit die grösste Veränderung in dem 
sozialen Zustand der Menschheit zu bewirken. 



i88 



XLVII. 



Ein wichtiger Mangel des Entwurfs, welcher natur- 
gemäss die besitzlosen Volksklassen am meisten be- 
drücken muss, besteht darin, dass der Abschnitt über den 
Dienstvertrag keine Bestimmung über die D i s z i p Ii n a r- 
gewal t des Dienstherrn enthält. In Deutschland, 
In Oesterreich und wohl auch in anderen Ländern pfle- 
gen sich die grösseren Arbeitgeber, insbesondere Guts- 
und Fabrikbesitzer, Gesellschaften und Anstalten eine 
Disziplinargewalt über ihre Beamten und Arbeiter zu- 
zuschreiben und kraft derselben Mahnungen und Ver- 
weise zu erteilen, Geldstrafen, Lohnabzüge und die 
Leistung von unentgeltlichen Diensten zu verfügen, ja 
sogar im Wege eines Disziplinarverfahrens die Entlas- 
sung auszusprechen. Meistens beruht diese Disziplinar- 
gerichtsbarkeit auf einem ausdrücklichen oder stillschwei- 
genden Vertrag des Dienstherm mit dem Dienstnehmer; 
es kommen aber auch Fälle vor, wo der erstere selbst 
ohne eine Vereinbarung einen solchen Anspruch auf 
die Disziplinargewalt erhebt und damit auch Anerken- 
nung findet. 

Grundsätzlich ist nun diese Disziplinargewalt des 
Dienstherm jedenfalls zu verwerfen. Denn das Wesen 
der privaten Disziplinarrechtspflege besteht darin, dass 
der Dienstherr, abo eine der am Dienstverhältnis be- 
teiligten Personen, die Nichterfüllung des Dienstvertrages 
gegen den Arbeiter feststellt und über diesen eine Strafe 
verhängt. Kaum irgend ein Resultat der Prozessvvis- 
senschaft steht aber so fest, als dass niemand in eigener 
Sache Richter sein kann, dass vielmehr der Richter 
den Parteien als ein unparteiischer Dritter gegenüber- 
stehen muss. 





189 



In einzelnen Fällen ist nun trotzdem eine Disziplinar- 
gewalt des Dienstherm über den Dienstnehmer durch 
ausdrückliche Gesetze anerkannt. So ist nach der 
deutschen Gewerbeordnung von 1883 (§ 127) ^ der Lehr- 
ling der väterlichen Zucht des Lehrherm unterworfen. 
Der Schiffer übt die Disziplinargewalt über das Schiffs - 
Volk, der Unternehmer einer Eisenbahn über die bei 
dem Betrieb angestellten Personen aus. Auch in ein- 
zelnen Gesindeordnungen wird dem Dienstherm eine 
beschränkte Zuchtgewalt über das Gesinde eingeräumt. 
Doch ist das Züchtigungsrecht des Dienstherm in An- 
sehung der Dienstboten entfernt nicht in allen Gesinde- 
ordnungen anerkannt und überiiaupt als ein halbbar- 
barisches Rechtsinstitut zu betrachten, welches in raschem 
Absterben begriffen ist^. 

Sieht man von diesen und anderen im Gesetze 
bestimmten Fällen ab, welche zum Teil in der Natur 
der Sache begründet sind, so lässt sich im übrigen die 
Disziplinargewalt des Dienstherm schwerlich rechtfer- 
tigen. Dienstverträge kann regelmässig jeder mit je- 
dem abschliessen und man kann deshalb nicht ohne 
weiteres bei dem Dienstherm jenen Grad von sittlicher 
Reife und Selbstbeherrschung voraussetzen, welcher 
uricrlässlich ist, wenn er als Richter in eigener Sache 
das Recht nicht in unzähligen Fällen mit Füssen treten 
soll. Dazu kommt noch, dass der Dienstherr in den 
praktisch wichtigsten Fällen, wenn er mit dem Be- 
nehmen und den Leistungen des Dienstnehmers nicht 
zufrieden ist, dessen Entlassung einfach durch eine 
kurzfristige Kündigung bewirken (§ 565 des Entw.)' 



* § ia7a GO. v. 1900. * Art. 95 Einf.-Ges. * § 621, 623 BGB. 



190 



und auf diese Weise die wesentlichen Wirkungen der 
schärfsten Disziplinarstrafe ohne die Parodie eines Dis- 
ziplinarverfahrens herbeiführen kann. Nur die Befugnis 
zur Erteilung von Mahnungen könnte man dem Dienst- 
herm kaum absprechen, weil durch eine solche dem 
Dienstnehmer kein materielles Uebel zugefügt wird, 
und dieser ja auch dem Dienstgeber scme Meinung über 
die Erfüllung seiner Vertragspflichten aussprechen kann. 

Der deutsche Entwurf hat zu unserer Frage, ebenso 
wie zu allen wichtigeren Streitfragen des Dienstverhält- 
nisses, keine Stellung genommen. Da kaum glaublich 
ist, dass ein so wichtiger Punkt, der täglich Arbeits- 
einstellungen und andere Zusammenstösse zwischen 
den besitzenden und besitzlosen Volksklassen herbei- 
föhrt, der Aufmerksamkeit der Verfasser entgangen 
sein büllte, so ist wohl anzunehmen, dass durch da^, 
Stillschweigen des Entwurfs der bisherige ungeordnete 
und zweifelhafte Zustand aufrecht erhalten werden soll. 
Dieser Zustand ist auch für die besitzenden Klassen 
jedenfalls sehr vorteilhaft. Denn wenn die Verfasser 
dem Dienstherm, sei es auf Grundlage des Dienstver- 
trags an sich, sei es auf Grund einer besonderen Ver- 
einbarung, eine Disziplinargewalt über seine geistigen 
und mechanischen Arbeiter eingeräumt hätten, so wäre 
es unerlässlich gewesen, zum mindesten die zulässigen 
Disziplinarstrafen und das zu beobachtende Verfahren 
näher zu bestimmen, gerade so wie selbst der Staat 
überall seine Disziplinargewalt über die Beamten und 
Diener durch genaue Disziplinarvorschriften begrenzt 
hat. Dadurch wäre aber die bisherige Willkür der Dienst- 
herm natürlich sehr erheblich eingeschränkt worden. 





xLvm. 

Indem ich nunmehr daran gehe, meine Vorschläge 
zur Abänderung und Ergänzung der Bestimmungen des 
deutschen Entwurfs über den Dienstvertrag zusammen- 
zu fassen, kann ich mir nicht verhehlen, wie unvoll- 
kommen und lückenhaft dieselben sind. Wenn in späteren 
Epochen ein Leser diese Blätter seiner Durchsicht 
würdigen sollte, so werden sie auf ihn schwerlich einen 
anderen Eindruck machen, als auf uns die Schriften 
des i8. Jahrhunderts über die Reform der Fronden 
und der Leibeigenschaft. Aber man möge nicht ver- 
gessen, dass ich der erste bin, der vom Standpunkt 
der besitzlosen Volksklassen in die Abgründe und 
Schlupfwinkel des Privatrechts hineinleuchtet. Diese 
ungünstige Lage mag die Un Vollkommenheit der ganzen 
Arbeit, namentlich aber der Ausführungen über den 
Lohnvertrag entschuldigen. 

In folgenden Funkten wäre also der deutsche Ent- 
wurf teils abzuändern, teils zu ergänzen, wobei hervor- 
zuheben ist, dass diese Vorschläge jetzt gerade in den 
wichtigsten Punkten auch die kaiserlichen Erlasse vom 
4. Februar 1890 (vgl. oben S. 160) für sich haben: 

1) Die Dienstbotenbücher sind zu beseitigen, 

2) Der Dienstherr hat dafür Sorge zu tragen, dass 
im Dienstverhältnis das Leben, der Körper, die Ge- 
sundheit, die Arbeitskraft, die Ehre und die Sittlich* 
keit des Arbeiters nicht verletzt werden. 

3) Der Dienstherr darf folglich die Arbeitskraft des 
Dienstnehmers, welche ihm durch den Dienstvertrag 
zur Verfügung gestellt wird, nur in dem Umfang und 
in der Weise gebrauchen, dass die persönlichen Güter 



192 



des Arbeiters (Abs. 2) nach dem gewöhnlichen Laufe 

der Dinge nicht verletzt werden. 

4) Der Dienstherr hat ferner nach dem jeweiligen 
Stande der Erfahrung alle äusseren Vorkehrungen zu 
treffen, damit nach dem gewöhnlichen Laufe der Dinge 
eine Verletzung der persönlichen Güter des Arbeiters 
(Abs. 2) verhindert wird. 

5) Wenn endlich nach dem Dienstvertrage dem 
Arbeiter Kost, Wohnung und Bekleidung zu gewähren 
sind, so sind dieselben von den Dienstherren in einer 
Weise zu leisten, dass dadurch die persönlichen Güter 
des Arbeiters (Abs. 2) nach dem gewöhnlichen Laufe 
der Dinge nicht verletzt werden. 

6) Die unter Ziffer 2 — 5 angeföhrten Verpflich- 
tungen des Dienstherm können durch den Dienstver- 
trag oder durch besondere Vereinbarungen zwischen 
dem Dienstherrn und dem Dienstnehmer weder aufge- 
hoben noch auch gemindert werden. 

7) Der Dienstherr, weicher emer der unter Ziffer 
2 — 5 angeführten Verpflichtungen vorsätzlich, aus Fahr- 
lässigkeit oder aus Eigennutz (vgl. LU) entgegenhan- 
delt und dadurch eine Verletzung der persönUchen 
Guter des Dienstnehmers (Abs. 2) verursacht, ist dem 
letzteren zur Entschädigung verpflichtet. Diese Ent- 
schädigungspfiicht kann gleichfalls durch Vereinbarung 
zwischen dem Dienstherrn und dem Dienstnehmer nicht 
ausgeschlossen oder gemindert werden. Die Höhe der 
zu leistenden Entschädigung bestimmt der Richter nach 
freiem Ermessen» ohne dass der Nachweis eines Ver- 
mögensschadens erforderlich ist 

8) Zur Durchftihrung der unter Ziffer 2 — 5 ent- 
haltenen Grundsätze können die höheren Landesver- 



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193 



waltungsbehörden auf Antrag oder von Amts wegen 
allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen, welche ge- 
hörig kundzumachen sind. Diese Verwaltungsvorschriften 
können für die einzelnen Klassen von Dienstnehmern 
und für Örtlich abgegrenzte Bezirke verschieden sein. 
Die Gesetze, welche die Bctu^niü zur Iiilassung solcher 
allgemeinen Verwaltungsvorschriften dem Bundesrat oder 
anderen Organen einräumen, bleiben unberührt. 

9) Dem Dienstgeber steht, wenn das Gesetz nicht 
ausdrücklich etwas anderes bestimmt, keine Disziplinar- 
gewalt über den Dienstnehmer zu. Verträge» durch 
welche der Dienstnehmer dem Dienstgeber eine solche 
Disziplinargewalt einräumt, sind ungültig. 



Von den vorstehenden Vorschlägen hat das bür- 
gerliche Gesetzbuch (i:; 6icS, 619) die oben unter Ziffer 
2 — 6 enthaltenen Bestimmungen un wesentlichen ange- 
nommen. Dagegen bleibt das Dienstbotenbuch erhalten, 
wenigstens soweit die Reichsgesetzgebung in Betracht 
kommt, da das Einführungsgesetz zum B.G.B. (Art. 95) 
das Gesinderecht ebenso wie fast alle rückständigen 
Einrichtungen des Privatrechts der Landesgesetzgebung 
überlassen hat. Desgleichen enthält das Gesetzbuch 
darüber keine Bestimmung, dass die Landesverwaltungs- 
behörden nicht nur auf dem Gebiete des Gewerbe- 
wesens (§ 120 d, e, 139 aZ. I der Gew.-Ordn. v. lyoo), 
sondern in betreff al 1er Dienstnehmer Verwaltungsvor- 
schriften erlassen können. Endlich fehlt in dem Gesetz- 
buch auch eine Norm, dass der Dienstherr ohne beson- 
dere gesetzliche Anordnung zur Ausübung einer Dis- 
ziplinargewalt über die Arbeiter nicht berechtigt ist. 

Meng er, Daa bQxgerl. Recht. 4. Aull. I3 



XLIX. 

Jede Kritik des Privatrechts vom Standpunkt der 
besitzlosen Volksklassen, welche die Eigentumsordnung 
als eine ^n^^cbene Tatsache betrachtet , muss darauf 

ausgehen, die persönlichen Güter der Menschen in den 
Vordergrund zu stellen und die überwuchernden Eigen- 
tumsintcressen zurückzudrängen. Mit dem alten Wort, 
dass das Recht der Menschen wegen gegründet wor- 
den sei, muss so weit Ernst gemacht werden, als dies 
in den Schranken des Privateigentums überhaupt mög- 
lich ist Von diesem Gesichtspunkt habe ich das Fa- 
milien- und den grössten Teil des Obligationenrechts 
der Kritik unterzu^cn, aber zu einer vollständigen Lö- 
sung dieser Aufj^^abe wäre es notwendig , die Normen 
über jedes wichtigere Vertragsverhältnis in der Rich- 
tung zu durchforschen, ob durch dieselben die persön- 
hchen Güter, das einzige Besitztum der grossen Mas- 
sen, hinreichend geschützt erscheinen. Eine so um- 
fassende Frage kann natürlich in dem engen Rahmen 
dieser Blätter nicht vollständig beantwortet werden; 
nur folgende Bemerkungen über den Mietvertrag 
will ich zu den bisherigen Ausführungen über das Ver- 
tragsrecht liinzufüL^en. 

Das Wohnuiii^sbedürfnis gehört zu jenen Interessen, 
welche bei einer richtigen Organisation der Gesellschaft 
jedenfalls auf das Vollkommenste befriedigt werden 
könnten, was in Ansehung des Nahrungsbedürfnisses 
von Malthus und andefen bezweifelt worden ist. Aber 
schwerlich wird dieses wichtige Ziel bei vollständiger 
Wahrung des Grundeigentums jemals erreicht werden. 
Tatsächlich gehen auch alle durchgreifenden Vor- 
schläge zur Lösung der Wohnungsfrage davon aus, 



195 



dass der Staat oder in seinem Namen die Gemeinden 
und die Genossenschaften sich der zu Wühnungszwecken 
geeigneten Grundstücke um einen massigen Preis be- 
mächtigen und auf diese Weise eine bessere Befriedi- 
gung des Wohnungsbedürfnisses ermöglichen. Hier ist 
nach dem Standpunkt, welchen ich in dieser Schrift 
überhaupt einnehme, das Fortbestehen des vollen Grund- 
eigentums und des Mietvertrages vorauszusetzen. 

Der deutsche Entwurf (§ 503) ^ gibt von dem Miet- 
vertrag eine ähnliche Be^riftsbestimnuing wie von dem 
Lohnvertrag. Darnach wird der Vermieter durch den 
Mietvertrag verpflichtet, dem Mieter den Gebrauch der 
gemieteten Sache während der Mietszeit zu gewähren, 
während der Mieter dem Vermieter die vereinbarte 
Gegenleistung (Mietzins) zu entrichten hat. Der Ver- 
mieter hat also nur dafür Sorge zu tragen, dass die 
gemietete Wohnung — denn diesen vom sozialen Stand- 
punkt wichtigsten Fall der Sachmiete will ich hier 
allein ins Auge fassen — dem Mieter wirklich zum 
Gebrauche überlassen wird ; ob sie aber von einem 
Menschen zu Wohnungszwecken wirklich gebraucht 
werden kann, ist für ihn gleichgültig. Er kann, wenn 
er nur offen vorgeht , auch gesundheitsschädliche, ja 
lebensgefährliche Wohnungen vermieten, ohne irgend 
welche privatrechtliche Nachteile fürchten zu müssen. 
Auch später hat der Vermieter (§ 505 d. Entw.)* nur 
dafür Sorge zu tragen, dass die Sache zu dem vertrags- 
mässigen Gebrauche taui^lich bleibt, mag dieser »ver- 
tragsmässige Gebrauch* die h rhsten persönlichen Gü- 
ter des Mieters auch noch so sehr gefährden (Mot. II, 373). 

Die wohlhabenden Stände werden durch diesen 



» § 535 BGB. 



» $ 537 BGB. 



13* 



196 



Rechtszustand wenig geschädigt» weil sie durch ihre 
wirtschaftliche Lage in den Stand gesetzt sind, sich 
ihre Wohnungen frei zu wählen. Mit voller Wucht fallt 

dagegen der Rechtssatz , dass der Vermieter auch zu 
Wohniingszwecken völlig untaugliche Räume vermieten 
kann, auf die besitzlosen Volkskiassen, weil sich diese 
bei dem Mieten ihrer Wohnungen regelmässig in einer 
Zwangslage befinden und deshalb auch offenbar ge- 
sundheitsschädliche Wohnungen mit vollem Bewusstsein 
übernehmen. Man kann mit gutem Grunde behaupten, 
dass die oft schcusslichen W'ohnungszustände unserer 
ärmeren Volksklassen hauptsächlich durch diesen man- 
gelhaften Rechtszustand herbeigeführt werden. Und 
doch sollte man glauben, dass selbst vom juristischen 
Standpunkt aus nur solche Räume den Gegenstand des 
Mietvertrages bilden können, welche auch objektiv zu 
Wohnungszwecken verwendbar sind. 

Demgemäss müsste der Vermieter für haftbar er- 
klärt werden, wenn er vorsätzlich, aus Fahrlässigkeit 
oder aus lugennutz (IM) eine Wohnung vermietet, 
welche nach dem gewöhnlichen Laufe der Dinge durch 
ihre Beschaffenheit das Leben, den Körper, die Ge- 
sundheit und die Arbeitskraft des Mieters oder seiner 
Angehörigen gefährdet, und wenn infolge der Beschaf- 
fenheit der Wohnung eine solche Verletzung wirklich 
eingetreten ist. Wie beim Lohnvertrag müsste der 
Richter die Höhe der von dem Vermieter zu leistenden 
Entschädigung auch ohne Nachweis eines Vennögens- 
schadens nach freiem Ermessen bestimmen und eine 
diese Entschädigungspfiicht ausscbliessende Vereinba- 
rung der Be teiligten der rechtlichen Wirkung entbehrend 

»~Vgl. § 544 BGB. 



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197 



Ich bin überzeugt, dass durch eine solche Bestimmung 
des bürgerlichen Gesetzbuchs die Wohnungszustände 
der ärmeren Volksklassen allmählich eine viel nach- 
haltigere Verbesserung erfahren würden, als durch alle 

Einrichtungen der Bau- und Gesundheitspolizei jemals 

geschehen kann. Jedenfalls wäre dann für eine bessere 
Befriedigung des Wohnungsbedürfnis.scs der besitzlosen 
Volksklassen alles geschehen, was innerhalb der Schran- 
ken des vollen Grundeigentums und des Mietvertrags 
überhaupt möglich ist 

Das bürgerliche Gesetzbuch hat die hier gemachten 

Vorschläge nur in beschränktem Masse berücksichtigt. 
Nach dem § 544 B.G.B, ist nämlich der Vermieter g^c- 
sundheitsschädlicher Wohnungc n zwar nicht zur Leistung 
einer Entschädigung verpflichtet, wohl aber kann der 
Mieter in diesem Falle das Mietverhältnis ohne Ein- 
haltung einer Kündigungsfrist auflösen, auch wenn er 
die gefahrbringende Beschaffenheit der Wohnung bei 
Abschluss des Vertrages gekannt oder auf die Geltend- 
machung der ihm wegen dieser Beschaffenheit zustehen- 
den Rechte verzichtet hat, 

L. 

Indem ich nunmehr zu der zweiten Abteilung des 
Obligationenrechts, nämlich zu den Schuldverhält- 
nissen aus unerlaubten Handlungen über- 
gehe, sei vor allem bemerkt, dass dieses Rechtsgebiet 
entfernt nicht jene soziale Bedeutung hat wie das Ver- 
tragsrecht. Die privatrechtliche Organisation der Ar- 
beit wird in ihrem regelmässigen Verlauf durch die 
Verträge und die diesen sich anschliessenden Schuld- 
verhältnisse beherrscht, wozu sich die unerlaubten Hand- 



198 



lungen bloss als vergleichsweise seltene Krankheitser- 
scheinungen verhalten. Nur darin hat die Schadener- 
satzpflicht, welche in der Regel aus den unerlaubten 
Handlungen entspringt, auch für das Vertragsrecht eine 
weittragende Bedeutung , dass die Nichterfüllung der 
Verträge in manchen Gesetzgebungen mit den uner- 
laubten Handlungen gleich behandelt wird und dass in 
allen Gesetzbüchern beide Fälle im wesentlichen von 
denselben Anschauungen und Interessen beherrscht 
werden. 

Fragen wir nun zuvörderst, welche Güter die bür- 
gerliche Gesetzgebung gegen die Verletzung durch un- 
erlaubte Handlungen beschützt, so werden wir drei 

Gruppen zu unterscheiden haben. Zunächst jene Güter, 
welche vorzüi^lich im Interessenkreis der besitzenden 
Volksklassen liegen, ferner jene Interessen, welche den 
besitzenden und den besitzlosen Volksklassen gemein- 
sam sind, endlich jene, welche bloss die ärmeren Be- 
volkerungsschichten zu verteidigen haben. 

Zu der ersten Gruppe gehören namentlich alle 
Vermögensinteressen. Da es sich hier um die Lebens- 
fragen der besitzenden Volksklassen handelt, so ist der 
straf- und zivilrechtliche Schutz der V^ermögensrechte 
auf das Sorgfältigste ausgebildet. Wie sehr die Ver- 
mögensinteressen in Beziehung auf die Schadenersatz- 
pflicht vor den persönlichen Gütern bevorzugt werden, 
ist schon in einem früheren Abschnitte dieser Blätter 
(XXXVI) auseinandeigesetzt worden. Der Entwurf ist 
in der Begünstigung der Vciinögensintcressen sogar 
noch über die meisten älteren Gesetzbücher hinausge- 
gangen, indem der Schadenersatz nicht nur die Ver- 
gütung der wirklich erlittenen Vermögenseinbusse, son- 



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199 



dem in allen Fällen auch jene des entf^angenen Ge- 
winnes umfasst. Dazu kommt noch, dass die Besitz- 
klagen und die Strafgesetze gegen den Diebstahl, Raub, 
Haus- und Landfriedensbruch und ähnliche Verbrechen 
einen machtigen Schutz der Vermögensinteressen, na- 
mentlich durch Aufrechterhaltung der tatsächlichen Seite 
der Eigentumsordnung, gewähren. Kurz, die besitzen- 
den Volksklassen befinden sich regelmässig nur in der 
Verlegenheit, zwischen den zahlreichen gesetzlichen 
Schutzmitteln ihrer Vermögensinteressen die richtige 
Wahl zu treffen. 

Zu der zweiten Gruppe, also zu jenen Gütern, welche 
im Interessenkreis der besitzenden wie der besitzlosen 
Volksklassen liegen, gehört das Leben, die körperliche 
Unversehrtheit, die Gesundheit, die Freiheit und die 
Ehre (§ 704 d. Entw.)*. Diese Guter werden, wie na- 
türüch ist, gegen schwere Aiignüc durch strenge Straf- 
gesetze in der wirksamsten Weise geschützt; dagegen 
ist der zivihechtliche Schutz, wie schon oben gezeigt 
wurde, in hohem Masse ungenügend. Vollständig fehlt 
es an jedem Schutzmittel gegen die leichteren, aber 
desto zahhreicheren und wirksameren Verletzungan der 
persönlichen Güter, welche innerhalb der Lohn-, Miet- 
und anderer Vertragsverhältnisse erfolgen, weil sich 
hier eben die Interessen der besitzenden und der be- 
sitzlosen Volksklassen m einem Gegensatz befinden. 

Die dritte Gruppe von Gütern, welche vorzüglich 
die besitzlosen Volksklassen zu verteidigen haben, um- 
fasst die Frauenehre und die Arbeitskraft. Zwar legen 
die wohlhabenden Stände diesen Gütern gleichfalls die 



« % 823, 824 BGB. 



200 



grösste Bedeutung bei, aber sie befinden sich in einer 
so günstigen sozialen Stellung, dass dieselben von den 
besitzlosen Volksklassen regelmässig gar nicht ange- 
griffen werden können. Dagegen gehört die Frauen- 
ehre und die Arbeitskraft zu jenen Interessen, deren 
wirksame Beschützung gegen Eingriffe der Reichen von 
den besitzlosen Volksklassen mit vollem Rechte er- 
wartet werden kann. 

In Wirklichkeit ist aber die Frauenehre und die 
Arbeitskraft weder im Zivil-, noch auch im Strafrecht 
hinreichend geschützt. Was die Frauenehre betrifft, 
so ist das Nötige schon in der Besprechung des Fa- 
milienrechts bemerkt worden. In der Tat lässt sich 
auch nicht verkennen , dass die Ehre der ärmeren 
Frauenspersonen durch eine richtige Gestaltung der 
Deflorationskiage und des Rechtsverhältnisses der un- 
ehelichen Kinder weit wirksamer geschirmt wird, als 
durch eine Erweiterung der Schadenersatzpflicht. 

Eine ähnliche ablehnende Haltung nimmt der Ent- 
wurf auch zu dem wichtigsten wirtschaftlichen Gute der 
besitzlosen Volksklassen nämlich zu der Arbeitskraft 
ein. Unter den persönlichen Gütern, deren Verletzung 
die Pflicht zum Schadenersatz und zur Entschädigung 
begründet, nennt der § 704 des Entwurfs ^ das Leben, 
den Körper, die Gesundheit, aber nicht die Arbeits- 
kraft. Man muss deshalb «wohl annehmen, dass eine 
blosse Minderung oder Aufhebung der Arbeitskraft, 
wenn mit ihr nicht zugleich eine Körperverletzung oder 
eine Gesundheitsstörung verbunden ist , niemals die 
Verbindlichkeit zum Ersatz des Vermögensschadens 



' § 823 BGB. 



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20I 



oder zur Leistung einer billigen Geldentschädigung he- 
wirken kann (vei^l. 726 d. Entw.)^ 

Und doch scheint mir unzweifelhaft, dass die Ver- 
letzungen der Gesundheit und der Arbeitskraft zwar 

oft, aber nicht immer zusammenfallen. Die Gesundheit 

ist nanilich ein Zustand des menschlichen Körpers, in 
welchem alle natürlichen Verrichtungen in völlit;^ regel- 
mässiger Weise vor sich gehen; die Arbeitskraft ist 
dagegen die Fähigkeit eines Menschen, in seinem Be- 
rufe dauernd zu wirken. Die Gesundheit ist folglich 
eine Tatsache, welche lediglich dem natürlichen Da- 
sein des Menschen angehört, während die Arbeitskraft 
schon eine Beziehung auf seinen sozialen Zustand in 
sich schliesst. Die Verletzung des einen Zustandes 
muss deshalb nicht notwendig eine Störung des andern 
herbeiführen. So ist der Zungenkrebs gewiss eine 
fürchterliche Krankheit, aber die Arbeitskraft eines ge- 
wöhnlichen Taglöhners wird dadurch lange Zeit nicht 
gestört werden. Umgekehrt kann ein Arbeiter durch 
Uebermüdung, Einatmen von Staub und schlechter 
Luft und ähnliche Schädlichkeiten seine Arbeitskraft 
lange Zeit verloren haben, bevor die Symptome einer 
Krankheit hervortreten. 

Mit ivucksicht aut diese Darstellung lialtc ich es 
für notwendig, dass in dem Entwurf (§ 704)^ neben 
dem Leben, dem Körper und der Gesundheit auch das 
wichtigste wirtschaftliche Gut der besitzlosen Volks- 
klassen : die Arbeitskraft als ein gegen unerlaubte Hand- 
lungen geschützter Zustand bezeichnet werde. 



1 § 843 BGB. 



2 § 823 BGB. 



202 



Das bürgerliche Gesetzbuch hat die Arbeitskraft 
weder in den §§ 823, 843 noch auch anderwärts als 
ein selbständiges, neben Leben, Körper und Gesund- 
heit besonders zu schützendes persönliches Gut aner- 
kannt. 



Jede unerlaubte Handlung, aus welcher eine Scha- 
denersatzverpflichtung entspringen soll, beruht auf einem 
Verschulden des Handelnden, im Sinne des Entwurfs 
auf bösem Vorsatz oder auf Fahrlässigkeit (§ 704 d.E.)*. 
Zwar kennen alle modernen Rechtssysteme eine be- 
trächtliche und unausgesetzt sich erweiternde Gruppe 
von Schadenersatzansprüchen, welche aul keinem Ver- 
schulden des Verpflichteten beruhen, sondern aus Billifj^- 
kcit oder anderen rechtspolitischen Gründen eingeführt 
worden sind. Aber vom Standpunkte der sozialen Mas- 
senwirkungen sind diese Fälle ohne grosse Bedeutung 
und können an dieser Stelle füglich übergangen werden. 

Damit nun in jedem einzelnen Falle entschieden 
werden könne, ob jemand ein Verschulden begangen 
oder genügende Sorgfalt entwickelt hat, muss ein Mass- 
stab vorhanden sein, an dem die Handlungsweise jedes 
einzelnen gemessen werden kann. Dieser Massslab ist 
nach dem Entwurf die Sorgfalt eines ordentlichen 
Hausvaters (§ 144 d. Entw.)^. Wer sich so be- 
nimmt wie ein ordentlicher Hausvater, dem kann re- 
gelmässig weder ein Verschulden zugerechnet noch 
eine Schadenersatzpflicht auferlegt werden, mag seine 
Tätigkeit auch in dem einzelnen Falle den äusseren 
Tatbestand einer unerlaubten Handlung aufweisen. 

* % 823 BGB. * Vgl. § 276 BGB. 



LI. 





203 



Kurz, wenn der Entwurf, der in dieser Richtung nichts 
Neues einführt, Gesetzeskraft erlangt, so wird man den 
ordentlichen Hausvater gleichsam als den juristischen 
Normalmenschen betrachten können. 

Und doch, welch* scheussliches Zerrbild, wert von 
der Hand eines Juvcnal oder eines Dicknis «gezeichnet 
zu werden, ist dieser ordentliche Hausvater des deut- 
schen Entwurfs ! Obgleich weder in dem Entwurf noch 
auch in den Motiven eine Begriffsbestimmung des or- 
dentlichen Hausvaters gegeben ist, so lässt sich doch 
aus denselben ein klares Bild dieser kläglichen Er- 
scheinung gewinnen. Lässt der ordentliche Hausvater 
jemand in Gefahr oder Not verkommen, dem er leicht 
hätte helfen können, so antwortet er, dass ein ordent- 
hcher Hausvater nur ȟber die Seinigen uiui das Seine 
»mit Gewissenhaftigkeit und Treue wacht« (Mot. I, 3/9). 
Hat er ein Mädchen verführt und verlangt dasselbe 
eine Entschädigung, so entgegnet er der Verführten, 
»dass sie trotz der Verführung der Willensfreiheit nicht 
»beraubt war, demjenigen aber, welcher in eine be- 
»schädigende Handlung eingewilligt, nach § 706 d. £. ^ 
»ein Anspruch auf Schadenersatz nicht zustehe« (Mot. 
IV, 914). Hat ein Arbeiter in seinem Dienste oder ein 
Mieter in einer ungesunden Wohnung seines Hauses 
die Gesundheit oder die Arbeitskraft cingebüsst, so 
tröstet er dieselben damit, dass er seine vcrtragsmäs 
sigen Verpflichtungen genau erfüllt habe (§ 503 — 505, 
559 d. Entw.)*. Hat der ordentliche Hausvater dem 
Nachbarn — ohne eigenen Nutzen und lediglich aus 
Gehässigkeit — seine Fenster durch eine Mauer ver- 



* Gestrichen. • Vgl. § 544, 618 BGB. 



204 



baut, so verweist er einfach auf die Motive (II, 727), 
wonach derjenige, der »ein besonderes Recht (hier das 

»Eigentumsrecht) ausübt, immer haftfrei sein muss, auch 
>wenn er aus Schikane handelt«. — Aehnliche Ant- 
worten des ordentlichen Hausvaters Hessen sich aus 
dem Entwurf und aus den Motiven noch in grosser 
Zahl zusammenstellen. 

Die Triebfedern, welche das Handeln des ordent- 
lichen Hausvaters bewegen, haben wir im Verlaufe 
dieser Darstellung zur Genüge kennen gelernt. Tat- 
sächlich ist der ordentliche I lausvatcr nichts als der 
Typus für die Einseitigkeit der Vu sitzenden Klassen, 
die notwendige persönliche Ergänzung für unser ein- 
seitiges Vermögensrecht. Man stelle mir diese typische 
Figur zur Verfügung und ich werde aus derselben allein 
den grössten Teil unseres heutigen Privatrechts heraus- 
spinnen. Deshalb wird auch eine volkstumliche Reform 
des rrivatrechts niemals gelingen, wenn man den ju- 
ristischen Normalmenschen von dem Nullpunkt der 
Sittlichkeit, auf welchem sich der ordentliche Haus- 
vater befindet, nicht auf ein höheres Niveau emporzu- 
heben versucht. Da der Typus des ordentlichen Haus- 
vaters fast alle Rechtsverhältnisse des Privatrechts 
durchdringt und beherrscht, so würden sich diese ins- 
gesamt durch eine solche Emporhebung allmählich 
milder und menschlicher f^estalten. Und es ist in der 
Natur der Sache ^c^^ründet, dass die vorteilhaften Fol- 
gen dieser Reform \'orzüglich den besitzlosen Volks- 
klassen zufallen werden, gegen weiche ja auch die 
Schärfe und Starrheit des heutigen Privatrechts am 
meisten gerichtet ist 




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205 



LH. 

Es ist nicht leicht, den Typus zu finden und mit 
einem kurzen Ausdruck zu bezeichnen, welcher den 

Massstab für die meisten Handlungen im Vertrags- und 
im Schadenersatzrecht, ja über diese hinaus im ganzen 
Privatrecht bilden soll. Das ist sicher, dass der ordent- 
Hche Hausvater, welcher sich m dem engen Kreis seiner 
selbstsüchtigen Interessen abschliesst, zu diesem Zwecke 
in einer Zeit nicht genügt, welche den Staat, ja die 
ganze Menschheit als eine grosse Gemeinschaft der 
sittlichen und wirtschaftlichen Interessen betrachtet. 
Andererseits wäre es aber auch verfehlt, diesen Mass- 
stab zu hoch emporzuschrauben und etwa den edelmü- 
tigen oder optei willigen Menschen als den allgemeinen 
Typus hinzustellen , da die Hingebung für fremde 
Zwecke bei der grossen Masse der Menschen niemals 
als dauernde W'illensrichtung vorausgesetzt werden kann. 

Auf die Gefahr hin, von den Juristen der Empfind- 
samkeit geziehen zu werden, möchte ich als den richtigen 
Mitteltypus den wackeren oder den brave n Men- 
sehen vorschlagen. Im Gegensatz zu dem ordentlichen 
Hausvater, welcher nur über die Seini^en und das 
Seine wacht, weiss der wackere Mensch die eigenen 
und fremden Interessen in das richtige Verhältnis zu 
bringen. Eine schikanöse Ausübung seiner Rechte ist 
ihm fremd. Was sein Verhältnis zu den besitzlosen 
Volksklassen betrifft, so weiss er, dass er seine wirt- 
schaftlichen Interessen nur soweit verfolgen darf, dass 
dadurch die höchsten persönlichen Güter der seinem 
Schutze anvertrauten Personen nicht gefllhrdet und ver- 
letzt werden. Hiebei wird er nicht nur die sclbstsüch- 



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2o6 



tige Auffassung eines Teils der wohlhabenden Stände^ 
sondern auch die sittlichen Anschauungen der grossen 
Volksmassen beachten. Kurz, er wird nicht nur seine 
eigene Wohlfahrt wahrnehmen, sondern auch für das 
Wohl anderer jene Sorgfalt anwenden, zu welcher ein 
wackerer Mensch durch Recht und Volkssitte ver- 
pflichtet ist. 

An die Stelle der krausen und willkürlichen Re- 
geln des Entwurfs, welche den Begriff der unerlaubten 
Handlung bestimmen (§ 704, 705) ^ wäre daher folgen- 
der sehr einfacher und volkstümlicher Paragraph zu 
setzen : »Jedermann ist verpflichtet, für andere die 
»Sorgfalt anzuwenden, zu welcher ein wackerer Mensch 
»durch Gesetz und Volkssitte verpflichtet ist. Jede 
»Verletzung dieser Verpflichtung ist im Sinne dieses 
»Abschnittes eine unerlaubte Handlung.« 

Durch eine solche Bestimmung wurde natürlich 
der Kreis der unerlaubten Handlungen erweitert werden, 
wie denn auch ohne eine gewisse Einschränkung der 
Handlungsfreiheit der wohlhabenden Stände eine Ver- 
besserung der Verhältnisse zu den besitzlosen Volks- 
klassen unmöglich ist; aber jene Erweiterung ist weniger 
beträchtlich, als man auf den ersten Blick annehmen 
wird, da ja schon der § 705^ des Entwurfs zahlreiche 
Fälle der blossen Unsittlichkeit zu den unerlaubten 
Handlungen zählt, welche unter Umständen eine Scha- 
denersatzpflicht begrihiden. 

Stellt man sich auf den liier vertretenen Stand- 
punkt, so müsste man drei Grade des Verschuldens 
unterscheiden: den bösen Vorsatz, die Fahrlässigkeit, 



i § 823—826 BGB. < § 826 BGB. 



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207 



den Eigennutz. Vorsatz wäre dann vorhanden, wenn 
eine Handlung mit Absiclit und Bewusstsein unternom- 
men wird ; Fahrlässigkeit, wenn nicht die Sorgfalt eines 
ordentlichen Hausvaters angewendet wird (i? 144 d. E.)^; 
Eigennutz, wenn der Handelnde für andere nicht die 
Sof^alt eines wackeren Menschen entwickelt. 

Im allgemeinen wäre nun den Rechtsverhältnissen 
des Privatrechts der Typus des wackeren Menschen 
zu Grunde zu legen. Zum mindesten mösste aber 
jedermann nicht nur für Vorsatz und Fahrlässigkeit, 
sondern auch für den blossen Eigennutz einstehen, wenn 
es sich innerhalb oder ausserhalb der Vertragsverhält- 
nisse um die persönlichen Güter seiner Mitbürj^er han- 
delt. Der Dienstherr, der Vermieter, der Verkäufer 
von Lebensmitteln, derjenige, welcher den äusseren 
Tatbestand einer unerlaubten Handlung setzt, wären 
demgemäss juristisch verantwortlich, wenn sie die Sorg- 
falt eines wackeren Menschen ausser acht lassen und 
dadurch die persönlichen Güter eines Ahibürgers ver- 
letzen. Von diesem Gesichtspunkt aus wäre es nicht 
schwer, das Recht der Verträge, der unerlaubten Hand- 
lungen, sowie auch die übrigen Gebiete des Frivatrechts 
in Beziehung auf die juristische VerantwortUchkeit um- 
zugestalten. 

Den wackeren Menschen könnten sich auch die 
besitzlosen Volksklassen als Typus gefallen lassen, 
während der ordentliche Hausvater offenbar der wohl- 
behauste und begüterte Bürger ist, der nur die An- 
schauungen des selbstsüchtigsten Teils der besitzenden 
Volkskiassen widerspiegelt. Auch würde dadurch der 



* Vgl. § 376 BGB. 



2o8 



Massstab alles rechtlichen Handelns von der besonderen 

Beziehung zu dem männlichen Geschlecht befreit wer- 
den. Denn wie kann man vernünftigerweise von sämt- 
Uchen deutschen Frauen verlangen, dass sie sich wie 
ordentliche Hausväter benehmen? Die Engländer, wel- 
chen man feinen Takt in praktischen Dingen gewiss 
nicht absprechen kann, haben ein Sprichwort, dass das 
Parlament alles vermag, nur nicht ein Weib zu einem 
Manne zu machen. Ich möchte auch dem deutschen 
Reichstag nicht raten, durch Annahme des Entwurfs 
den Versuch zu wagen, die deutschen Erauen wenig- 
stens in juristischer Beziehung zu Männern zu machen. 

Ich weiss sehr wohl, dass durch die Vertauschung 
zweier Ausdrücke und einige daran sich schliessende 
Aenderungen des Gesetzbuchs noch nicht das tausend- 
jährige Reich herbeigeführt werden wird. Aber un- 
zähHge Härten, die man bei dem ordentlichen Haus- 
vater natürlich findet, konnten dem wackeren Mensclien 
nicht gestattet werden und so würde sich allmählich 
durch die Praxis der Gerichte und des bürgerlichen 
Lebens eine höhere Auffassung der gegenseitigen Pflich- 
ten aller Staatsbürger Bahn brechen. Ist ja doch auch 
die soziale Bewegung unserer Zeit dahin gerichtet, die 
einzelnen Individuen aus dem engen Bannkreise ihrer 
Selbstsucht herauszureissen und dieselben zu einer gros- 
sen Gemeinschaft der Zwecke und Interessen zu ver- 
schmelzen. Ja, wenn ich die sozialen Reformbestre- 
bungen der Gegenwart mit einem juristischen Kunst- 
ausdruck bezeichnen sollte, so möchte ich sagen, dass 
wir unter dem erziehenden Zwange des Staates bestrebt 
sind, uns aus ordentlichen Hausvätern in wackere Men- 
schen zu verwandeln. 



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209 



Das börgerliche Gesetzbuch hat den ordentlichen 

Hausvater — vielleicht infolge der oben (Ll i an diesem 
Hej^rilf geübten drastischen Kritik — aus seinem Wort- 
schatz gestrichen. Dies hat aber nur zur Foli^e gehabt, 
dass das Gesetzbuch die sittliche Haltung des juristi- 
schen Normalmenschen noch tun einige Grade tiefer 
schraubte und dass deshalb der Rechtszustand für die 
besitzlosen Volksklassen noch schroffer und einseitiger 
gestaltet wurde. Auch nach dem bürgerlichen Gesetz- 
buch haftet jedermann für Vorsatz und Fahrlässigkeit; 
fahrlässig ist aber derjenige, welcher die irn V^erkehr er- 
forderliche Vorsicht ausser acht lässt (§ 276, 823 B.G.B.). 
Nun ist aber gerade der Verkehr jenes Gebiet, auf dem 
die sozialen Machtverhältnisse am unmittelbarsten zum 
Ausdruck kommen und er wird deshalb gerade auf den 
wichtigsten Gebieten von den Besitzenden» ja oft genug 
von einer Handvoll reicher und machtiger Personen 
beherrscht. Man denke nur daran, wie enge Lebens- 
kreise in unserer Zeit die Börse- und Handelsusancen 
bestimmen ! Wer daher den juristischen Noruiahncn- 
sehen bloss auf die im Verkehr herrschenden Anschau- 
ungen verweist, stellt ihn in sittlicher Beziehung noch 
tiefer als den ordentlichen Hausvater, der wenigstens 
im Familien- und Freundeskreis menschlichen Anwand- 
lungen gar nicht unzugänglich ist. 

LIII. 

Es wäre leicht, auch den ganzen Abschnitt des 
Entwurfs über die Schuldverhältnisse aus unerlaubten 
Handlungen einer ähnlichen Kritik zu unterziehen. An 
dieser Stelle will ich nur den schon oft erwähnten § 706 ^ 



^ Gestrichen. 
M e n g e r , Dbi bOiserL Recht. 4. Au6. 



2IO 



des Entwurfs besprechen, der das Ucberwuchern 
der Eigentumsinteressen und die Unterschätzung der 
persönlichen Güter der grossen Massen deutlich er- 
kennen lässt und so in engem Rahmen den ganzen 
einseitigen Geist des heutigen Obligationenrechts wider- 
spiegelt. 

Der § 706 des Entwurfs lautet folgendermassen : 

»Hat der Beschädigte in die beschädigende Handlung 
»eingewilligt, so steht ihm ein Anspruch auf Schaden- 
>ersatz nicht zu.« Diese Bestimmung ist unbedenklich, 
wenn es sich lediglich um eine Beschädigung der Ver- 
mögensinteressen handelt, weil eine solche durch die 
Einwilligung des Beschädigten den Charakter der Wider- 
rechtlichkeit verliert. Aber der Beschädiger soll nach 
den Motiven (II, 730) auch dann von jeder Entschä- 
digungspnicht frei sein, >wenn die Handlung trotz der 
»Einwilligung eine widerrechtliche und sogar strafbare 
»bleibt, z. B. in dem Falle der Verstümmelung behufs 
»Abwendung der Militärpflicht oder der Tötung mit 
»Einwilligung des Getöteten« (StG.B. § 142, 216). Da 
das deutsche Reichsstrafgesetzbuch, damit über den 
Tötenden die geringere Strafe des § 216 verhängt wer- 
den kann, nicht bloss die Einwilligung des Getöteten, 
sondern sein ;> ausdrückliches und ernstliches Verlangen« 
voraussetzt, so ist gar nicht ausgeschlossen, dass auch 
ein Mörder (§ 211 StG.B.) durch die Einwilligung des 
Gemordeten von der Verbindlichkeit zum Schadener- 
satz befreit wird. 

Mit dem Satze, dass die Einwilligung in die schwer- 
sten Verbrechen ein zivilrechtlich göltiger Akt ist und 
wichtige Rechtsfolgen hervorbringt , machen die Ver- 
fasser im weiteren Verlauf der Motive vollkommen 



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211 



Ernst. »Die Einwilligung, sagen die Motive (U, 730), 
»ist ein einseitiges Rechtsgeschäft, erfordert also volle 
»und unbeschränkte Geschäftsfähigkeit des Einwilligen- 
den 64, 65 — 71 d. Entw.)«*. Demgemäss wird das 
minderjährige Mädchen, welches sich von seinem Ge- 
liebten töten lassen will , die Genehmigung ihres ge- 
setzlichen Vertreters (Vater oder Vormund) einzuholen 
haben (§ 65 d. Entw.)^, um den Mörder oder Tot- 
schläger von der Schadenersatzpflicht zu befreien. Ja, 
wenn das Mädchen sich unter der Gewalt eines Vor- 
mundes befindet, so wird nicht selten (i^ 1669, 1647 
d. Entw.) ^ die Genehmigung des Vormundschaftsge- 
richtes notwendig sein. Gewiss werden sich die deut- 
schen Tragödiendichter diesen packenden Effekt nicht 
entgehen lassen und so wird die sterbende Heldin des 
künftigen deutschen Trauerspiels neben anderen Erin- 
nerungen an den kurzen Liebestraum auch die Be- 
willigung des Amtsgerichts in den bebenden Händen 
halten. 

Man wende dagegen nicht ein , dass es sich in 
solchen Fällen um einen unsittlichen Akt handelt, weil 
durch Beseitigung der privatrechtlichen Folgen der An- 
reiz zum Verbrechen erheblich verstärkt wird. Denn 
entweder ist die Zustimmung zu einem Verbrechen ein 
Rechtsgeschäft, dessen Inhalt gegen die guten Sitten 
verstösst ; claiiii niuss auch die Einwilligung grossjähri- 
ger Personen in die Verletzung ihrer persönlichen Güter 
privatrechtlich wirkungslos sein (§ 106 d. Entw.)*. Oder 
eine solche Einwilligung wird nicht als eine unsittUche 



» § 104— 115 BGB. 2 g BGB. » § i8i2, 1792 BGB. 
* § 138 BGB. 

14* 



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212 



Handlung betrachtet; dann kann der gesetzliche Ver- 
treter und das Vormundschaftsgericht seine Genehmi- 
gung nicht versagen, wenn sich sonst der Schritt als 

zweckmässig darstellt. 

Der wahre Grund für so gehäuften Widersinn ist 
jedenfalls auf dem Gebiete des Vertragsrechts zu suchen. 
Wenn der Dienstherr, wie wir oben (S. i68 flg.) gesehen 
haben, seine vertragsmässigen Rechte ausüben kann, 
mag auch dadurch das Leben, der Körper, die Ge- 
sundheit, die Arbeitskraft, die Ehre und die Sittlich- 
keit des Arbeiters verletzt werden \ so kann man diese 
Befugnis gewiss nur dadurch begründen, dass der Dienst- 
nehmer eben der Verletzung seiner persönlichen Güter 
zugestimmt hat. Wenn nun die Zustimmung zur Ver- 
letzung persönlicher Güter in dem Rahmen eines Ver- 
tragsverhältnisses jede Entschädigungspflicht beseitigt, 
so ist es nur folgerichtig, dass derselbe Rechtssatz 
auch auf dem Gebiete der unerlaubten Handlungen 
anerkariHi wird. Die unsinnigen Konsequenzen, welche 
hier aus diesem Rechtssatz entsprine^en , mögen uns 
aber darüber belehren , welch ungenügender Schutz 
den persönlichen Gütern der besitzlosen Volksklassen 
auf dem sozialpolitisch ungleich wichtigeren Gebiete 
des Vertrs^rechts gewährt ist. 

Vom Standpunkt der hier vertretenen Auflassung 
kann die richtige Fassung des § 706 des Entwurfs 
keinem Zweifel unterliegen. Derselbe hätte etwa so zu 
lauten : »Hat der Beschädigte bei Vermögensbeschä- 
»digungen in die beschädigende Irland lung eingewilligt, 
»so steht ihm ein Anspruch auf Schadenersatz nicht 



< Vgl. § 61S, 6X9 BGB. 



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»zu. Handelt es sich dagegen um eine Verletzung des 

>Lcbcns, des Körpers , der Gesundheit, der Arbeits- 
»kraft, der Ehre und der Sittlichkeit, so ist die Zu- 
> Stimmung des Verletzten auf die V^crpflichtung des 
>Beschädigers zum Ersatz des Vermögensschadens und 
»zur Leistung einer billigen Geldentsciiädigung ohne 
»rechtliche Wirkung. Auch ein Vertrag, durch welchen 
»auf diese Ansprüche vor erfolgter Verletzung ver- 
zichtet wird, ist ungültig.« 

Eine solche allgemeine Bestinimung /um Schutze 
der persönlichen Güter hat das bürgerliche Gesetzbuch 
nicht aufgenommen, wohl aber hat es ähnliche Rechts- 
sätze speziell für die Wohnungsmiete und den Lohn- 
vertrag aufgestellt (§ 544, 618, 619 B.G.B.). 



214 



Fünfte Abteilung. 

Das Erbrecht des Entwürfe eines bürgerlichen 

Gesetzbuchs für das deutsche Reich. 

LIV. 

Das Erbrecht ist eine aristokratische Einrichtung, 
an welcher die besitzlosen Volksklassen fast gar nicht 
und unter den Besitzenden nur vethältnismässig enge 

Kreise teilnehmen. Die besitzlosen Voikhklassen, also 
die grosse Mehrheit der Nation, haben an dem Erb- 
recht nur insofern ein mittelbares Interesse, dass jede 
Erbfolgeordnung, welche die Anhäufung von Reich- 
tümern in den Händen weniger begünstigt, die Zahl 
der Besitzlosen vermehrt und dadurch ihre Lebenshal- 
tung notwendig herabdrückt. An dieser Stelle werden 
deshalb nur wenige Bemerkungen über einzelne Prin- 
zipienfragen genügen. 

Am deutlichsten zeigt sich die aristokratische Ten- 
denz des Erbrechts bei jenen Gesetzgebungen, welche 
vorschreiben, dass das Vermögen nach dem Tode des 
Erblassers einer bestimmten Person, gewöhnlich dem 
ältesten Sohne, mit Ausschluss aller anderen Familien- 
angehörigen zufallen soll. Hier wird also der grosse 
Gegensatz zwischen den Besitzenden und den Besitz- 



215 



losen selbst in die Familien der besitzenden Voiksklas- 
sen getragen. Ein einziges Kind erhält das von dem 
Erblasser hinterlassene Vermögen, ohne dass dieser 
durch letztwilUge Verfügung etwas anderes bestimmen 
kann ; die übrigen werden Proletarier oder sinken doch 
wenigstens in tiefere Kreise der Gesellschaft hinab. 
Man kann diese Erbfolgeordnung das System der 
zwangsweisen Erbvereinig unc^ nennen. 

Das System der zwangsweisen Erbvereinigung be- 
zieht sich in der Regel nicht auf das ganze Vermögen 
des Erblassers, sondern nur auf einzelne sozial und 
wirtschaftlich besonders wichtige Bestandteile der Ver- 
lassenschaft. Das bekannteste Beispiel dieser Art ist 
das Familienfidcikommiss, dessen Wesen darin besteht, 
dass das l^ldcikommissvermögen zur Erhaltung des 
Glanzes einer h'amilie immer nur einem bestimmten 
Familienmitgliede, gewöhnlich dem ältesten Sohne des 
verstorbenen Fideikonmiissbesitzers, kraft gesetzlicher 
Vorschrift zufällt. Vielfach werden die wesentlichen 
Bestimmungen der Fideikommisserbfolge auch auf die 
grosse Masse der gewöhnlichen Bauerngüter angewendet ; 
in verhüllter Form verfolgt dieselbe aristokiatische Ten- 
denz das sogenannte Anerbenrecht. Da unter der 
Herrschaft des Systems der zwangsweisen Erbvereini- 
gung, namentlich wenn dieses in irgend einer Form 
auch auf die gewöhnlichen Bauerngüter ausgedehnt 
wird, die enterbten Kinder in Masse den besitzlosen 
Volksklassen zuströmen und deren Lebenshaltung her- 
abdrücken, so ist dasselbe als die für die ärmeren Be- 
völkcrungsschichten ungünstigste Gestaltung des Erb- 
rechts zu betrachten. 

Die zweite Form der Erbfolgeordnung ist das Sy- 



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2l6 



Stern der zwangsweisen E r b t c i l u n g. Darnach 
wird das Vermögen des Verstorbenen unter seine Kin- 
der oder in deren Ermanglung unter die entfernteren 
Verwandten von Gesetzes wegen geteilt, ohne dass der 
Erblasser diese Erbfolge durch letztwilUge Verfügung 
ändern kann. Auch das System des Erbteilungszwangs 
bezieht sich in der Regel nicht auf das ganze Ver- 
mögen des Erblassers, sondern bloss auf einen grös- 
seren oder geringeren Teil der Verlassenschaft Es 
ist das eigentlich volkstümliche Erbsystem, da es von 
den besitzlosen Volksklassen, die ohnedies die Tendenz 
haben, sich durch übermässige Kindererzeugung über 
den Bedarf zu vermehren, wenigstens die Enterbten 
der höheren Stände fernzuhalten sucht. 

Dies hat der französische Konvent sehr genau er- 
kannt, welcher neben dem Familienrecht auch dem 
Erbrecht seine Aufmerksamkeit zugewendet hat. Nach 
mehreren Gesetzen dieser Versammlung^ kann jeder 
Staatsbürger, wenn er Kinder hat, bloss über den zehn- 
ten Teil, in anderen Fällen aber nur über ein Sechs- 
teil seines Vermögens frei verfügen ; der Rest sollte 
nach jenen Bestimmungen unter die gesetzlichen Erben, 
namentlich auch unter die Kinder des ICi blassers, ohne 
Einräumung eines Vorrechts geteilt werden. Noch im 
heutigen französischen Recht bildet die freie Verfügung 
des Erblassers die Ausnahme, das System der zwangs- 
weisen Erbteilung die überwiegende Regel (Code civil 
Art. 913 ff.). Auch in den übrigen Rechtssystemen 



* Gesetz vom 5 brumaire an II. (26. Okt. 1793) Art. 9 und 11; 
— Ges, vom 17 nivöse an II. (6. Jan. 1794) Art. 9 und 16; — Ges. 
vom 22 nivöse an II. (11. Jan. 1794) Z. 6. 



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217 

wird der Gedanke des Erbteilungszwanges durcli das 
Pflichtteilsrecht in umfassendem Masse verwirklicht. 

Zwischen dem System der zwangsweisen Erbver- 
einigung und Erbteilung steht die dritte Form der Erb- 
folge : das System der Testaroentsfreiheitin der 
Mitte. Das Wesen dieses S3rstems besteht darin, dass 
der Wille des Erblassers für das Schicksal seines Ver- 
mögens nach seinem Tode entscheidend ist. Die Te- 
stamentsfreiheit kann aber wieder auf eine doppelte 
Weise aufgefasst werden. 

Zuvörderst so, dass die freie Verfügung des Erb- 
lassers über sein Vermögen als die Regel, die gesetz- 
liche Erbfolge nur als eine Ausnahme zu betrachten 
ist, welche durchgreifend von der Rücksicht auf den 
Willen des Verstorbenen beherrscht wird, liier ver- 
folgt also der Gesetzgeber bei der Feststellung- der ge- 
setzUchen Erbfolge keinen anderen Zweck, als den 
wahrscheinlichen Willen des Erblassers zu ermitteln; 
die gesetzliche Erbfolge ist gleichsam ein allgemeines 
Testament, welches der Gesetzgeber für den Erblasser 
in jenen Fällen festsetzt, wo dieser selbst ein solches 
nicht hinterlassen hat. Umgekehrt k:iiin man aber auch 
die gesetzliche TM-bfolge als die regelmässige I^'orm der 
Beerbung ansehen, von welcher der Erblasser jedoch 
durch Ictztwillige Verfügung abweichen kann, wenn 
eine solche Abweichung nach seinem Ermessen sich 
in dem einzelnen Falle als zweckmässig darstellt Beide 
Auffassungen führen in juristischer Beziehtmg zu man- 
chen wesentlich abweichenden Folgerungen; vom Stand- 
punkt der sozialen Massenwirkungen ist jedoch der 
ganze Gegensatz ohne entscheidende Bedeutung. 

So gross nun auch die Abweichungen sind, welche 



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« 



2l8 



die Erbrechtssysteme der einzelnen Länder durch die 

vorherrschende Geltung jener drei Grundformen tren- 
nen, so wird doch das wirtschaftUche Leben der Völ- 
ker dadurch weniger beeinflusst, als von Juristen und 
Volkswirtschaftslehrern gewöhnlich angenommen wird. 
In Frankreich herrscht noch gegenwärtig das demokra- 
tische Prinzip des Erbteilungszwanges» während Eng- 
land ein auf der Testamentsfreiheit beruhendes aristo- 
kratisches Erbrecht besitzt ; dennoch haben beide Län- 
der in der wirtschaftlichen Entwicklung die höchste 
Stufe erreicht. Das wirtschaftliche Leben weiss sich 
eben sehr bald den verschiedensten rechtlichen Formen 
anzuschmiegen. Dagegen ist die Gestaltung des Erb- 
rechts allerdings für die Lagerung der Gesellschafts- 
schi chtcn innerhalb der Nation, für das Verhältnis zwi- 
schen den besitzenden und den besitzlosen Volksklas- 
sen, kurz für den ganzen sozialen Zustand von ent- 
scheidendem Einfluss. Während der Staat den bereits 
vorhandenen gesellschaftlichen Gruppen und Interessen 
fast machtlos gegenübersteht, hat er es in seiner Hand, 
durch das Erbrecht die sozialen Zustände der Zukunlt 
innerhalb gewisser Grenzen frei zu bestimmen. 

LV. 

Fragt man nun, wie sich das Erbrecht des deut- 
schen Entwurfs zu den dargestellten Prinzipienfra- 
gen verhält, so kann man diese Frage so beantworten, 
dass die Verfasser im wesentlichen die bisherigen Zu- 
stände aufrecht erhalten wollen. Während sie sonst 
die gesetzgeberischen Gedanken, welche den besitzlosen 
Volksklassen nachteilig sind, überall bis zur äussersten 
Schärfe und Schroifheit gesteigert haben, ist auf dem 



L^oogle 



219 



Gebiete des Erbrechts eher eine Milderung und Ab- 

schwächung wahrzunehmen. 

Das Erbrecht des Entwurfs beruht zweifellos auf 
dem Grundsatz der T es t a m e n ts f r e i h e i t. Der 
Erbe — sagt der § 1751 ^ des Entwurfs — kann von 
dem Erblasser durch Verfügung von Todes wegen be- 
stimmt werden (Erbeinsetzung)« Wenn und soweit der 
Erblasser einen Erben nicht eingesetzt hat oder die 
Erbeinsetzung unwirksam ist oder unwirksam wird, 
tritt die gesetzliche Erbfolsfe ein. Aus dieser Gesetzes- 
stelle geht wohl liervor, dass die Verfasser des Ent- 
wurfs die freie Verfüg-vinsj des Erblassers als den ur- 
sprünglichen Regelfall, die gesetzliche Erbfolge als eine 
von der Rücksicht auf den Willen des Erblassers be- 
herrschte Folgeerscheinung gedacht haben (vgl. jedoch 
Mot. V» 2). Doch kann der Erblasser, wenn ich mich 
dieses unjuristischen Ausdrucks bedienen darf, das 
Schicksal seines Vermögens nur für eine Generation 
bestimmen; denn eine Nacherbfolge kann (§ 1812 d. E.)" 
nur einmal eintreten und wenn der Erblasser gleich- 
wohl mehrere Nacherben eingesetzt hat, so wird diese 
Einsetzung mit dem Eintritt der ersten Nacherbfoigc 
unwirksam. 

Das Prinzip der Testamentsfreiheit, welches dem 
Entwurf zu Grunde liegt, wird aber in sehr weitem Um- 
fang durch das System des Erbteilungszwanges 
modifiziert, indem der Erblasser verpflichtet ist, gewis- 
sen Angehörigen wenigstens die Hälfte des Wertes 
ihres gesetzlichen Erbteils zu hinterlassen (Pflichtteil). 
Die Personen, welchen der I^flichtteil gebührt, sind nach 



^ Gestrichen. 



* Vgl. § 3109 BGB. 



220 



dem Entwurf die Kmdci und sonstigen Abkömmlinge 
des Erblasbcia und in deren Ermanc^flung seine Kitern, 
ferner sein Ehegatte. Doch begründet das rflichtteils- 
recht nicht emen Anspruch auf einen entsprechenden 
Anteil an den Vermögensstücken der Verlassenschaft, 
sondern lediglich auf Zahlung des in einer bestimmten 
Weise zu ermittelnden Geldwertes (§ 1975, 1976, 1986 
d. Entw.)*. 

Aber auch das System der zwangsweisen Erb- 
vereinigung — und dies ist der dritte Punkt — 
soll nach dem ?2ntwurf in dem bisherigem Umfang auf- 
recht erhalten werden. Nach dem Einführungsgesetz 
(Art. 35)2 bleiben die Bestimmungen der Landesgesetze 
über die deutschrechtlichen Institute, welche in unserer 
Zeit vorzugsweise den Gedanken des Erbvereinigungs- 
zwanges verwirklichen, nämlich über die Familienfidei- 
kommisse, die Lehen und die Stammgüter unberührt 
und es können über diese Rechtsinstitute auch in Zu- 
kunft jederzeit neue Landesgesetze erlassen werden. 

Die Fideikommisse, die I eben und die Stammgüter 
sind vorherrschend zur Erhaltung des Glanzes adeliger 
Familien bestimmt; die besitzlosen Volksklassen wer- 
den durch diese Institute wenigstens unmittelbar nicht 
benachteiligt, weil die enterbten Kinder in andere Le- 
benskreise hinabsteigen. Desto wichtiger ist für die 
besitzlosen Bevölkerun^.^schichten die Erbfolge in die 
gewöhnlichen Bauerngüter, weil ihnen naturgemäss aus 
den ärmeren Klassen des Bauernstandes alle jene Ele- 
mente zuströmen, welche durch den Erbvcreinigungs- 
zwang von dem Mitbesitz des väterlichen Gutes aus- 



' § 2303, 2311 BGB. * Alt. 59 B.G. 





221 



geschlossen werden. Das Rechtsinstitut, welches diesen 
aristokratischen Tendenzen dient, ist in unserer Zeit 
das Anerbenrecht, eine eigentümliche Form der Erb- 
folge in Bauerngüter, in der das System der zwani^s- 
weisen Erbvereinigung mit dem Grundsatz der Testa- 
mentsfreiheit kombiniert erscheint 

Die in einzelnen Bundesstaaten geltenden Landes- 
gesetze über das Anerbenrecht sollen nun auch unter 
der Herrschaft des börgerlichen Gesetzbuchs fortbe- 
stehen. Nach dem Ivintuhrun<^s^a\sctz (Art. 83) ^ bleiben 
nämlich die landesgesetzlichen Vorschriften unberührt, 
nach welchen, wenn zu einem Nachlasse ein zum Be- 
triebe der Land- oder Forstwirtschaft bestimmtes Grund- 
stück gehört und mehrere Erben vorhanden sind, einer 
der Erben (der Anerbe) von den übrigen Miterben 
verlangen kann, dass ihm bei der Auseinandersetzung 
das Grundstück mit Zubehör (Anerbengut) gegen Er- 
satz eines gewissen Wertes überlassen werde In dieser 
gesetzlichen Begriffsbestimmung^ des Anci benrechls ist 
der Gedanke des ErbvereiniLrun<fszwan!7es sehr deutlich 
ausgesprochen ; der Anerbe hat den Anspruch, dass 
ihm allein das Bauerngut, regelmässig der wertvollste 
Teil der Verlassenschaft, eingeräumt wird. 

Mit diesem Grundgedanken verbindet sich nun 
allerdings auch das System der Testamentsfreiheit, in- 
dem nach dem Einführungsgesetz (Art. 83) • dem Eigen- 
tümer des Bauerngutes durch landesgesetzliche Vor- 
schriften das Recht nicht entzogen werden kann, das 
Anerbenrecht durch Verfügung von Todes wegen aus- 
zuschliessen oder zu beschränken. Der Eigentümer 



> Art. 64 E.G. * S. jetzt auch § 2049 BGB. * Art. 64 E.G. 



222 



kann also nicht nur während seines Lebens über das 
J^aiierngut durch Verträge frei verfügen (Mot. des Einf.- 
Gcs. S. 216), sondern er kann auch in seinem letzten 
Willen die Teilung des Bauerngutes anordnen. Hat er 
aber dies unterlassen, so tritt das System der zwangs- 
weisen Erbvereinigung in der Form des Anerbenrechts 
in Wirksamkeit Der Anerbe erhält überdies das Gut 
zu einem tief unter dem wahren Wert bestimmten 
Preis ; selbst die Pflichtteilsansprüche der Miterben, ob- 
gleich der Pflichtteil ohnedies nur die Hälfte des ge- 
setzlichen Erbteils beträgt, können bei der Bewertung 
des Gutes beeinträchtigt werden (Art. 84, 85 des Einf.- 
Ges. und Mot. S. 217)^ Kurz das Anerbenrecht ist 
ein Rechtsinstitut, welches den Familienegoismus der 
ländlichen Bevölkerung und ihre Scheu vor der Errich- 
tung letztwilliger Verfügungen dazu benutzt, um unter 
Aufrechterhaltung der Verkehrsfreiheit in Ansehung der 
Bauerngüter die wesentlichen Wirkungen des Erbver- 
einigungszwanges herbeizuführen. 



Die a r i stokrati s ch e n Elemente eines Vol- 
kes, welche ihre vorteilhafte Lage vorherrschend der 
Gunst der Gesetzgebung verdanken, haben überall die 
Tendenz, die Grundsätze, auf welchen ihre eigene soziale 
Stellung beruht, über alle Schichten der Gesellschaft zu 
verbreiten. Vor allem muss jede zielbewusste Grund- 
aristokratic das System der zwangsweisen Erbvereini- 
gung in ihren eigenen hamilien durchführen und des- 
halb das lebenskräftigste Rechtsinstitut, weiches diesem 



' S. jet2t attch § 2049, 3312 BGB. 



LVI. 





223 



Zwecke dient, nämlich das Familienfideikommiss aus- 
bilden und entwickein. Dann aber wird die Grund- 
aristokratie trachten, die Rechtsregeln des Familienfidei- 
kommisses auch auf die Bauerngüter auszudehnen; als 
Ueber^ani,sform zu diesem Endziel kann die Zwitter- 
bildung des Anerbenrechtes dienen. Auf dem Gebiete 
des Gewerbes verfolgt dieselbe aristokratische Tendenz 
das System der mehr oder weniger geschlossenen Zünfte, 
durch welches das Recht, gewerbliche Arbeiten für ei- 
gene Rechnung zu verrichten, kraft positiver Gesetzes^ 
Vorschrift nur bestimmten begünstigten Meistern ein- 
geräumt wird. Kurz, wenn die aristokratischen Ele^ 
mente eines Volkes hinreichende Einsicht in das Wesen 
gesellschaftlicher Alacht Verhältnisse besitzen, so werden 
sie ihre günstige, aber gefährdete T aLV" in der Weise 
stützen und sichern müssen, dass sie nut Hilfe der Ge- 
setzgebung innerhalb der wichtigeren Stände der Ge- 
sellschaft ein Abbild ihrer eigenen sozialen Stellung 
zu schaffen versuchen« 

So sehr nim auch alle diese Massregeln in der 
natürlichen Richtung der aristokratischen Bestrebungen 
liegen, so wäre es doch völlig verfehlt, dieselben, wie 
so oft geschehen ist, als christlich-soziales Programm 
zu bezeichnen. Vielmehr stehen sie nach meiner Auf- 
fassung zu dem Christentum in einem ausgesprochenen 
Gegensatz. Christus hat sich ausschliesslich eine reli- 
giöse Aufgabe gestellt und hatte deshalb gar kein so- 
ziales Programm. Aus seinen überlieferten Reden ist 
nur eine tiefe Sympathie für die Armen und eine ebenso 
entschiedene Abneigung gegen die Reichen zu ent- 
nehmen. Bekannt ist der Ausspruch Christi (Matth. 
19, 24), dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr kom- 



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224 

men werde, als ein Reicher in das Himmelreich — 
wohl die furchtbarste Verurteilung des Reichtums, die 
jemals der Mund eines Rcligionsstifters ausgesprochen 
hat. Da nun jenes aristokratische Programm die Ten- 
denz verfolgt, innerhalb aller Stände der Gesellschaft 
künstlich Reiche und Arme zu schaffen, so kann man 
mit Sicherheit voraussetzen, dass Christus demselben 
seine Genehmigung versagt haben würde. 

Dieses aristokratische Programm in Verbindung 
mit der Arbeiterschutzgesetzgebung und der Zwangs- 
versicherung bildet nun ungefähr diejenigen Massregeln, 
welche heute in der deutschen Wissenschaft als die 
Sozialreform bezeichnet werden. Man will in jedem 
Stande einer Gruppe von begünstigten Personen ein 
Gedeck an dem grossen Bankett der Natur sicherstellen, 
ohne zu bemerken, dass die weit überwiegende Mehr- 
zahl an der Tür des Bankettsaales vergebens um Ein- 
lass pocht. Man will den Bevorrechteten in jedem 
Berufszweig durch positive Rechtssatzung ein arbeits- 
loses Einkommen oder wenigstens einen hohen Arbeits- 
lohn zuwenden; aber man vergisst, dass die Zurück- 
gesetzten in die besitzlosen Volksklassen hinabsinken 
und deren dürftige Lebenshaltung noch mehr herab- 
drücken müssen. Und doch bilden auch die besitzlosen 
Volksklassen in unserer Zeit einen Stand, der in Be- 
ziehung auf die innere Organisation und auf die Gleich- 
heit der Lage und der Lebensziele den höheren Ge- 
sellschaftsschichten kaum nachsteht und der sich des- 
halb mit vollem Recht gegen die Aufnahme jener Ele- 
mente verwahren kann, welche diese zur Erhaltung 
ihres Glanzes oder ihrer Tüchtigkeit ausscheiden wollen. 

Schwerlich würde sich jedoch die deutsche Wis- 



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225 



senschaft der aristokratischen Sozialpolitik so allgemein 
angeschlossen haben, wenn sie nicht von der Ansicht 
anfinge, dass diese zur Erhaltung der Monarchie un- 
erlässlich ist. Aber auch diese .^isicht ist ein Irrtum 
oder vielmehr ein veraltetes VonirteiL Die Monarchie 
hat in unserer Zeit eher das Interesse, die aristükia- 
tische Sozialpolitik zu bekämpfen, als diese durch ihren 
Einrtuss zu fördern. 

Solang die inneren Kämpfe der europäischen 
Völker sich ausschliesslich um politische Ideale beweg- 
ten, lag es allerdings im Interesse der Monarchie, die 
Bildung und die Erhaltung von grossen arbeitslosen 
lünkommen zu begünstigen. Denn es war niemals 
schwer, die Inhaber dieser Einkommen, namentlich die 
grosse Grundaristokratie, für die Interessen der Mo- 
narchie zu gewinnen; damit war aber zugleich der 
ganze soziale Anhang, der damals mit jedem grossen 
arbeitslosen Einkommen verbunden war, in den In- 
teressenkreis der Dynastien gezogen. Deshalb erteilen 
alle konservativen Politiker, Edmund Burke an der 
Spitze, der Monarchie den Rat, die Grundaristokratie 
zu begünstigen, welche noch im 18. Jahrhundert die 
grossen arbeitslosen Einkommen fast ausschliesslich re- 
präsentiert hat 

Heute besteht dagegen für jeden, welcher durch 
den verhüllenden Schleier der diplomatischen und par- 
lamentarischen Nichtigkeiten zu schauen versteht, der 
wahre Inhalt der welt^feschiclitlichen Hewef^uni^ in einem 
Kampf zwischen den besitzenden und den besitzlosen 
Volksldassen , zwischen Arbeitslohn und arbeitslosem 
Einkommen. Schon jetzt kann man deshalb die grös- 
seren arbeitslosen Einkommen kaum mehr als eine 

Meng«r, Dm bSfierl. Recht. 4. Aufl. I5 



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226 



Stütze der Monarchie betrachten, und noch mehr wird 
sich die Richtigkeit dieser Bemerkung im weiteren Ver- 
lauf der sozialen Bewegung erweisen. So sehr aber 
jener Kampf zwischen den besitzenden und den besitz- 
losen Volksklassen die politischen Gegensätze der Ver- 
gan^^^enheit und der Gegenwart an Wichtigkeit äber- 
trifft, so ist doch bei dem Streit der ökonomischen 
und sozialen Parteien an und für sich kein Lebensin- 
teresse der Monarchie gefährdet. Hier sind deshalb 
für die letztere die Grundlagen einer vermittelnden 
Tätigkeit gegeben, von welcher wir die ersten Anfänge 
bereits wahrnehmen können. 

Vor allem Hegt es in dem wohlverstandenen In- 
teresse der Monarchie, die fortwährende Schärfung der 
sozialen Gegensätze zu verhindern, damit zur allmäh- 
lichen Umbildung der Rechtsordnung im Interesse der 
unteren Volksschichten die notwendige Zeit gewonnen 
wird. Mit der fortschreitenden Durchführung des aristo- 
kratischen Programms müssen sich aber ausserhalb der 
bevorrechteten Kreise in immer grösserem Massstab 
unzufriedene Proletariermassen ansammeln. Denkt man 
Sich die aristokratische Sozialj^tolitik vollständig durch- 
geführt, so wäre der grossen Masse der Nation nicht 
nur der Besitz, sondern auch von Gesetzes wegen jede 
Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lage entzc^en. 
Die Hoffnungslosigkeit der Volksmassen ist aber er- 
fahrungsgemäss der Zustand, aus dem grosse Umwäl- 
zungen am sichersten hervorgehen. Mit gutem Grunde 
hat der grosse Florentiner auf das Tor seiner Hölle 
nicht den Schmerz und das Leid, sondern die Hoff- 
nungslosigkeit als das grösste Uebel, als die furcht- 
barste aller Drohungen geschrieben. Man hüte sich 




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227 



deshalb, zu der Besitzlosigkeit der Massen noch die 
Hoffnungslosigkeit hinzuzufügen 1 

Diese Gedanken würden sich weit über die bür- 
gerliche Gesetzgebung hinaus auch auf dem Gebiete 
des öffentlichen Rechts, namentlich in der Gewerbe- 
und Sozialp ulitik, als fruchtbar erweisen. Innerhalb 
des bürgerlichen Rechts müssten sie vorzüglich zu einer 
Einschränkung des Systems der zwangsweisen Erbver- 
einigung führen. Man brauchte zu diesem Zweck nur 
das fünfte Buch des Entwurfs als die für alle Gesell- 
schaftsklassen gültige Erbfolgeordnung zu erklären, 
während gegenwärtig das Erbrecht des Entwurfs durch 
die Ausnahmsbestimmungen des Einführungsgesetzes 
um den besten Teil seiner Wirksamkeit gebracht wird. 
Eine solche Massregel würde, ich gestehe es, einen 
sehr durchgreifenden Charakter haben; aber wer nicht 
die Interessen einzelner Stände, sondern jene der ge- 
samten sozialen Ordnung ins Auge fasst, wird dieselbe 
als richtig erkennen. 

Das Mindeste aber, was im Interesse einer ruhigen 
Entwicklung unserer sozialen Ordnung verlangt werden 
muss, würde darin bestehen, dass die Reichsgesetzge- 
bung der fortschreitenden Ausdehnung des Erbvereini- 
gungszwanges entgegentritt. Es müsste also wenigstens 
durch das bürgerliche Gesetzbuch oder durch das Ein- 
führungsgesetz bestimmt werden, dass in Zukunft neue 
Familienfideikommisse nicht errichtet^, neue Gesetze 
über das Anerbenrecht nicht erlassen werden dürfen^. 
Auch auf dem Gebiete des ijeltenden Fideikommiss- 
und Anerbenrechtes hätte die Reichsgesetzgebung den 



1 Vgl. Art. 59 EG. > Vgl Art. 64 EG. 

15* 



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228 



Gegensatz zwischen den begünstigten und den zurück- 
gesetzten Personen nach Möglichkeit zu mildern. Das 
Detail dieser Frage entzieht sich wegen seines vorherr- 
schend juristischen Charakters an dieser Stelle der Be- 
sprechung; nur dies mag bemerkt werden, dass von 
Reichs wegen eine Bestimmung zu treffen wäre, dass 
die Fideikommissanwärter von dem Fideikommissin- 
haher nach einer bestimmten Ordnung die anständige 
Versorgung, die Miterben von dem Anerben ihren 
vollen^ durch Vorausempfänge und willkürliche Schätz- 
ungen nicht geschmälerten Pflichtteil zu fordern be> 
rechtigt sind. 



Das bürgerliche Gesetzbuch hat das Fideikommiss- 

und Anerbenrecht nicht nur nicht aufgehoben oder ein- 
geschränkt, srmdcrn im Gegenteil selbst für jene Reichs- 
gebiete, welche bisher das Anerbenrecht nicht kennen, 
ein ähnliches Zwitterinstitut mit verhüllten aristokrati- 
schen Tendenzen neu geschaffen. Der Erblasser kann 
nämlich, wenn sich im Nachlasse ein Landgut befindet, 
die Anordnung treffen, dass einer der Erben dieses 
nach einer tief unter dem Verkehrswerte stehenden 
Schätzung (dem sog. Ertragswerte) übernehmen soll; 
diese niedrige Wertbestimmung ist dann sogar für die 
Bemessung des Pflichtteils massgebend, ja sie wird im 
Zweifel schon dann angenommen f!), wenn der Erb- 
lasser einfach angeordnet hat, dass einer der Erben 
zur Uebernahme des Landguts, berechtigt sein soll, mag 
er auch über den Uebernahmswert gar keine Bestim- 
mung getroffen haben (§ 2049, 2312 BGB.). Man sieht, 
wie leicht der Gesetzgebung die kühnsten Konstruk- 
tionen gelingen, wenn nur hinter ihren Schöpfungen 





229 



die xMachl einflussreicher Lebenskreise steht. Der Zweck 
dieser Ausnahmsbestimmungen ist, wie die Bei atungs- 
protokolle (VI, 332) zeigen, die Erhahung eines ge- 
sunden und kräftigen Bauernstandes. Die Gesundheit 
und Kraft der ungleich zahlreicheren besitzlosen Volks- 
Idassen, denen die enterbten Bauemkinder doch not- 
wendig zuströmen, wurde natürlich nicht in Betracht 
gezogen. 

Lvn. 

Es ist ein Lieblin^splan mancher Sozialisten, die 
Einführung einer neuen sozialen Ordnung durch die 
Beseitigung des Erbrechtes herbeizuführen. In der Tat 
ist es ein freundlicher Gedanke, den Uebergang zu 
neuen Formen des menschlichen Daseins dadurch zu 
mildern und zu erleichtem, dass man die zeitigen Eigen- 
tiüuci im Genüsse ihres Vcnuöiifens belässt und erst 
die nachfolgende Generation, welche schon in anderen 
Anschauungen aufgewachsen ist, in die neue Ordnung 
der Dinge eintreten lässt Wer aber die Rechtsord- 
nung als eine Summe von dauernd anerkannten Macht- 
verhältnissen ansieht, wird nicht verkennen, dass das 
Erbrecht nichts ist als eine Ausdehnung des Privat- 
eigentums über die engen Grenzen des menschlichen 
Lebens, und dass deshalb das Schicksal dieser beiden 
uiidiegenden Einrichtungen nicht getrennt werden 
kann. 

Wohl aber ist es möglich, bei Aufrechterhaltung 
der Testierfreiheit die Grenzen der gesetzlichen 
Er b f o 1 g e etwas e n g e r zu ziehen. Zahlreiche Schrift- 
steller, welche sonst vollständig auf dem Boden der 

geltenden Rechtsordnung stehen, haben sich tui eine 
solche Emschränkung der gesetzhchen Erbfolge ausge- 



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230 



sprochen. Nur der deutsche Entwurf hat auch in dieser 
RichtiinfT die Anschauungen der obersten Zehntausend 
aufgenommen, bei welchen infolge ihrer hervorragen- 
den Stellung selbst die Erinnerung an die entferntesten 
Familienbeziehungen festgehalten werden kann. Nach 
dem Entwurf haben nämlich in Ermangelung einer 
letztwilligen Verfügung in erster Reihe die Kinder des 
Erblassers (erste Linie) zu erben ; dann seine Eltern 
und deren Nachkommen (zweite Linie); in dritter Reihe 
die Grosseltem und ihre Nachkommen (dritte Linie) ; 
dann die vierte, fünfte, sechste Linie und so weiter, 
ohne dass in Beziehung auf die erbberechtigten Linien 
irgend eine gesetzliche Grenze bestimmt wird (§ 1965 
bis 1969 des Entwurfs) ^ Es wäre kaum eine Ueber- 
spannui^ der juristischen Konsequenz, wenn ein gläu- 
biger Christ, die Bibel in der Hand, auf Grund seiner 
Abstammung vom gemeinsamen Vater der Menschheit 
die Auslieferung einer crblosen Verlassenschaft be- 
gehren würde. 

Die Gesetzbücher, welche die gesetzliche Erbfolge 
bis in sehr entfernte Verwandtschaftsgrade (z. B. bis 
in die sechste Linie) oder gar, wie der deutsche Ent- 
wurf, ohne jede Begrenzung eintreten lassen, beruhen 
auf den sozialen Zuständen früherer Zeiten, wo die 
Familien in Stadt und Land durch Jahrhunderte in 
enger Verbindung zusammensassen. Diese Verhältnisse 
sind gegenwärtig höchstens noch bei der Aristokratie 
und dem h()liercn Rür^^fertum bis zu einem gewissen 
Grade vorhanden. Bei den mittleren und unteren 
Ständen finden dagegen in unserer Zeit infolge der 



' § 1924—1929 BGB. 





231 



vei besserten Transportmittel, des An\wichsens der 
Städte, des Militär- und Beamtenwesens und aus an- 
deren Gründen ungeheure Wanderungen im Innern der 
einzelnen Länder statt, welche nach kurzer Zeit das 
Bewusstsein der Familienzusammengehörigkeit aufheben. 
Stellt man sich bei der Gestaltung der gesetzlichen 
Erbfolge auf den Standpunkt dieser weiten Lebenskreise, 
so wird man höchstens noch der dritten Linie (den 
Grosseltem des Erblassers, seinen Onkeln und Tanten 
und deren Nachkommen) ein gesetzliches Erbrecht ein- 
räumen können. 

Freilich gehen die Motive (V, 366) von der An- 
sicht aus, dass es bei der Vervvandtenerblolge nicht 
auf das Bewusstsein der Familienzusammengehörigkeit, 
sondern auf die unmittelbare oder mittelbare Blutsver- 
bindung ankommt. Allein wenn man die gesetzliche 
Erbfolge als ein Testament betrachtet, welches der Ge- 
setzgeber mit Rücksicht auf den wahrscheinlichen Wil- 
len des Krbhissers für den Fall festgesetzt hat, dass 
dieser keine letztwillige Verfügung hinterlässt, so kann 
doch der Mangel jenes Bewusstseins nicht ohne Be- 
deutung sein ! Aber auch wenn man die gesetzliche 
Erbfolge als die regelmässige Form der Beerbung an- 
sieht, so lässt sich nicht verkennen, dass die körper- 
liche und geistige Aehnlichkeit der Blutsverwandten 
in den mittleren und unteren Bevölkerungsschichten 
wegen der grösseren Differenzierung der Lage und der 
Lebensberufc in den entfernteren Verwandtschaftsgra- 
den viel rascher abnimmt, als in den aristokratischen 
Schichten der Gesellschaft, welche ihren Faniilientypus 
oft durch Jahrhunderte festhalten. Wenn also die Mo- 
tive auf die Blutsverbindung als auf die Grundlage der 



232 

Verwandtenerbfolge verweisen, so verfolgen sie kaum 
einen anderen Zweck, als ihre rein aristokratische Auf- 
fassung des gesetzlichen Erbrechts der Verwandten zu 

verhüllen. Der Entwurf hat auch gar kein Bedenken 
getragen, den unehelichen Kindern jedes Erbrecht ge- 
gen ihren Erzeuger und dessen FamiHe zu versagen 
(Mot. V, 359) und hat damit deutlich zu erkennen ge- 
geben, dass selbst die unmittelbarste Blutsverbindung 
zur Begründung des Erbrechts nicht genügt, wenn dieses 
Angehörigen der unteren Volksklassen zustehen würde. 

Denkt man sich die gesetzliche Erbfolge auf die zweite 
oder höchstens auf die dritte Linie beschränkt, so würden 
sich natürlich die erblosen Ver lassenschaften 
erheblich vermehren. Diese sollen nach dem Entwurf 
{§ 1974 ) ^ dem iMskus desjenigen deutschen Bundesstaates 
zufallen, welchem der Erblasser zur Zeit seines Todes 
angehört hat. Die Motive (V, 378 ff.) haben nicht den 
Versuch gemacht, dieses in manchen Richtungen eigen- 
tümlich ausgebildete Erbrecht näher zu begründen; es 
genügt den Verfassern, dass dasselbe überall in Wirk- 
samkeit steht. Schwerlich wird man auch für jenes 
Recht des Staatsschatzes genügende Gründe anfahren 
können. Bei den erblosen Verlassenschaften wird es 
noch häufiger als bei den herrenlosen Sachen vorkom- 
men, dass das Nachlassvermögen aus dem arbeitslosen 
Einkommen des Erblassers oder seiner Vorfahren an- 
gehäuft worden ist, ja hier kann man diesen Fall als 
die überwiegende Regel betrachten. Es entspricht nur 
der Gerechtigkeit, dass die Verlassenschaft, wenn sie 
durch den Tod des Erblassers und durch den Mangel 



* § 1936 BGB. 



L^oogle 



233 



eines berechtigten Erben aus der Eigentumsordnung 
hinausgefallen ist, wieder den arbeitenden Klassen zu- 
fällt, aus deren Arbeitsertrag das Nachlassvermögen 
angesammelt worden ist. In welcher Weise dieser Ge- 
danke praktisch verwirklicht werden kann, ist schon in 
einem früheren Abschnitt dieser Blätter (XXXIV) dar- 
gelegt worden. 

Das bürgerliche Gesetzbuch (§ 1929) hat, seiner 
aristokratischen Tendenz entsprechend, den Grundsatz 
der unbeschränkten Verwandtenerbfolge festgehalten. 
Dagegen hat der schweizerische Vorentwurf (Art. 487) 
von seinem demokratischen Standpunkt aus die Ver- 
wandtenerbfolge im wesentlichen mit der dritte n Linie 
(den Grosseltem und ihren Nachkommen) abgeschlossen 
und den Urgrosseltern, den Grossoheimen und den 
Grosstanten nur ein beschränktes Nutzungsrecht auf 
Lebenszeit einjreräumt. Auch bleibt den Kantonen 
vorbehalten (AiL 491), auf dem Wege der Erbschafts- 
steuer oder des Erbrechts dem (Gemeinwesen noch wei- 
tere Ansprüche auf die Erbschaft zuzuweisen. Wenn 
die Kantone diesen allgemeinen \ot]) ehalt energisch 
ausnützen, so können sie manche indirekte Steuern, 
die vorzugsweise auf den unteren Volksklassen lasten, 
aufheben oder herabsetzen. 

LVIU. 

Sowie die Erbfolgeordnung des deutschen Ent- 
wurfs, namentlich infolge der Ausnahmsbestimmungen 
des Einführungsgesetzes, einen vorherrschend aristo- 
kratischen Charakter hat, so sind auch die mehr for- 
mellen Bestimmungen des Eibrechts durchgreifend auf 
die Bedürfnisse der hervorragendsten Lebenskreise zu- 



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234 



geschnitten. Ich will hier nur die Testamentsformen 
und die Nachiassiegulierung des deutschen Entwurfes 
ins Auge fassen. 

Was zunächst die Förmlichkeiten der letzt- 
willigen Verfügungen betrifft, so müssen diese 
nach dem Entwurf (§ 1914)^ regelmässig in gericht- 
licher oder notarieller Form errichtet werden. Das 
mündliche und das schriftliche Privattestament sollen 
in Zukunft in ganz Deutschland ausgeschlossen sein ; 
insbesondere werden auch schriftliche Testamente, welche 
von dem Erblasser geschrieben und unterschrieben sind 
(sog. holographe Testamente) der Gültigkeit entbehren, 
obgleich dieselben in Oesterreich und Frankreich ohne 
jeden erkennbaren Nachteil zugelassen werden (Mot V, 
257). Auf die gerichtliche oder notarielle Testaments- 
torm verzichtet das Gesetz selbst dann nicht, wenn der 
Eigentümer eines Bauerngutes zur Errichtung eines 
Testaments von Gesetzes wegen genötigt ist, um den 
Eintritt der aristokratischen Erbfolge nach Anerbenrecht 
auszuschliessen (Mot. zum Einführungsgesetz S. 216, 217). 

Nun wird aber jedes Rechtsgeschäft, für welches 
der Gesetzgeber ohne Not verwickelte und kostspielige 
Förmlichkeiten festsetzt, dadurch künstlich zu einem 
Privilegium der Reichen und Gebildeten gemacht. Erei- 
lich wird der Inhalt der Testamente, wie die Motive 
(V, 257) richtig hervorheben, durch die gerichtliche 
und notarielle Form besser sichergestellt; aber dieser 
Vorteil wird nur den höheren Gesellschaftsschichten 
zugute kommen, während den unteren und den mitt- 
leren Klassen durch die Häufung der Testamentsförm- 



» Vgl. § 2231 BGB. 



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235 



lichkeiten die Testamentsfreiheit tatsächlich wieder zum 
grossen Teile entzogen wird. Vollends die ländliche 
Bevölkerung wird bei ihrer geistigen Schwerfälligkeit 

nur in seltenen Fällen gerichtliche oder notarielle Te- 
stamente errichten, und so wird in jenen Ländern, wo 
gesetzlich das Anerbenrecht besteht, die anstf )kt alische 
Erbfolge in die Bauerngüter die weit überwiegende 
Regel bilden. Erwägt man nun die sozialen Konse- 
quenzen dieses Zustandes (vgl. oben LVl), so kann 
man mit gutem Grunde behaupten, dass durch die 
Vorschriften des Entwurfs über die gerichtliche Testa- 
mentsform in Verbindung mit den Ausnahmsbestim- 
mungen des Einführungsgesetzes über das Anerben- 
recht die Lebenshaltung der besitzlosen Volksklasscn 
weit tiefer lieeinflusst wird, als durch manche wirtschaft- 
liche Einrichtungen und Erscheinungen, welche diese 
für ihre gedrückte Lage in erster Reihe verantwortlich 
machen. Und doch könnte man auf den ersten Blick 
annehmen, dass jene gesetzlichen Bestimmungen über 
die Testamentsform einen rein juristischen Charakter 
haben und zu den Interessen der besitzlosen Volks- 
klassen in gar keiner Beziehung stehen. 

Ebenso einseitig wie in Ansehung der Testaments- 
förmlichkeiten ist der deutsche Entwurf in Beziehung 
auf die Nachlassregulicrung, d. h. die Ueber- 
tragung des Nachlasses auf den hiezu gesetzlich be- 
rechtigten Erben. Ich habe schon in einem früheren 
Abschnitt dieser Blätter (XII) darauf hingewiesen, dass 
der Staat in den Zivilrechtsstreiten, wenn er auf diesem 
Gebiete die Gleichheit zwischen Reich und Arm eini- 
germassen herstellen will, eine umfassende Tätigkeit 
von Amts wegen entwickeln muss. Noch zweifelloser 



236 



ist dies in Ansehung des sogenannten ausserstrcitigen 
Verfahrens, auf welchem Gebiet überall schon jetzt in 
sehr weitem Umfang eine amtliche Tätigkeit des Staa- 
tes stattfindet. Der wichtigste Gegenstand des ausser- 
strcitigen Verfahrens ist aber das successive Privat- 
recht, welches die zeitliche Aufeinanderfolge der Men- 
schen und den Uebergang ihres Vermögens ordnet und 
das folglich das Familien- und das Erbrecht umfasst 
(vgl. oben XIII). Wir sehen auch, dass der moderne 
Staat in Ansehung des I'\imilienrcchts eine weitgehende 
amtliche Tätigkeit entwickelt, indem er den Familien- 
stand der einzelnen Staatsbürger durch die Personal- 
standsregister von Amts wegen feststellt und die Rechts- 
verhältnisse des Familienrechts im Falle des Streites 
bis zu einem gewissen Grade von Amts wegen ver- 
wirklicht. 

Dagegen soll der Staat nach dem deutschen Ent- 
wurf bei dem Uebergang des Vermögens von einer 
Generation auf die andere dieselbe untätige Haltung 
beobachten, welche er heute in fast allen Zivilrechts- 
streiten einnimmt. Eine gerichtliche Regulierung des 
Nachlasses soll daher regelmässig nicht eintreten; nur 
in einzelnen Ausnahmsfällen, z. B. wenn der Erbe un- 
bekannt, abwesend oder handlungsunfähig ist, hat das 
Nachlassgericht für die Sicherheit des Nachlasses von 
Amts wegen soweit zu sorgen, als das Bedürfnis erfor- 
dert (§ 2058 des Entw. und Mot. V, 541) ^ 

Freilich kann der Erblasser nach dem Entwurf 
einen Testamentsvollstrecker mit der Aufgabe betrauen, 
den Uebergang des Nachlasses an die berechtigten 



1 § i960 BGB. 



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237 



Erben und auch die Auseinandersetzung unter diesen 

letzteren zu bewirken (§ 1889 des Entw.)*. Den Reichen 
werden auch immer Testamentsvollstrecker zu Gebote 
stehen, welche fähig^ und bereit sind, die Regulierung 
ihres Nachlasses zu übernehmen; desto sicherer wer- 
den aber in Ermangelung einer amtlichen Tätigkeit 
der Gerichte die Verlassenschaften der Armen ver 
wahrlost werden. Selbst wenn die Landesgesetzgebungen, 
was nach dem Einführungsgesetze (Art. 90) ^ zulässig 
ist, bestimmen sollten, dass die Notare zur Annahme 
des Amtes eines Testamentsvollstreckers verpflichtet 
sind, so werden sich in Ansehung- des Nachlasses der 
Armen alle jene Nachteile ergeben, welche ich oben 
(XI) für die streitige Zivilrechtspiiege auseinanderge- 
setzt habe. 

Will man also die Gleichheit zwischen Reich und 
Arm nicht allzusehr verletzen, so muss man nach dem 
Vorbild der österreichischen Gesetzgebung, mit welcher 
auch das Recht einzelner deutschen Bundesstaaten bis 

zu einem gewissen (jiadc übereinstimmt, die Verfügung 
treffen, dass das Gericht jeden Nachlass von Amts 
wegen zu regulieren, d. h. für dessen Uebergang an 
die walirscheinUchen Erben y.n sorgen hat. (Vgl. auch 
Einf.-Ges. Art. 88, 89 und Mot. S. 230 f.) Es würde 
übrigens keinem Bedenken unterliegen, auch das In- 
teresse der wohlhabenden Stände, welche meistens 
durch Ernennung von geschäftsgewandten Testaments- 
vollstreckern für eine rasche und sachgemässe Regu- 
lierung ihrer Verlassenschaften sehr wohl zu sorgen 
wissen, durch die Bestimmung wahrzunehmen, dass das 



^ § 3197 BGB. 



> Gestrichen. 



> Gestrichen. 



23« 



amtliche Eingreifen des Gerichtes in die Nachlassver- 

liaiidlunL^ nur dann stattzithnden hat, wenn nicht der 
Erblasbcr selbst einen Testamentsvollstrecker ernannt 
hat (§ 2058, Abs. 2 des Entw.)^ 

Das deutsche büi^erUche Gesetzbuch (§2231, 2248) 
hat im Gegensatz 2U dem Entwurf das eigenhändig ge- 
schriebene und unterschriebene Testament für zulassig 
erklärt, ebenso der schweizerische Vorentwurf (Art. 524). 
Dagegen findet nach beiden Gesetzeswerken eine all- 
gemeine Xachlassregulierung von Amts wegen nicht 
statt, vielmehr haben die Xachlassbehörden nur in Aus- 
nahmsiällen für die Sicherheit des Nachlasses Sorge 
zu tragen (§ i960 BGB. i Art. 568 — 576 Schw. Vorentw.). 

UX. 

Gar mancher Leser wird meinen bisherigen Aus- 
führui^en mit einer dringenden Frage auf den Lippen 
gefolgt sein. Es mag sein, werden viele sagen, dass 
der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das 
deutsche Reich die Besitzenden einseitig bei^ünstigt und 
die besitzlosen Volksklassen selbst dort zurücksetzt, 
wo eine solche Zurücksetzung durch die Grundgedan- 
ken unserer Privatrechtsordniing nicht geboten ist. Aber 
ist das jemals anders gewesen? Hat das römische und 
das deutsche Recht, auf welchen unser heutiges bür- 
gerliches Recht beruht, die ärmeren Volksschichten 
nicht noch schroffer und einseitiger behandelt? Welche 
Veränderungen in den Machtverhältnissen 
der beiden grossen Volkskreise sind eingetreten, um 
eine so ein;^reitendc Umbildung uralter Zustände zu 

* § 3203 BGB. 



239 



rechtfertigen, wie sie in diesen l^lättcrn *;efurdcrt wird? 

In der Tat lässt sich nicht verkennen, dass bei 
den Römern der Gegensatz zwischen Freien und vSkla- 
ven, welcher uni^efähr dem Verhältnis zwischen Be- 
sitzenden und Besitzlosen in der heutigen GeseUschafts- 
Ordnung entspricht, dieses letztere an Härte und Ein- 
seitigkeit noch übertroffen hat Aber die Römer hatten 
Einsicht und Folgerichtigkeit genug, um auch die not- 
wendigen Konsequenzen dieser Sachlage zu ziehen. Der 
grossen Masse der römischen Sklaven blieb jede i;c! ,ti-e 
Ausbildung verschlossen, sie nahmen an der Leitung 
des Staates niemals einen Anteil imtl wenn es galt, 
die Heimat zu verteidigen, so sind mit seltenen Aus- 
nahmen immer nur die Freien in das Feld gerückt. 
Die geistige, politische und militärische Ueberlegenheit 
der freien Römer war deshalb so gross und so zwei- 
fellos, dass sich die Sklaverei trotz mancher Aufstände 
bis zum Untergang der römischen Kultur behaupten 
konnte. Aehnliche Zustände haben während des gan- 
zen Mittelalters und während der neuen Zeit bis tief 
in das achtzehnte Jahrhundert furlgedaucrt. 

Seit dem achtzehnten Jahrhundert hat sich aber 
diese Lage völlig verändert. In Deutschland wurde 
die allgemeine Schulpflicht, in Frankreich wurde wäh- 
rend der grossen Revolution das allgemeine Stimmrecht 
und die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, und diese 
grundlegenden Einrichtungen haben sich seither, aller- 
dings mit manchen Abschwächungen und Rückschlä- 
gen, über die ganze zivilisierte Welt verbreitet. Durch 
diese drei demokratischen Institutionen sind die gesell- 
sclialtlichen Machtverhältnisse vollständig zu Gunsten 
der -besitzlosen Voiksklassen verschoben worden, wenn- 



240 



gleich infolge der Liini^s^nnlirit sozialer i^ntwicklungen 
noch entfernt nicht alle Konsequenzen der geänderten 
Sachlage hervorgetreten sind. Auch für unser veral- 
tetes Privatrecht, welches bisher inmitten einer Welt 
von Veränderungen seine starre Unbeweglichkeit be- 
hauptet hat, ist endlich die Zeit gekommen; es muss, 
wie alle anderen Einrichtungen, dem volkstümlichen 
Zuge unserer Zeit folgen. Ich habe es versucht, in 
dieser Schrift die Ziele anzudeuten, welche eine volks- 
tümliche Umbildung des bürgerlichen Rechts anstreben 
muss. 

Unsere Väter und Grossväter waren fast ausschliess- 
lich von politischen Idealen erfüllt; damals war die 
Verkündigung einer Verfassung mit einer erklecklichen 
Anzahl von politischen Grundrechten ein Ereignis, wel- 
ches das Gedankenleben einer ganzen Generation in 
Anspruch nahm. Heute ist es vorherrschend der so- 
ziale Zustand der Volksmassen, welcher die Gemüter 
der Menschen bewegt; dieser ist aber zum grossen 
Teile von der Beschaffenheit der bürgerlichen Gesetz- 
gebung abhängig. Deshalb sollten die Staatsmänner 
in Deutschland und anderwärts die Ausbüdung des 
bürgerlichen Rechts nicht, wie bisher, als eine Aufgabe 
betrachten, welche naturgemäss den 1 achjuristen zu- 
fällt und lediglich von juristischen Gesichtspunkten zu 
lösen ist. Man möge auch nicht allzusehr auf den 
mildernden Einfluss der Sozialgesetzgebung vertrauen, 
deren wohltätige Wirkungen sich nach der Natur der 
Sache nur auf vergleichsweise enge Lebenskreise er- 
strecken können, während durch das bürgerliche Recht 
der soziale Zustand aller Staatsbürger bestimmt wird. 
Ein einseitiges bürgerliches Gesetzbuch, welches die 



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241 



Gerichte täglich und stündlich notigt, den besitzlosen 
Volksklassen Unrecht zu geben, muss diese allmählich 
auf das Tiefste verbittern. Deshalb habe ich auch, 
zahlreicher Bedenken nicht achtend, die Kritik des 

bürgerlichen Gesetzbuchs vom Standpunkt der besitz- 
losen Klassen unternommen. Mö^^e sich die deutsche 
Nation diese Darstellung zunutze machen 1 



Meng er, Dm burgerl. Recht. 4. Auä. I6 




Von Prof. Dr. Anton Menger sind noch folgende 
sozialpolitische Schriften erschienen: 

1. Das Beeht auf den vollen Arbeitsertrag. 3. Aufl. 

1904. 1. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger. Preis 
3 Mark. 

[Uebersetzt ins Englische von Foxwell-Tanner 
(1899); ins Französische von Andler-Bonnet (1899); 
ins Spanische von Posada (1901).] 

2. Gutachten über die Vorschläge zur Errichtung 
einer eidgenössischen Hochschule für Rechts- und Staats- 
wissenseliaft. 1889. Zürich, J. J. Schabelitz. 

3. Die sozialen Aufgaben der RechtswissenschafL 
(Antrittsrede bei Uebemahme des Rektorats der Uni- 
versität Wien) 2. Aufl. 1905. Wien, Braumüller. Preis 
I Marie. 

[Uebersetzt ins Französische von S c h w i e d 1 a n d 
(1896); ins Russische von Jurowski (Verlagsort Pe- 
tersburg) und Gredeskul( Verlagsort Charkow) (i 896) ; 
ins Spanische von Posada (1899).] 

4. Neue Staatslehre. 3. Aufl. 1906. Jena bei 
Gustav Fischer. Preis 2 Mark, geb. 2 Mark 60 Pfg. 

[Uebersetzt uis Französische von Milhaud (1904); 
ins Italienische von Oda Lerda Olberg (1904); ins 
Russische von B. Ristiakowsky (1905).] 

5. Nene Sittenlehre. 1905. Jena bei Gustav Fischer. 
[Uebersetzt ins Czechische (1906).] 

6. Yolkspolitik* 1906. Jena bei Gustav Fischer. 



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